Übungsplatz Kommune

Von Volker Wagener · 10.04.2006
"Wohnstadt im Grünen mit historischem Kern" - NRW hat viele Gemeinden, die sich so anpreisen. Waltrop zum Beispiel. Nur ist Waltrop nicht eine von vielen Gemeinden, weil die Bürgermeisterin seit dem 16. Januar einen "amtlich bestellten Berater" an ihrer Seite hat. Das ist ziemlich einmalig in NRW, denn besagter Berater gibt weniger freundliche Ratschläge, sondern er greift mit harter Hand ein.
"Wenn die Kommune ein Privatunternehmen wäre, wäre Waltrop pleite"

Stefan Bergmann wird jetzt häufiger nach Waltrop gefragt. Bergmann, Pressesprecher des Regierungspräsidenten in Münster, sitzt eine dreiviertel Autostunde von der Kommune weg, die derzeit in aller Munde ist. Doch in Münster hat man jetzt "die Hand auf Waltrop". Das Städtchen am Rande der Westfalen-Metropole Dortmund ist zumindest finanziell entmündigt. Der Regierungspräsident hat Anfang des Jahres getan, was noch niemand in Deutschland gewagt hat: Er hat Waltrops Bürgermeisterin Anne Heck-Guthe einen Sparberater zur Seite gestellt.

Eine Maßnahme mit der Waltrop noch gut weg gekommen ist. Eigentlich sieht das Kommunalrecht noch härtete Grausamkeiten vor. Die Einsetzung eines Staatskommissars nämlich. Aber soweit wollte man in Münster dann doch nicht gehen. Und wenn doch, hätten sich die 30.000 Waltroper auch nicht beschweren können. Ihre Stadt ist restlos überschuldet, so sehr, dass Kämmerer Wolfgang Brautmeier seinen Gästen immer wieder die Geschichte von den Zinsen und dem Kleinwagen erzählt.

"Die Zinslast lag alleine für den Kernhaushalt von 3,1 Millionen Euro ... Das entspricht dem Gegenwert eines Kleinwagens - täglich."

Seit Herbst 2004 amtiert die Sozialdemokratin Anne Heck-Guthe als Bürgermeisterin. 9000 Euro Zinslast - Tag für Tag. Das war ihr des Schlechten zu viel. Ein Kassensturz wurde gemacht, anschließend der Kämmerer entlassen. Der neue Finanzverwalter, Wolfgang Brautmeier, kann sich noch genau an den Tag erinnern, als er die Bücher zum ersten Mal aufschlug.

"Ich hatte glücklicherweise eine Anfrage über die Kassenkreditquote vorliegen ... Das hat mir sehr schnell klar gemacht wo wir stehen ... nur jeder zweite Euro ist durch eigene Einnahmen gedeckt."

Waltrop, wie einige andere Kommunen am nördlichen Rand des Ruhrgebiets, hatte einmal eine Zechenvergangenheit. Die "Ära des schwarzen Goldes" hatte vielen Stadtvätern und Müttern im Revier den Blick nach vorn verstellt. In ihrem schlichten Büro gesteht Bürgermeisterin Heck-Guthe die Sünden der letzten Jahrzehnte ohne Umschweife. In den 70er Jahren fing es an, sagt sie, da gerieten Einnahmen und Ausgaben aus dem Ruder. In der Folge wurden Defizite in der Stadtkasse - parteiübergreifend - mal kunstvoll, mal ganz offen durch neue Kredite kaschiert.

"Ich denke, in den 90er Jahren war klar, dass hier einiges schief gelaufen war. Vielleicht hätte man da noch etwas bewegen können mit Sparmaßnahmen. Glaube aber, dass Ratsmitglieder und Verwaltung nicht erkannt haben, zu welchem Ergebnis das Ganze geführt hat."

In Zahlen ausgedrückt liest sich die Waltroper Finanzmisere so: 37 Millionen Euro Einnahmen fließen dem Kämmerer zu, die Ausgaben machen mit 82 Millionen Euro mehr als das Doppelte aus. Die Differenz von 45 Millionen Euro wird aus Kassenkrediten bedient. Eine Deckungsquote von 46 Prozent, die niedrigste in Nordrhein-Westfalen. Waltrop ist die Spitze eines kommunalen Schulden-Eisbergs. Allein im größten Bundesland steht die Hälfte aller Städte und Gemeinden unter der Kontrolle der Kommunalaufsicht. 100 der 427 Kommunen und Kreise müssen ohne genehmigten Haushalt wirtschaften.

Wilhelm Niemann soll es nun richten in Waltrop, dem Städtchen das sich nach außen als "Wohnstadt im Grünen mit historischem Kern" verkauft. Niemann ist der Sparberater der Bürgermeisterin und ihrem Kassenwart. In seinem Büro im efeuumrankten Rathaus beweist der Mann aus Rheine Humor - Galgenhumor - würden manche sagen. Eine ansehnliche Kollektion von Rotstiften fällt dem Besucher ins Auge. Das Handwerkszeug eines Sparkommissars.

"Die Diskussion wird in Zukunft darum gehen: Mit wie wenig kommt demnächst eine Gemeinde aus? Im Einzelfall kommt es zur Schließung von Einrichtungen ... das steht alles vor der Tür."

Wilhelm Niemanns Mission ist keine, die ihm neue Freunde zutreiben wird. Kompetenz kann man ihm nicht absprechen. Zehn Jahre lang war er Dezernent im Landkreis Osnabrück, dann direkt gewählter Bürgermeister im westfälischen Rheine. Bei der letzten Wahl blieb Niemann nur zweiter Sieger. Seitdem hatte er viel Zeit. Bis ihn der Regierungspräsident von Münster fragte, ob er nicht als bestellter Berater nach Waltrop gehen wolle.

"Also, ich hab mir erst Waltrop angeschaut und dann Ja gesagt."

Das Ja gibt es nicht umsonst. 70.000 Euro kostet Wilhelm Niemann per anno. Auch die Sanierung muss bezahlt werden, findet Stefan Bergmann, der Pressesprecher des Regierungspräsidenten in Münster.

"Herr Niemann wird von Waltrop bezahlt. Das ist sozusagen eine Investition in die Zukunft."

Anne Heck-Guthe, die Bürgermeisterin, genießt mittlerweile weit über die Stadtgrenzen hinaus Ansehen. Sie wollte die finanztechnischen Faxen nicht mehr mitmachen, mit neuen Kassenkrediten Zahlungsfähigkeit vortäuschen. Es ist ihr nicht leicht gefallen die bittere Wahrheit auszusprechen und ihre Stadt für pleite zu erklären. Und über den "Aufpasser" des Regierungspräsidenten an ihrer Seite, war sie anfangs auch nicht gerade erfreut.

"Natürlich fühl ich mich schon eingeschränkt durch den Berater ... aber ich sehe auch wie uns hier die Kosten davonlaufen ... ist auch gut jetzt zusammen mit dem Regierungspräsidenten die Reißleine zu ziehen."

"Sorglosigkeit ist die Mutter der Katastrophe", hat Wilhelm Niemann, der Berater, neben seine Bürotür in Großbuchstaben auf ein Stück Pappe geschrieben. Das wirkt gerade so, als wolle der Neue im Rathaus die Waltroper noch einmal an ihre Sünden erinnern. Dabei sitzt er jetzt mit ihnen im Boot. Seine Aufgaben kann er mit Hilfe von drei Fingern erklären.

"Erstens gehört dazu, dass ich viel lese, zweitens dass ich viel rede und drittens muss ich gelegentlich auch mal streiten. Aber nach außen gehören wir zusammen."

Niemann ist einer der sich unmissverständlich ausdrückt. Als er Anfang des Jahres seinen ungewöhnlichen Job antrat, konnte man von ihm - der ja auch eine therapeutische Funktion in Waltrop hat -, Sätze hören, die jeden Patienten bis ins Mark treffen. "Mathematisch gesehen" sei die Aufgabe gar nicht mehr zu lösen, resümierte er schon, bevor seine Arbeit richtig begonnen hatte. Da hatte er schon bemerkt, dass Waltrop noch nicht einmal mehr Tafelsilber im Angebot hatte.

"Tafelsilber im klassischen Sinne, das gibt es nicht mehr ... Wenn so etwas mal da war, dann waren das Aktien. Jetzt gibt es nur noch neuzeitliche Rechenmodelle. Zum Beispiel: lohnt es sich, wenn wir das Kanalnetz verkaufen?"

Es gibt einen Markt für solche Geschäfte. Auf den ersten Blick verdienen Käufer und Verkäufer gleichermaßen. Eine Fondsgesellschaft könnte über den Kauf des Waltroper Kanalsystems zu regelmäßigen Einnahmen kommen, die Stadt hätte kurzfristig einen hohen Erlös in der Kasse. Insgesamt aber sind deutsche Kommunen im internationalen Vergleich äußerst vorsichtig mit solchen Einmalgeschäften.

Ganz akut drücken in Waltrop derzeit die beiden Schwimmbäder auf die Kasse, die die Stadt unterhält. Was in eines der beiden Freizeitanlagen noch vor wenigen Jahren an Renovierungsmitteln geflossen ist, hält die Bürgermeisterin heute für eine der vielen Fehlentscheidungen der Vergangenheit.

"Wir haben zwei Bäder ... da haben wir vor fünf Jahren eines der Bäder mit 3,5 Millionen Euro renoviert. Das war nicht nötig ... jetzt müssen wir sehen, wie wir die noch halten können."

86.000 Schwimmgäste, rechnet der Kämmerer vor, kommen pro Jahr in die beiden Freizeitanlagen. Die meisten Badefreunde sind aus dem Umland und nutzen die Infrastruktur Waltrops. Jedes Jahr schlägt die "Rubrik Bäder" mit einem Minus von 1,3 Millionen Euro nach Abzug der Eintrittsgelder zu Buche.

Auf dem Prüfstand sind das Stadtarchiv, das Heimatmuseum, die Musikschule, die Volkshochschule, die Stadtbücherei, das Kinder- und Jugendbüro und die Sportstätten. Muss man eigentlich heute noch als Kleinstadt eine klassische Bibliothek vorhalten, fragt Wilhelm Niemann im Beisein der Bürgermeisterin und des Kämmerers ruhig, aber fast schon provozierend in die Runde?

"An vielen Stellen werden wir uns überlegen, ob vielleicht Private das besser machen können ... Der Markt wird dann richten, ob ihr Preis angenommen wird oder nicht."

Kosten senken, nicht mehr Bezahlbares abschaffen und eine totale Wieder- und Neubesetzungssperre sind schon eher Selbstverständlichkeiten in Waltrop, das machen andere Gemeinden mit weniger drückender Schulden- und Zinslast auch. Die Sparleistungen werden die Bilanz allerdings kaum nennenswert verbessern, neue Einnahmequellen würden schon eher Spuren im Kassenbuch hinterlassen. Doch auch hier sind die Perspektiven düster, winkt der Kämmerer ab.

"Großansiedlungen wird es kaum noch geben. Vor einigen Jahren gab es mal eine Anfrage von BMW, die gingen dann aber nach Leipzig, dahin, wo unsere Fördergelder hingehen ... Wir müssen mittelständische Gewerbeansiedlungen realisieren."

"Da wo unsere Fördergelder hingehen", sagt Wolfgang Brautmeier und eine Spur Gereiztheit klingt durch bei diesem Nebensatz. Die "Aufbau-Ost-Gelder" sind ein wunder Punkt in Waltrop, nicht nur hier, aber hier vor allem. Denn vor dem Hintergrund der Pleite der Stadt stellt sich nun erst recht die Frage, wer bezahlt eigentlich für wen? Die Bürgermeisterin macht jedenfalls eine klare Rechnung auf.

"Wir haben insgesamt 17 Millionen Euro für den Aufbau Ost bezahlt ... und wir haben das von Anfang an aus Krediten bezahlt."

Und Berater Wilhelm Niemann empfindet fast körperlichen Schmerz bei dem Gedanken, dass Waltrop nicht Nehmer, sondern Geber von Aufbaugeldern ist.

"Also speziell in der Situation Waltrops tut es weh ... wir müssen dafür immer zur Bank gehen."

Jetzt nur noch indirekt, denn der nordrhein-westfälische Finanzminister zieht Waltrop den "Ost-Soli" gleich von den Landes-Zuwendungen ab.

Und auch der Kreis Recklinghausen macht sich im Moment nicht gerade beliebt bei den Waltropern, die aus allen Richtungen den Fingerzeig auf sich zu sehen glauben. Deutschlands erste und bislang einzige zahlungsunfähige Stadt greift in der Not zu Methoden der Selbstverteidigung. Alle zehn Kommunen, die zum Kreis Recklinghausen gehören, wirtschaften unter dem Diktat des Nothaushaltsrechts, berichtet Kämmerer Brautmeier.

"... nur der Kreis Recklinghausen befindet sich nicht im Nothaushaltsrecht und ist trotzdem nicht bereit, die Kosten für die Kommunen zu verringern. Deshalb haben wir unsere Kreisumlage halbiert."

12,5 Millionen Euro wurden einfach durch zwei geteilt. Ein Affront, der noch ein juristisches Nachspiel haben wird. Aber auch Finanzberater Wilhelm Niemann sieht für Waltrop keine andere Möglichkeit als Teile der Kreisumlage einzubehalten.

"Da wir diese Kreisumlage nicht aus Erwirtschaftetem, sondern über Kredite zahlen, meine ich, muss das thematisiert werden ... ich meine, es handelt sich hier um verdeckte Kredite für den Kreis."

Ende März hat die Bürgermeisterin ihren "Zwölf-Punkte-Plan" zur langfristigen Entschuldung in den Rat eingebracht. Kern des Papiers ist eine Selbstverpflichtung für Rat und Verwaltung bis 2009 ein genehmigungsfähiges Haushaltssicherungskonzept aufzustellen. 2012 sollen dann erstmals wieder Einnahmen und Ausgaben in der Balance sein. Wie das im einzelnen erreicht werden soll, dass ist bis jetzt noch blanke Theorie. Einen 115 Millionen Euro hohen Schuldenberg abzubauen ist nicht mit einer Schwimmbadschließung, Zusammenlegungen von Kindergärten oder der Abschaffung einer Bücherei erledigt. Im Moment lastet auf den Waltropern das Negativ-Image, bankrott zu sein. Doch Wilhelm Niemann macht aus der Not eine Tugend.

"Also zum Thema Image: Natürlich wird jetzt über die Schulden Waltrops gesprochen. Aber das muss man sagen, die Westfalen sind ehrlich. Jetzt hat endlich mal eine angefangen ... Glückwunsch! ... Das macht uns eigentlich sympathisch."