Karl Schlögel über den Russland-Ukraine-Konflikt

"Die Destabilisierung ist längst im Gange"

08:45 Minuten
Ein ukrainischer Soldat geht am 10. Dezember 2021 durch einen Graben an der Frontlinie zu von Russland unterstützen Separatisten in Donezk.
Ein ukrainischer Soldat an der Frontlinie zu Russland: 350 Künstler haben bedenken, dass es bald zu einer russischen Invasion der Ukraine kommt. © AFP / Anatolii Stepanov
Moderation: Marietta Schwarz · 05.02.2022
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350 Künstlerinnen und Intellektuelle fordern in einem Appell entschiedenes Eintreten für die Unabhängigkeit der Ukraine. Zu ihnen gehört der Osteuropa-Experte Karl Schlögel, der davor warnt, nur auf die mögliche Invasion durch Russland zu starren.
„Es ist höchste Zeit, dass man sich zu Wort meldet“, sagt der Osteuropa-Historiker und Publizist Karl Schlögel. Er gehört gemeinsam mit Herta Müller und Swetlana Alexijewitsch zu 350 Unterzeichnern eines Appells an die politisch Verantwortlichen, „Putins Aggression entschieden entgegenzutreten“. Damit sind auch Waffenlieferungen von deutscher Seite an die Ukraine gemeint, wie Schlögel erklärt:

Es müsste ziemlich klar sein, dass man einem befreundeten und bedrohten europäischen Staat zu Hilfe eilt, auch militärisch. In welcher Form das geschieht, ist die Sache von militärischen Experten, aber es muss offen ausgesprochen werden, dass es legitim ist.

Die Ukraine auf die mentale Landkarte zurückbringen

Schreibende hätten aber in erster Linie dafür Sorge zu tragen, so Schlögel, „dass die Ukraine auf die mentale Landkarte der Deutschen zurückkehrt“. Es werde immer nur von der Schuld gegenüber Russland gesprochen, dabei gebe es auch eine große historische Schuld Deutschlands gegenüber der Ukraine.
Man müsse nun begreifen, so Schlögel, dass die Ukraine in Gefahr sei, nicht nur wegen des „unmittelbar bevorstehenden Angriffs“, sondern langfristig:
"Es geht um Destabilisierung. Das Starren auf die Invasion lenkt von dem ab, was längst im Gange ist. Im Augenblick werden Hunderttausende Pässe an die Bewohner in den besetzten Gebieten im Donbass ausgegeben, werden die Sozialleistungen, die Renten für diese neuen russischen Staatsbürger erhöht. Es sind eine ganze Menge Optionen von russischer Seite im Spiel und ich würde sagen, man muss auf alles gefasst sein. Dieses Gefasstsein, diese Wachheit ist jetzt das Wichtige, das man erreichen muss."

Wer im Inneren nicht zurechtkommt, führt Kriege

Herta Müller nennt die Politiker der Bundesregierung in einem aktuellen "Spiegel"-Interview feige. Das Argument für die Zurückhaltung vonseiten der Bundesregierung hingegen lautet, man wolle gesprächsfähig bleiben und nicht provozieren. Davon hält Schlögel wenig. „Cheforchestrator Putin“ habe „mit diesem Militäraufmarsch eine Erpressung in Gang gesetzt und alle Europäer, die NATO, die Amerikaner sind darauf eingegangen.“
Der Osteuropa-Experte vertritt die Meinung, Putin agiere so aggressiv, um sein Land innenpolitisch zusammenzuhalten, „weil er eigentlich in seinem Land nichts zu bieten hat". Russland sei in den letzten Jahrzehnten in die Rolle eines Ressourcenstaates zurückgefallen, der mit Öl und Gas Geld machen könne.
"Aber die Modernisierung, die Schaffung von Strukturen, die die Kräfte des Landes entfesseln und vor allem der jungen Generation eine Perspektive bieten – das hat Putin nicht geschafft. Wenn man im Inneren nicht zurechtkommt, dann zündelt man und macht Kriege."

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