„Deutschlands Verhalten ist heuchlerisch“
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An diplomatischen Solidaritätsbekundungen des Westens gegenüber der Ukraine herrscht kein Mangel. Doch Deutschland werde seiner historischen Verantwortung nicht gerecht, sagt der Germanist Jurko Prochasko.
US-Außenminister Antony Blinken hat am heutigen Mittwoch Kiew besucht und mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Außenminister Dmytro Kuleba über Wege aus der Krise beraten. Dabei sandte er erneut den Appell nach Russland, es werde weiter ein „friedlicher Weg der Diplomatie“ gesucht. Am gestrigen Dienstag war die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in der ukrainischen Hauptstadt Kiew gewesen.
Die klare Botschaft: Unterstützung für die Ukraine, Warnung und Appell an Russland. Besonders für die Menschen in der Ukraine bedeutet das: Krisendiplomatie auf der einen, Drohkulisse auf der anderen Seite.
Wie die Mehrheit der Bevölkerung in der Ukraine treibe ihn eine „sehr, sehr, sehr große Besorgnis“ um, sagt der ukrainische Schriftsteller, Germanist und Übersetzer Jurko Prochasko, der sich auch aktiv für die Einbindung der Ukraine in Europa einsetzt. „Das ist eine Unruhe die sich seit mehreren Monaten bei uns aufbaut.“
Prochasko unterstreicht die Bedeutung der diplomatischen Besuche im Land, sowohl für die Ukrainer, „die der ständigen Gefahr des Angriffs oder der Zuspitzung der militärischen Lage ausgesetzt sind“, als auch für Russland. Es werde "ein sehr deutliches, kräftiges Zeichen der Unterstützung, des Rückhalts der Ukraine gesetzt: der Tatsache dass die Ukraine vom Westen – was auch immer das sein mag – nicht alleine gelassen wird.“
Erinnerung an Besatzung der Ukraine
Er sei beruflich eine Art „Deutschenversteher“. Und als solcher und als Germanist verstehe er sehr wohl die historischen Hintergründe, warum sich die deutsche Politik seit Jahrzehnten weigert, Waffen in Kriegsregionen der Welt zu schicken – auch in die Ukraine.
Andererseits erlebe er Deutschlands Verhalten hier als „sehr widersprüchlich, um nicht zu sagen: heuchlerisch“. Wenn Deutschland seine historische Verantwortung in vollem Ausmaß wahrnehmen wolle, solle es auch daran denken: „Deutschland war im Zweiten Weltkrieg nur mit einem halben Fuß im heutigen Russland, dafür mit zwei starken großen Füßen und vier Jahre lang in der heutigen Ukraine.“ In dieser Zeit seien in der Ukraine „etwa acht Millionen Menschen vernichtet worden“.
Verheerende Folgen für die Bevölkerung
Zudem beziehe sich Deutschland auf die Ostpolitik der 70er-Jahre und baue gleichzeitig unverfroren weiterhin die Pipeline Nordstream2, die es als ein rein wirtschaftliches Projekt zu verkaufen versuche. „Das geht einfach nicht zusammen“, so Prochasko.
„Der russisch-ukrainische Krieg“ sei in sein achtes Jahr getreten. „Wir sind stark verändert“, sagt Jurko Prochasko über die Gesellschaft. Dieser Krieg, der im Westen beispielsweise als „Ukraine-Krise“ verharmlost werde, habe verheerende Folgen für die ukrainische Gesellschaft – zum einen wirtschaftliche Verluste, zum anderen aber sehr unmittelbare Verluste: der Verlust von Menschenleben. „Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Verluste an der ukrainischen Ostfront vermeldet werden.“
(abr)