Beobachten und Strafen
Nach Meinung des Publizisten Michael Seemann machen wir es uns zu einfach, wenn wir technische Beobachtungsmöglichkeiten und Überwachung gleichsetzen. Vielmehr kommt es immer darauf an, wer beobachtet.
"Nur wer nicht überwacht wird, ist frei" - so der Tenor der Überwachungsgegner. Die Formel ist einfach: Überwachung führt zu Unfreiheit, Nicht-Überwachung zu Freiheit. Eine binäre Logik wie im Computer. Nun stellen sich aber gerade nach Snowden zwei Fragen:
Erstens: Waren wir die letzten 10 Jahre keine freie Menschen? Wir wissen jedenfalls, dass wir schon so lange überwacht werden. Haben wir also nur nicht bemerkt, dass wir unfrei sind?
Zweitens: Vielleicht bejaht man diese Frage. Doch dann ist die Feststellung unvermeidlich: Das hat ja gar nicht wehgetan. Ist Unfreiheit also gar nicht so schlimm?
Erstens, zweitens, drittens
Der Kampf gegen die Überwachung hat ein Problem: Die schlimmsten Befürchtungen sind eingetroffen, aber kaum jemand fühlt sich ernstlich bedroht. Nun, da niemand mehr von sich behaupten kann, nicht überwacht zu werden, wirkt die bisherige Anti-Überwachungs-Debatte wie aus der Zeit gefallen. Ich behaupte: Wir müssen heute anders über Überwachung sprechen. Dazu ein paar Thesen:
Erstens: Überwachung ist nicht gleich Macht, sondern Macht macht Beobachtung zur Überwachung.
Wenn wir Überwachung skandalisieren, konzentrieren wir uns immer auf den Aspekt der Beobachtung. Wir fragen nur, wie umfassend die Beobachtung ist, der wir ausgeliefert sind. Die Gefahr durch NSA, Amazon oder Online-Werbefirmen beurteilen wir ausschließlich danach, welches Wissen sie über uns haben. Das ist kurzsichtig, denn wir übersehen damit die wichtige Rolle der Machtverhältnisse.
Zweitens: Macht über mich hat, wer mich disziplinieren kann.
Es ist ein Unterschied, ob ein Anwohner oder ein Polizist mich beim Falschparken beobachtet. Es ist ein Unterschied, ob Google meine Daten sammelt, um mir Werbung anzuzeigen oder das Bundeskriminalamt, weil es mich eines Verbrechens verdächtigt. Erst, wenn mich der Überwachende für meine Handlungen zur Verantwortung ziehen kann, werde ich seine Beobachtung überhaupt als Freiheitseinschränkung erleben. Die Macht, mich zu bestrafen, wenn ich mich den Vorstellungen des Überwachers nicht gemäß verhalte, ist der entscheidende Unterschied zwischen Überwachung und einer einfachen Beobachtung.
Drittens: Bei Überwachung geht es nicht um Privatsphäre.
Kampf gegen Strafregime
Ein paar Beispiele dazu: Als dem Antiüberwachungsaktivisten und Schriftsteller Ilija Trojanow die Einreise in die USA verwehrt wurde, wurde sie ihm wegen seiner öffentlichen Äußerungen, nicht wegen Details seines Privatlebens verwehrt. In Hamburg werden von der Polizei Menschen anhand ihrer Hautfarbe besonders ins Visier genommen, um Asylbewerber besser zu kontrollieren. Das nennt man Racial Profiling. Hautfarbe ist nicht privat. Britischen Touristen, die für einen auf Twitter geäußerten Scherz, Marilyn Monroe ausgraben zu wollen, in den USA stundenlang verhört wurden, verdanken ihre Drangsalierung keiner Verletzung ihrer Privatsphäre. Natürlich können Homosexuelle ihre Neigung privat halten und sich so vor Diskriminierung schützen. Aber ist das die Welt in der wir leben wollen?
Für die überwachende Instanz ist es egal, ob sie mich wegen eines öffentlichen Tweets oder einer privaten E-Mail zur Verantwortung zieht. Mir übrigens auch.
Gäbe es eine intakte Privatsphäre, könnte sie uns nur dann vor Unterdrückung bewahren, wenn wir unsere Eigenschaften und Meinungen in ihr verbergen. Würden wir öffentlich dazu stehen, wären wir trotzdem dran. Freiheit sieht anders aus. Statt die Privatsphäre gegen die Beobachtung zu verteidigen, sollten wir vielmehr gegen die Instanzen der Bestrafung kämpfen: Autoritäre Grenzkontrollen, rassistische Polizeianordnungen, homophobe Strukturen in der Gesellschaft, ungerechte Gesundheitssysteme und institutionelle Diskriminierung sind die eigentlichen Problemfelder der Überwachung. Der Kampf gegen Überwachung muss ein Kampf gegen die Strafregime sein.
Michael Seemann, geboren 1977, studierte Angewandte Kulturwissenschaft in Lüneburg. Seit 2005 ist er mit verschiedenen Projekten im Internet aktiv. Er gründete twitkrit.de und die Twitterlesung, organisierte verschiedene Veranstaltungen und betreibt den populären Podcast wir.muessenreden.de. Anfang 2010 begann er das Blog CTRL-Verlust zuerst bei der FAZ, seit September auf eigene Faust, in dem er über den Verlust der Kontrolle über die Daten im Internet schreibt. Normal bloggt er unter mspr0.de und schreibt unregelmäßig für verschiedene Medien wie RollingStone, ZEIT Online, SPEX, SPIEGEL-Online,c't und DU.