Üble Nachrede oder Aufklärung

Von Bernhard Pörksen · 30.05.2012
Nach Jahren der Euphorie hat das Internet dieser Tage eine ziemlich schlechte Presse. Es gilt nun als das Medium der künstlichen Daueraufregung und als Instrument der Menschenjagd. Das Netz erzeuge eine oberflächliche, dümmliche Aggression, so heißt es. Es brutalisiere und enthemme die Menschen.
Man solle den Zugang für Jugendliche sperren, forderte ein erregter Bürger kürzlich in einer Radiodiskussion. Ein anderer meinte: Der Mensch befinde sich "in der Knechtschaft der Maschine." Wieder ein anderer: Am Sinnvollsten sei es vermutlich, das Internet "einfach ein paar Tage auszuschalten".

Die Anlässe der neuen Netzfeindlichkeit, so zeigt sich, sind datierbar. In Emden verdächtigte im März die Polizei zu Unrecht einen 17-jährigen Schüler, ein Mädchen vergewaltigt und umgebracht zu haben. Blitzschnell formierte sich, kaum war der Verdacht in Unlauf, ein Cybermob und forderte seinerseits den Kopf des jungen Mannes.

Der zweite Anlass ist mit einer Rache-Aktion der Hochspringerin Ariane Friedrich verknüpft. Sie machte eine sexuelle Belästigung in Form eines Fotos und einer Mail öffentlich; sie nannte den Namen und die Adresse des mutmaßlichen Absenders auf ihrer Facebook-Präsenz. Ihr Ziel war es, durch Prangermethoden Vergeltung zu üben – subjektiv verständlich, juristisch heikel, aber doch moralisch falsch.

Interessanter Weise zeigen gerade die genannten Fälle, dass die aktuelle Aufgeregtheit an einer folgenschweren Verwechslung krankt. Denn letztlich verwechseln die schockierten Fundamental-Kritiker der Netzwelt das Medium mit den Menschen, die dieses einsetzen. Sie suchen einen Schuldigen – und greifen sich die Technologie, das Instrument zur Verbreitung der bösen Botschaft.

Niemand muss jedoch in einem Forum zum Mord an einem Verdächtigen aufrufen. Und was immer man von Facebook hält – kein Programmierer hat die Selbstjustiz und die Abschaffung der Unschuldsvermutung zur Standardeinstellung der Kommunikation gemacht. Es war Ariane Friedrich selbst, die auf Vergeltung drängte.

Natürlich, es ist schon richtig: Das Netz erlaubt die Blamage auf Verdacht – und noch dazu auf einer weltweit einsehbaren Bühne. Es lässt sich benutzen, um peinliche, ekelhafte, intime Materialien und Dokumente in Hochgeschwindigkeit zu verbreiten, die sich kaum noch zensieren lassen. Und es macht den Skandal allgegenwärtig und den Reputationsverlust zum Dauerrisiko.

Aber es stimmt eben auch: Man kann die neuen Kommunikationstechnologien verwenden, um mit ihrer Hilfe Kriegs- und Schandbilder bekannt zu machen, für relevante Information und Transparenz zu sorgen. Man kann sie einsetzen, um Folterer zu entlarven, Diktatoren einzuschüchtern, sie im Extremfall zu stürzen.

Das heißt: Der digitale Skandal hat zwei Gesichter. Mal ist er grausames Spektakel, mal dringend benötigte Aufklärung – und welches seiner beiden Gesichter sich zeigt, hängt allein von denen ab, die publizieren und posten, also von uns allen.

Wer nun das Medium selbst schuldig spricht, der glaubt nicht an die Menschen, die in der Lage sind, dieses auf eine sehr unterschiedliche Art und Weise zu benutzen. Er will sie bevormunden, denn sie sind ihm unheimlich. Und er lässt bei all dem, dies wiegt am Schwersten, die entscheidende Herausforderung aus dem Blick geraten: Wie kann es gelingen, gleichsam von Kindesbeinen an, ein Gespür für Medieneffekte zu entwickeln? Wie sieht ein neues, der Gegenwart gewachsenes Konzept der Medienpädagogik aus, das eine Mentalität des empathischen Abwägens befördert? Was heißt Medienkompetenz im digitalen Zeitalter?

Man muss es so hart sagen: Die Verteufelung des Internet ist selbst gefährlich. Sie blockiert die dringend gebotene Suche nach Rezepten und Ideen, um öffentliche Kommunikation zu zivilisieren. Und sie ist denen, die bis auf Weiteres an die Mündigkeit des Menschen glauben, nicht würdig.

Bernhard Pörksen, Jahrgang 1969, ist Medienprofessor in Tübingen. Er studierte Germanistik, Journalistik und Biologie in Hamburg. Neben akademischen Arbeiten erschienen von ihm Essays und Kommentare, Reportagen und Interviews in Tageszeitungen. 2008 erhielt er die Tübinger Professur und gründete an Universität das Institut für Medienwissenschaft. Gemeinsam mit Hanne Detel schrieb er das Buch "Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter" (Herbert von Halem Verlag, Köln Mai 2012).
Bernhard Pörksen
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