Ukraine

Der Druck auf die Zivilgesellschaft wächst

05:27 Minuten
Proeuropäische Proteste in Kiew
Viele Aktivisten, die vor fünf Jahren auf dem Maidan demonstrierten, sehen sich heute in der Ukraine erneut in Gefahr. © dpa / picture-alliance / Andrey Stenin
Von Sabine Adler  · 21.02.2019
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Vor fünf Jahren floh der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch. Mit dem folgenden Machtwechsel waren große Hoffnungen verbunden. Doch in diesem Wahljahr stehen viele Bürgerrechtler erneut unter Druck.
Vor fünf Jahren ist der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch aus seinem Land geflohen. Er konnte den Protesten auf dem Maidan in der Hauptstadt Kiew nicht mehr standhalten. Viele Demonstranten von damals engagieren sich heute in Nichtregierungsorganisationen, denn sie wollen, dass sich ihr Land in Richtung Demokratie und Europäische Union bewegt. Doch längst nicht alle alten Kräfte sind dazu bereit, Macht abzugeben. Korrupte und Kriminelle schrecken auch vor Gewalt nicht zurück. Die Überfälle auf die Aktivisten häufen sich unübersehbar.
"Ich bin vier Mal überfallen worden", sagt Pawel Lissjanksi, "und jedes Mal sollte ich physisch vernichtet werden." Vier Anschläge in acht Jahren erlebte der Gründer der Ostukrainischen Menschenrechtsgruppe, der unter anderem für die Zahlung ausstehender Löhne an Bergarbeiter kämpfte.

Säureattentat im Sommer

Auch wer in der Ukraine gegen Korruption, für eine saubere Umwelt und für die Rechte von Minderheiten eintritt - als Aktivist oder Journalist - lebt gefährlich. Kateryna Gandsjuk hat ihr Engagement mit ihrem Leben bezahlt. Sie machte in Cherson in der Südukraine auf Polizeiwillkür und Korruption aufmerksam, erst als Bürgerrechtlerin, zuletzt als Beraterin des Bürgermeisters. Sie starb im November 2018 an den Folgen eines Säureattentats vom Sommer.
Man kenne die Drahtzieher, sagt die Ombudsfrau für Menschenrechte, Ludmila Denisowa. "Wir wissen im Fall von Kateryna Gandsjuk von der Staatsanwaltschaft, dass hinter der Organisation des Anschlags der Vorsitzende des Chersoner Oblast-Rates stand. Bei jedem Überfall, jeder Einschüchterung von Journalisten oder Aktivisten wenden wir uns an die Nationalpolizei und das Innenministerium und kontrollieren die Ermittlungen."

Mordanschlag in Odessa

Was die Ombudsfrau als Regel darstellt, ist jedoch die große Ausnahme. Bei dem Mordanschlag auf Oleg Michailik im September 2018 in Odessa tappt man im Dunkeln. Der Oppositionspolitiker gehört einer kleinen Partei an, Sila Ludej, hinter der kein superreicher Oligarch steht. Er hat den Schuss überlebt.
Aus Sorge, dass er bei der Entfernung der Kugel aus seiner Lunge stirbt, wurde er lieber nach München gebracht, berichtet Beate Apelt von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kiew, die mit Oleg Michailik zusammenarbeitet. "Er ist ja weiterhin bedroht, wollte unter sicheren Umständen operiert werden", sagt sie."Der Hauptaspekt war aber, dass die Kugel, die noch in seiner Brust steckte, dicht am Herzen, als Beweismittel gesichert werden sollte und das nur sichergestellt werden konnte, indem die deutsche Polizei im OP stand und nicht die ukrainische."
Bronze-Denkmal des Fürsten Michael Woronzow in der ukrainischen Hafenstadt Odessa.
Auch der Kampf gegen die Zerstörung des historischen Stadtzentrums von Odessa ist gefährlich. © imageBROKER
Michailik will weiter gegen die Zerstörung des historischen Stadtzentrums von Odessa und die Zubetonierung des Ufers kämpfen. Er erwägt sogar, bei der nächsten Wahl gegen seinen Hauptfeind, den Bürgermeister von Odessa, Gennadi Turkhanov, anzutreten, der hinter dem Anschlag vermutet wird.

100 Überfälle

Tetiana Pechontschik vom Kiewer Informationszentrum für Menschenrechte hat seit den Protesten auf dem Maidan rund 100 Überfälle dokumentiert, aber die Dunkelziffer sei viel höher. "Durch die Proteste auf dem Maidan wurden viele aktiv, schlossen sich Nichtregierungsorganisationen an", sagt sie. "Und einige Reformen bringen es mit sich, dass die Bürger mehr eingebunden werden." Als Beispiel nennt sie die Dezentralisierung. "Die Kommunen in den Regionen erhalten mehr Selbständigkeit, Verantwortung und auch ein eigenes Budget, über das sie verfügen. Und dadurch sind mehr Menschen involviert." Was die Menschenrechtlerin begrüßt, trotz aller Gefahren.

Die Lage auf der Krim

Die Organisation ist auch auf der Krim aktiv. Doch dass dort keine Überfälle stattfinden, sei gerade kein Ausweis gefestigter Demokratie. "Wir sind seit fünf Jahren auch auf der Krim aktiv", sagt sie. "In dieser Zeit ist dort kein einziger Überfall auf Aktivisten geschehen, weil dort die gesamte Zivilgesellschaft mundtot gemacht worden ist." Die Menschenrechtsaktivisten und kritischen Journalisten hätten die Krim verlassen. "Und wer nicht öffentlich die Regierung oder die Behörden kritisiert, sondern sie lobt und preist, den muss man auch nicht durch Überfälle zum Schweigen bringen."

Verteilungskämpfe der Eliten

Seit dem Abgang von Präsident Janukowitsch vor fünf Jahren werden auf allen Ebenen, von der Staatsspitze bis in die Dörfer, heftige Machtkämpfe ausgetragen, deren Ausgang ungewiss ist und die immer mehr Opfer fordern. "Es ist kein Muster zu erkennen, das direkt zu einer zentralen Stellen führen würde", sagt Daniel Seibling, Vertreter der Hans-Seidel-Stiftung in Kiew. "Es gibt hier keine Organisation, die hier die Fäden spannt und hier die Aufträge geben würde."
Es scheine sich spontan in bestimmten Gemeinden so zu entwickeln, dass sich die Verteilungskämpfe der lokalen Eliten zuspitzten. Sie fühlten sich offenbar durch die zivilgesellschaftliche Kontrolle bedroht und sähen ihre Einflusssphären und Geschäftsmodelle offengelegt. Darauf reragierten sie in einer "ausgesprochen undemokratischen Weise", bis hin zum Mord, zu Giftanschlägen oder Säureanschlägen. Die Ukraine durchläuft eine Übergangsphase, das Ziel der Aktivisten ist der demokratische Rechtsstaat, der sie einmal besser schützen soll.
(gem)
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