Kiew lädt Steinmeier aus

Selbstinszenierung trifft auf "Schuld-Stolz"

09:03 Minuten
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einer Rede im Fernsehen.
Der ukrainische Präsident Selenskyj kämpft mit allen Mitteln für sein Land. Das handelt ihm den Vorwurf fehlender Diplomatie ein. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Harald Welzer im Gespräch mit Jana Münkel · 13.04.2022
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Bundespräsident Steinmeier ist in der Ukraine unerwünscht, einen geplanten Besuch sagte Kiew ab. Für den Soziologen Harald Welzer ist das ein Affront. Präsident Selenskyj habe sich damit verhoben.
Etliche Spitzenpolitiker sind bereits in die Ukraine gereist - und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wollte das tun. Aus Kiew hieß es allerdings, das deutsche Staatsoberhaupt sei nicht erwünscht.
Ein Berater von Präsident Selenskyj hat das inzwischen allerdings dementiert und damit Verwirrung gestiftet. Die Ukraine hatte Steinmeier immer wieder seine Russlandpolitik und eine zu zaghafte Abgrenzung von Moskau vorgeworfen.
Aus Sicht des Soziologen Harald Welzer ist die Ausladung des deutschen Bundespräsidenten eine Grenzüberschreitung.
Jeder könne die Situation des Landes nachvollziehen, sagt er. Aber: "Herr Steinmeier ist als Bundespräsident nicht einfach nur die Privatperson Herr Steinmeier, sondern ein Verfassungsorgan. Jemanden auszuladen, der die Funktion als höchster Repräsentant des Staates innehat, ist ein Affront." Da habe sich Selenskyj verhoben.

Eine falsche Entschuldigung

Es sei falsch gewesen, dass der Bundespräsident sich nach dem "ebenfalls etwas unverschämten Interview" des ukrainischen Botschafters Melnyk und dessen Vorwürfen entschuldigt habe, meint Welzer:
"Mir geht dieser Schuld-Stolz, dass alle permanent mitteilen müssen, dass sie sich in Putin getäuscht haben und die letzten 20 Jahre alles falsch gemacht haben, etwas auf die Nerven."
Wenn sich jemand wie Putin gegen jede Zivilisiertheit verhalte, sei ja "nicht alles vollständig entwertet, was man über mehrere Jahrzehnte als dialogorientierte Politik- mit Hoffnung versehen - betrieben hat".

Zu viel Selbstinszenierung

Aus Welzer Sicht ist der Anspruch des ukrainischen Präsidenten grundsätzlich überhöht. Selenskyj sei zuletzt immer weiter gegangen "im Noten verteilen gegenüber Staatschefs und ganzen Nationen - immer gekoppelt mit der Steigerung der Forderung". In der gegenwärtigen Lage gehe es in Deutschland um wesentliche Entscheidungsprozesse: "Und die können nicht vorgegeben werden von einer Regierung, die sich in einer Notsituation befindet."
Emotional könne man das Auftreten des Landes nachvollziehen, so der Soziologe. Diese Emotionen dürften aber nicht die Grundlage für weitreichende Entscheidungen sein. Bei einer Selbstinszenierung, wie sie Selenskyj betreibe, müsse man auch einmal sagen können: "Bitte, geht es auch etwas kleiner?"
(ckü)
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