Ukraine

Angst und Hoffnung vor der Wahl

Fußgängerzone von Odessa
Straßencafés und Flaneure - so haben Odessa viele kennengelernt, bevor der Konflikt ausbrach. © Joachim Baumann
Von Joachim Baumann · 24.05.2014
Anfang Mai starben 48 Menschen bei einem Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa. Seither leben die Einwohner in Angst. Joachim Baumann, Redakteur vom Deutschlandradio Kultur, geht mit alten Freunden durch seine zweite Heimat.
Man spricht russisch in Odessa. Das war schon so, als ich hier vor fast 40 Jahren studiert habe und es ist heute noch so. Fast. Denn nach dem Zerfall der Sowjetunion führte die neue Regierung Ukrainisch als Amtssprache ein – das brachte Konflikte mit sich, aber die gehörten zum Alltag. Mein Kollege und Freund aus alten Zeiten, Jevgeni Golubowski, ist fassungslos darüber, was die Krise in der Ukraine aus Odessa gemacht hat.
"Obwohl die Bevölkerung multinational war und noch immer ist, verstand man sich untereinander und deshalb ist es so unvorstellbar, dass gerade in Odessa Zusammenstöße auf nationaler Ebene vorkommen."
Kerzen und Blumen vor dem ausgebrannten Gewerkschaftshaus in Odessa
Das Gewerkschaftshaus, in dem 48 Menschen umgebracht wurden.© picture-alliance / dpa / Anton Kruglov
Aber am 2.Mai 2014 ist es geschehen. 48 Bürger Odessas wurden erschossen, sie sind verbrannt, haben sich zu Tode gestürzt. Ukrainer haben andere Ukrainer ermordet. Die meisten starben durch ein schnell wirkendes Gas. Wer hat so ein Gas? Es gibt bis heute keine Antwort auf diese Frage, nur viele, zu viele Gerüchte.
Verwelkte Blumen und die Namen von Ermordeten
Wir steigen in die Straßenbahn und fahren an den Ort des Grauens. Mir ist mulmig. Vor dem Gewerkschaftshaus bekomme ich eine Gänsehaut: Ein zu großen Teilen abgebranntes, mehrstöckiges Gebäude, eingeschlagene Fenster, Einschusslöcher. Der Geruch von kaltem Rauch dringt in die Nase. Fotografien und die Namen von Ermordeten, verwelkte Blumen, ein leerer Molotovcocktail in einem Aschehaufen.
"Es war ein Schock. Die ersten Tage gingen die Menschen mit gesenkten Köpfen, es waren kaum Autos auf der Straße, drei Tage war Trauer. Aber heute scheint es sich normalisiert zu haben, die Geschäfte sind geöffnet, die Menschen gehen ins Restaurant oder ins Theater. Das beklemmende Gefühl, dass dir jemand mit dem Fuß in den Nacken getreten hat, ist weg, aber es bleibt die Frage: Wer hat getreten."
Ein Bewohner Odessas in seiner Heimatstadt.
Jevgeni Golubowski, ein ehemaliger Kollege, ist fassungslos darüber, was die Krise aus Odessa gemacht hat© Joachim Baumann
Es dauert eine Weile bis ich die Sprache wiederfinde. Golubowski erzählt, was genau vorgefallen ist vor gerade einmal vier Wochen, wie es nach einem Fußballspiel zum Massenmord kam. Die Miliz – also die Polizei - hatte Befehl, nicht einzugreifen, sie trug an dem Tag auch keine Schusswaffen sagt, Jevgeni Golubowski. Niemand schützte die Menschen vor dem Mob.
Im Stadtpark wirkt Odessa friedlich
Ich verabrede mich mit meinen Freunden Slavik und Volodja im Stadtpark. Odessa wirkt friedlich hier, wir setzen uns auf eine Bank und gucken den Spaziergängern zu. Ist es die Ruhe vor dem Sturm? Am Sonntag sind die Wahlen. Die beiden sind besorgt, weil sie Angst vor neuer Gewalt haben. Nicht einen der Kandidaten halten sie für glaubwürdig. Es sind aus ihrer Sicht Diener des alten, korrupten Systems.
"Korruption beginnt am oberen Ende. Es gibt Vorgesetzte und es gibt Untergebene, die meistens nur ein geringes Einkommen haben, Ein einfacher Feuerwehrmann verdient ungefähr 1600 Griven, also ca. 100 Euro. Das reicht natürlich nicht zum Leben. Was macht er?"
Er verlangt vom Wurstverkäufer an der Ecke Geld, damit er den Brandschutz abnimmt. Der Wurstverkäufer hat Jahre für seine Bude gespart, von vorn anfangen geht nicht. Also bezahlt er dem Feuerwehrmann das Bestechungsgeld.
Das alte Studentenwohnheim von Joachim Baumann, Redakteur vom Deutschlandradio Kultur
Das alte Studentenwohnheim von Joachim Baumann, Redakteur vom Deutschlandradio Kultur, in Odessa© Joachim Baumann
Das System der Korruption ist pyramidenförmig: Unten der einfache Bürger mit der Würstchenbude, darüber Behörden, die Polizei, die hier Miliz heißt, Krankenhäuser, Gerichte, Verwaltung, untere Staatsebene, obere Staatebene, bis ganz oben in Kiew. Slavik schaltet sich ein:
"Nach den offiziellen Daten hat Janukovich innerhalb seiner Amtszeit als Präsident 100 Milliarden Dollar außer Landes geschafft, wovon 36 Milliarden in Russland liegen. Und diese Gelder müssen die Leute ja irgendwie durch Bestechungsgelder eingetrieben haben. Doch irgendwann sind die da oben durchgeknallt, wollten mehr und mehr. Das ist zu viel, sagte das Volk und ging auf den Maidan."
Der Maidan war Ende November noch mit großer Hoffnung verknüpft.
Im Februar aber waren die Demonstranten bereits gekauft, sind sich meine beiden Freunde sicher. Zlata Gontscharova wohnt in einer Nebenstraße im Zentrum von Odessa.
Wir kennen uns von einem ihrer Auftritte: Die Malerin und Grafikerin hat es mit "body painting" zu internationalem Ansehen gebracht.
Empörung über die marodierenden Bürgerwehren
Mit ihrer neuesten Installation verarbeitet sie die Ereignisse im Gewerkschaftshaus, die sie geradezu traumatisiert haben. Das Motto des Künstlerwettbewerbs, "Freiheit des Wortes", bringt mich auf die Frage, warum russisch so eine bedeutende Rolle hier spielt. Damit steche ich in ein Wespennest.
"Nun, das ist ein Moment der intellektuellen Erniedrigung. Ein Mensch, der seine Kultur und seine Sprache hat, muss diese verteidigen. Das verstehen alle, die über ein gewisses Maß an Intelligenz verfügen."
Wer ist denn jetzt auf den Barrikaden? Wenn du ihnen die Maske abnimmst, blickst du in das Gesicht eines Jugendlichen, der aus irgendeinem weit entfernten Dorf kommt. Man kann das an seiner Visage erkennen. Und wenn Du diesen 15- oder 16 jährigen fragst, was man ihm bezahlt hat, antwortet er in einem hinterwäldlerischen ukrainischen Akzent: 200 Griven. Doch wer ihn bezahlt erfährst du nicht."
Die ukrainische Künstlerin Zlata Goncharove
Die Künstlerin Zlata Gontscharova© Joachim Baumann
Zlata ist empört über die marodierenden Bürgerwehren, egal ob sie prorussisch oder proukrainisch sind. Und sie ist restlos frustriert. Sie will sich nicht einmal einer Gruppe der sogenannten Intelligenzia anschließen, die sich gerade gegründet hat und auf einem zivilisierten Weg versuchen möchte, die Ukraine zu demokratisieren. Sie will nur eines: weg.
Am Sonntag sind Präsidentschaftswahlen. Und Bürgermeisterwahlen in Odessa. Der zukünftige Präsident kennt den zukünftigen Bürgermeister lange und gut. Davon darf man ausgehen. Denn die wichtigsten Posten – und dazu gehört das Amt in Odessa – hat jeder der Kandidaten in Kiew längst verteilt.
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