Bilder von Kriegsverbrechen

Was Butscha von Vietnam unterscheidet

06:25 Minuten
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In Butscha schließt ein Mann zwei Leichensäcke. © picture alliance / dpa / CTK / Maca Vojtech Darvik
Von Arno Orzessek · 06.04.2022
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Die Bilder aus Butscha haben Entsetzen ausgelöst. Doch auch schon in früheren, teils von der USA geführten, Kriegen gab es Gräueltaten und Bilder davon. Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen Butscha und Vietnam, kommentiert Arno Orzessek.
Wer am vergangenen Sonntag dauerhaft Radio, Fernsehen und Internet verfolgt hat, hat die viel zitierte Macht der Bilder in ihrer Entfaltung erlebt.

Der hat erlebt, wie die Bilder aus Butscha binnen Stunden buchstäblich die Macht im Diskurs über den Krieg ergriffen haben, wie sie abendliche Talkshow-Gäste zu Maximalforderungen motivierten, die mittags noch nicht zu hören waren, politische Entscheidungsträger unmittelbar unter Druck setzten und jegliche Debatte dramatisierten.

Bilder aus Butscha geben "finstere Gewissheit"

"Butscha" avancierte in kürzester Zeit zu einer neuen Chiffre der Unmenschlichkeit. Dabei zeigen die Bilder von den mutmaßlichen, tatsächlich wohl kaum noch bestreitbaren Kriegsverbrechen nichts gänzlich Unabsehbares. Schon die russische Kriegsführung in Tschetschenien, in Syrien und im Donbass zielte teils direkt auf die Zivilbevölkerung.

Man musste, traurig aber wahr, mit "Butscha" rechnen. Doch erst die Bilder haben düstere Ahnungen in finstere Gewissheit verwandelt. Sie haben eine Realität auf uns übertragen, die sich nicht rasch verdrängen lässt, wie vage Vorstellungen.

Bilder haben den Verlauf und die Wahrnehmung von Kriegen massiv beeinflusst, seit im Krimkrieg ab 1853 die ersten Kriegsfotografien überhaupt Publikum und Politik erreichten.

US-Kriegsverbrechen im Irak

Dabei sind Bilder von Kriegsverbrechen eine eigene Kategorie, denn sie zeigen mehr als die generelle Grausamkeit des Krieges. Die tödliche Gewalt gegen Unbeteiligte und Wehrlose fixiert den moralischen Bankrott der Täter und erregt eine besonders tief sitzende Abscheu. Abscheu im Namen der Gerechtigkeit.

Der Angriffskrieg der USA gegen den Irak 2003, der Hunderttausende das Leben kostete, hat den Westen und seine gern stilisierten Werte ohnehin diskreditiert. Doch die Bilder von den Folterungen, von Elektroschocks und erzwungenem Oralsex im Gefängnis Abu Ghraib durch feixende US-Soldaten haben die anti-amerikanischen Emotionen weltweit auf die Spitze getrieben.
CVN PROTESTS
Demonstriende erinnern mit schwarzen Kapuzen an die Misshandlungen von Kriegsgefangen im Gefängnis von Abu Ghraib durch die US-Armee. © picture alliance / AP Photo
Die Fotos aus Abu Ghraib sind fast so berühmt wie die Fotos des brennenden World Trade Centers und gingen als Ikonen westlicher Scheinheiligkeit in die Geschichte ein.

Bilder aus Vietnam befördern Proteste

Das vermutlich berühmteste Kriegsfoto des 20. Jahrhunderts zeigt die neunjährige Südvietnamesin Phan Thi Kim Phuc, die sich nach einem Napalm-Angriff die brennenden Kleider vom Leib gerissen hat und nackt, schreiend, völlig entgeistert auf den Fotografen Nick Ut zuläuft.

Besagter Angriff wurde 1972 von der südvietnamesischen Luftwaffe geflogen. Das Mädchen war gewissermaßen ein Opfer ihrer eigenen Leute. Dennoch hat kein anderes Bild die Proteste gegen den Vietnam-Krieg in den USA so stark befördert wie dieses.

Nicht zuletzt, weil es als Stellvertreter für die Kriegsverbrechen von US-Truppen in Vietnam wahrgenommen wurde. Mehr als 200 sind belegt, darunter das Massaker von My Lai mit 500 ermordeten Zivilisten.

Kriegsverbrechen als "grausiger Refrain" aller Kriege?

Vor wenigen Jahren haben Ken Burns und Lynn Novick die 18-stündige Filmdokumentation "Vietnam Krieg" veröffentlicht: Ein ungeheures Panorama der militärischen, politischen und gesellschaftlichen Ereignisse inklusive vieler US-amerikanischer Gräueltaten – gleichsam frisch zubereitet und auf bestürzende Weise aktuell.

Denn nun, nach "Butscha", steht die Frage im Raum: Handelt es sich um die ewige Wiederkehr des Gleichen? Gestern die Amis, heute die Russen, zwischendurch der Islamische Staat, morgen, wer weiß, China? Sind Kriegsverbrechen der grausige Refrain aller Kriege?

Ja, sie sind es. Andererseits zeigt der Vergleich Unterschiede, die nicht die Verbrechen als solche, sondern ihre Wirkung betreffen, zumal die Wirkung ihrer bildlichen Dokumentation.

Selbstkorrektur durch Kriegsbilder macht den Unterschied

Putins Propagandisten behaupten einfach, die Bilder aus Butscha seien "fake". Und nichts spricht dafür, dass sich an dieser Strategie etwas ändert, solange Putin, der Geschichtsfälscher, der selbst den Massenmörder Stalin reinwaschen lässt, an der Macht ist.

Von namhaftem Aufruhr der russischen Bevölkerung ist indessen nichts zu sehen. Wer wagt ihn noch angesichts drakonischer Strafandrohungen? Als damals die ersten Bilder aus Vietnam die USA erreichten, hat es auch lange gedauert, bis der Protest die Oberhand gewann. Aber die Bilder konnten sich verbreiten, der Protest war nicht lebensgefährlich. Am Ende erfolgte die Kurs-Änderung: der Rückzug der Truppen.
TV RATHER
Ein Kriegsreporter des Senders CBS interviewt einen unbekannten Soldaten im Vietnam-Krieg im Jahr 1966. © picture alliance / AP Photo
Schon zu Beginn des Krieges hatte ein CBS-Reporter eine US-Patrouille bei der gewaltsamen Durchsuchung eines Dorfes gefilmt. Hütten brennen, Frauen weinen, Kinder laufen schreiend davon und der Reporter fragt: Und wir wollen den Vietnamesen zeigen, dass wir die Guten sind?

Nach der Ausstrahlung rief US-Präsident Lyndon B. Johnson, ein Kriegsbefürworter, den Chef von CBS an und fragte: "Are you trying to fuck me?" Freundlich übersetzt heißt das: "Willst du mich foppen?"

Genau das macht den Unterschied aus. Bei allem Versagen, allen Untaten gab es in der liberalen Demokratie Instrumente und Verfahren der Selbstkorrektur, nicht zuletzt die Medien und die Öffentlichkeit als solche.

Keine korrekten russischen Primetime-Berichte aus Butscha

In Russland darf man nicht "Krieg" sagen. In Russland gibt es kein Programm, das zur Primetime korrekt aus Butscha berichten würde.

Es gibt viele Journalisten und Journalistinnen, die Putin hinter Gitter bringen kann. Aber es gibt längst keinen Senderchef mehr, den er erbost anrufen müsste, um ihn auf Russisch zu fragen: "Are you trying to fuck me?" Und deshalb haben Putins Kriegsverbrecher einen Freifahrtschein zum Töten.
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