Übernationale Sicht der Dinge
Der Historiker Tony Judt erzählt in seinem enzyklopädischen Sachbuch auf spannende Weise die europäische Geschichte seit Ende des zweiten Weltkrieges. Der Brite bezeichnet die EU als einen Leuchtturm und ist der Ansicht, dass dieses Jahrhundert das europäische werden kann. Lesenswert ist das Buch vor allem durch Judts europa-umgreifenden Ansatz, der im Gegensatz zu der weit verbreiteten national fokussierten Geschichtsschreibung steht.
Nicht 1945 ist die entscheidende Zäsur in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern es sind die Jahre 1989 und 90, in denen die Mauer fällt, die kommunistischen Diktaturen von der Bühne abtreten und die Wiedervereinigung Ost- und Westeuropas beginnt.
So urteilt Tony Judt in einem enzyklopädischen Oeuvre, das bis heute seines gleichen sucht. Auf fast tausend Seiten hat er den Versuch unternommen, eine Nachkriegsgeschichte Europas zu schreiben, das - und hier liegt das unerhörte Wagnis seines Unternehmens - nach dem heutigen Stand 46 Länder mit meist eigener Sprache, eigener Kultur, eigener Geschichte und eigenen Erinnerungen umfasst.
Der Brite Judt ist Historiker und Leiter des Remarque-Instituts an der New York University, das sich um das gegenseitige Verständnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten bemüht. Von einem historisch "ziemlich belasteten" geographischen Begriff, meint er, habe sich dieses Europa zu einem Vorbild und Magneten entwickelt.
Der europäische Ansatz, entstanden aus einer kunterbunten Melange sozialdemokratischer und christdemokratischer Vorstellungen, hat für ihn Modellcharakter, soweit es die Gestaltung der sozialen Verhältnisse in den einzelnen Ländern und die zwischenstaatlichen Beziehungen betrifft. Die Europäische Union bezeichnet er als Leuchtturm, als Ansporn für Beitrittskandidaten und als eine globale Herausforderung für die Vereinigten Staaten und den american way of life.
Wenn sein dickes Oeuvre sich streckenweise richtig spannend liest, hat dies natürlich mit dem Verzicht auf die gewohnt national fokussierte Geschichtsschreibung zu tun. Statt einer germanozentrischen oder frankozentrischen oder italozentrischen Sicht werden Ereignisse und Entwicklungen, etwa die Bestrafung von Kollaborateuren und Mitschuldigen nach 1945, in einen übergeordneten europäischen Kontext gestellt.
"Das wichtigste unsichtbare Vermächtnis des zweiten Weltkrieges war das gestörte Kurzzeitgedächtnis, die Suche nach nützlichen Legenden – von den Deutschen, die alle gegen Hitler gewesen waren, von einem Frankreich, in dem jeder in der Résistance gekämpft, von einem Polen, in dem es nur Opfer gegeben hatte.
In einem positiven Sinn erleichterte dieses Vergessen den nationalen Wiederaufbau, wenn Männer wie Tito, de Gaulle oder Adenauer ihren Landsleuten ein plausibles, ja sogar stolzes Selbstbild vermittelten... Auf diese Weise konnten Völker, die den Krieg passiv erduldet hatten, wie etwa die Niederlande, die Geschichte ihrer Kompromisse beiseite schieben und andere, wie die Kroaten, die Geschichte ihres Irrwegs in verschwommenen Legenden rivalisierender Heroismen begraben....
Unter den Bedingungen von 1945, in einem zerstörten Kontinent, war viel zu gewinnen, wenn man tat, als wäre die Vergangenheit wirklich vergangen und begraben und den Blick in die Zukunft richtete."
Hatte nicht Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung 1949 gesagt, die Bundesregierung sei entschlossen, dort, wo es ihr vertretbar erscheine, "Vergangenes vergangen sein zu lassen"? Aber Judt blickt nicht nur nach Deutschland, sondern auch nach Italien, das 1943 von einer Achsenmacht zum Verbündeten der Westalliierten geworden war. Dort schrieb die Zeitung der Democracia Christiana am Tag von Hitlers Tod: "Wir haben die Kraft zum Vergessen! Vergessen wir so schnell wie möglich!"
Und als anerkannter Experte für moderne französische Geistesgeschichte blickt er natürlich auch nach Frankreich, wo noch unter Mitterand Vichy-Frankreich als autoritärer Fremdkörper in der Geschichte der französischen Republik galt, mit ihr nichts gemein haben durfte, was dann zur Folge hatte, dass das öffentliche Gewissen Frankreichs als unbelastet und rein galt.
Allerdings: So sehr Vergessen und Verdrängen für Judt eine Voraussetzung für Europas wirtschaftlichen Wiederaufstieg Westeuropas ist, so wichtig ist für ihn die Erinnerung an Krieg, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, damit sich Europa moralisch und kulturell neu definieren kann.
Dies gilt umso mehr, als durch die Erweiterung der EU die Erfahrungen, die Polen oder Letten und Esten mit zwei totalitären Systemen auf ihrem Boden machen mussten, die bisher eher einseitig auf die Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Helfershelfer in den besetzten Ländern gerichtete Erinnerungspolitik sich vor neue Herausforderungen gestellt sieht. Der Kampf der Polen um das Moskauer Eingeständnis, dass nicht die Nationalsozialisten, sondern der sowjetische NKWD den Massenmord am polnischen Offizierskorps in Katyn zu verantworten hatte, ist dafür nur ein frühes Beispiel.
Es finden sich viele brillante Kapitel in diesem Buch, etwa das über die gloriosen Jahrzehnte von 1953 bis 1973 in Westeuropa, in denen es stolze Wachstumsquoten gab, der Massentourismus Einzug hielt, sich die Reallöhne in Westdeutschland und den Beneluxländern verdreifachten, zwei Jahrzehnte, in denen Kühlschränke und Waschmaschinen, Autos und Fernseher das selbstverständliche Zubehör des durchschnittlichen Haushalts wurden.
Es gibt ironisch-provozierende Formulierungen, so wenn Judt schreibt, die Sozialdemokratie sei zeitweise "weniger eine Politik als eine Lebensweise" gewesen, eine Anmerkung, die sicher für Dänen und Schweden, aber auch für viele Deutsche vom Typ der Spätachtundsechziger gelten mag.
Die sechziger Jahre nennt er die Sternstunde des europäischen Staates, der Glaube an Wirtschaftsplanung und staatliche Interventionen hatte damals seinen Höhepunkt erreicht, und in Deutschland, Frankreich, England und Skandinavien wurde der Wohlfahrtsstaat weiter ausgebaut. Dass er diesen Bevormundungs- oder "Nanny-State" dem amerikanischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells vorzieht, steht außer Frage.
Das 21. Jahrhundert, meint er, könne vielleicht das europäische Jahrhundert werden. Und doch verhehlt er die Probleme dieses bevormundenden Wohlfahrtskapitalismus nicht: So sei heute unschwer zu erkennen, dass die flexible Rente, die vor den Wahlen 1957 von der Regierung Adenauer eingeführt wurde, unter veränderten demographischen und wirtschaftlichen Bedingungen eine untragbare Haushaltsbelastung darstelle.
Überzeugend arbeitet er auch historische Kontinuitäten heraus, etwa wenn er schreibt, der Kalte Krieg habe tatsächlich nicht erst nach dem zweiten, sondern schon nach dem ersten Weltkrieg begonnen, als die Alliierten im Bürgerkrieg auf Seiten der Weißen intervenierten und Frankreich Anfang der zwanziger Jahre den Polen im Kampf gegen die junge Sowjetunion beistand. Es sei allein Deutschland gewesen, das den Westen und Russland zu einer schwierigen, zeitlich kurz bemessenen Allianz zusammenführte.
"Solange Deutschland der Feind war, konnte man die tief greifenden Meinungsverschiedenheiten und Widersprüche zwischen der Sowjetunion und ihren Kriegsverbündeten leicht ignorieren. Aber sie waren vorhanden. Vier Jahre wachsender Zusammenarbeit in einem mörderischen Kampf gegen den gemeinsamen Feind konnten knapp 30 Jahre gegenseitigen Misstrauens kaum vergessen machen...
Die Auflösung des Kriegsbündnisses und die anschließende Teilung Europas war also kein Irrtum, nicht die Folge von blankem Eigennutz oder bösem Willen, sondern historisch begründet."
Er mokiert sich über die Exhumierung der Schriften Rosa Luxemburgs, Antonio Gramscis und anderer vergessener Marxisten, fragt bissig, ob die viel beschworene sexuelle Revolution für die große Mehrheit der Menschen nicht eine Fata Morgana geblieben sei und meint, die Swinging Sixties seien gegenüber den zwanziger Jahren, dem Fin de siècle oder der Pariser Demimonde der 1860er Jahre doch "ziemlich zahm" gewesen.
Über Letzteres mag man füglich streiten, wie sich denn bei einem solchen historischen Mammutunternehmen Fehler in etlichen Details gar nicht vermeiden lassen, auch nicht gelegentliche Fehleinschätzungen oder –deutungen mancher nationaler Tendenzen oder Unterschiede.
Zu den durch und durch gelungenen Kapiteln jedoch zählt seine Darstellung vom Ende der Sowjetunion. Da wendet er sich gegen die, wie er sie nennt: konventionelle Erzählung vom endgültigen Zusammenbruch des Kommunismus, welche den Aufstieg von Solidarnosc als das Eröffnungsgefecht im Entscheidungskampf gegen den Kommunismus betrachte.
Die polnische Revolution von 1980/81 will er nur als den "letzten Paukenschlag eines anschwellenden Crescendos von Arbeiterprotesten" verstehen, die 1970 begannen. Gestützt auf Furcht, Beharrungsvermögen und den Eigennutz der alten Männer, die das sowjetische System leiteten, hätte Breschnews "Ära der Stagnation" nach seiner Meinung endlos fortdauern können.
"Ganz gewiss gab es keine Gegenmacht, keine Dissidentenbewegung, weder in der Sowjetunion noch in ihren Satellitenstaaten, die sie hätte in die Knie zwingen können. Das konnte nur ein Kommunist tun. Und ein Kommunist tat es auch."
Aber dieser Kommunist, Michail Gorbatschow, daran lässt Judt keinen Zweifel, tat es wider Willen. Er schildert den letzten sowjetischen Parteichef als überzeugten Moralisten, unerhört aufgeschlossen für Veränderungs- und Erneuerungsbedarf, aber nicht bereit, die Kernthesen des Systems in Frage zu stellen, unter dem er aufgewachsen war. Wie viele Angehörige seiner Generation in der Sowjetunion habe er aufrichtig geglaubt, dass der einzige Weg zum Fortschritt die Rückkehr zu den leninistischen Prinzipien gewesen sei. Dass das leninistische Projekt selbst ein Irrweg war, habe er zu spät erkannt.
"Als Gorbatschow zunächst ein Element der Veränderung einführte, dann ein nächstes und wieder eines, untergrub er nach und nach das System, dem er seinen Aufstieg verdankte. Indem er die ungeheure Machtbefugnis des Generalsekretärs einsetzte, höhlte er die Diktatur der Partei von innen aus... Aber er hatte gewiss keine Vorstellung, was er da anrichtete, und wäre entsetzt gewesen, hätte er es gewusst."
Ob Judts Versuch die rundum gelungene alternative Geschichte zu jener nationalzentrierten Betrachtungsweise darstellt, mit der wir Europäer in jeweils unterschiedlichen Staaten und Kulturen aufgewachsen sind, steht dahin.
Fachhistoriker werden nicht zögern, ihre Einwände gegen diese oder jene These vorzubringen. Aber ein Anfang ist gemacht. Mögen andere Judts Geschichtserzählung nacheifern, aber es wird nicht einfach sein, etwas Besseres an seine Stelle zu setzen. Mein Urteil: Trotz seiner 966 Seiten nie ermüdend und sehr lesenswert.
Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork und Hainer Kober
Carl Hanser Verlag, München 2006
So urteilt Tony Judt in einem enzyklopädischen Oeuvre, das bis heute seines gleichen sucht. Auf fast tausend Seiten hat er den Versuch unternommen, eine Nachkriegsgeschichte Europas zu schreiben, das - und hier liegt das unerhörte Wagnis seines Unternehmens - nach dem heutigen Stand 46 Länder mit meist eigener Sprache, eigener Kultur, eigener Geschichte und eigenen Erinnerungen umfasst.
Der Brite Judt ist Historiker und Leiter des Remarque-Instituts an der New York University, das sich um das gegenseitige Verständnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten bemüht. Von einem historisch "ziemlich belasteten" geographischen Begriff, meint er, habe sich dieses Europa zu einem Vorbild und Magneten entwickelt.
Der europäische Ansatz, entstanden aus einer kunterbunten Melange sozialdemokratischer und christdemokratischer Vorstellungen, hat für ihn Modellcharakter, soweit es die Gestaltung der sozialen Verhältnisse in den einzelnen Ländern und die zwischenstaatlichen Beziehungen betrifft. Die Europäische Union bezeichnet er als Leuchtturm, als Ansporn für Beitrittskandidaten und als eine globale Herausforderung für die Vereinigten Staaten und den american way of life.
Wenn sein dickes Oeuvre sich streckenweise richtig spannend liest, hat dies natürlich mit dem Verzicht auf die gewohnt national fokussierte Geschichtsschreibung zu tun. Statt einer germanozentrischen oder frankozentrischen oder italozentrischen Sicht werden Ereignisse und Entwicklungen, etwa die Bestrafung von Kollaborateuren und Mitschuldigen nach 1945, in einen übergeordneten europäischen Kontext gestellt.
"Das wichtigste unsichtbare Vermächtnis des zweiten Weltkrieges war das gestörte Kurzzeitgedächtnis, die Suche nach nützlichen Legenden – von den Deutschen, die alle gegen Hitler gewesen waren, von einem Frankreich, in dem jeder in der Résistance gekämpft, von einem Polen, in dem es nur Opfer gegeben hatte.
In einem positiven Sinn erleichterte dieses Vergessen den nationalen Wiederaufbau, wenn Männer wie Tito, de Gaulle oder Adenauer ihren Landsleuten ein plausibles, ja sogar stolzes Selbstbild vermittelten... Auf diese Weise konnten Völker, die den Krieg passiv erduldet hatten, wie etwa die Niederlande, die Geschichte ihrer Kompromisse beiseite schieben und andere, wie die Kroaten, die Geschichte ihres Irrwegs in verschwommenen Legenden rivalisierender Heroismen begraben....
Unter den Bedingungen von 1945, in einem zerstörten Kontinent, war viel zu gewinnen, wenn man tat, als wäre die Vergangenheit wirklich vergangen und begraben und den Blick in die Zukunft richtete."
Hatte nicht Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung 1949 gesagt, die Bundesregierung sei entschlossen, dort, wo es ihr vertretbar erscheine, "Vergangenes vergangen sein zu lassen"? Aber Judt blickt nicht nur nach Deutschland, sondern auch nach Italien, das 1943 von einer Achsenmacht zum Verbündeten der Westalliierten geworden war. Dort schrieb die Zeitung der Democracia Christiana am Tag von Hitlers Tod: "Wir haben die Kraft zum Vergessen! Vergessen wir so schnell wie möglich!"
Und als anerkannter Experte für moderne französische Geistesgeschichte blickt er natürlich auch nach Frankreich, wo noch unter Mitterand Vichy-Frankreich als autoritärer Fremdkörper in der Geschichte der französischen Republik galt, mit ihr nichts gemein haben durfte, was dann zur Folge hatte, dass das öffentliche Gewissen Frankreichs als unbelastet und rein galt.
Allerdings: So sehr Vergessen und Verdrängen für Judt eine Voraussetzung für Europas wirtschaftlichen Wiederaufstieg Westeuropas ist, so wichtig ist für ihn die Erinnerung an Krieg, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, damit sich Europa moralisch und kulturell neu definieren kann.
Dies gilt umso mehr, als durch die Erweiterung der EU die Erfahrungen, die Polen oder Letten und Esten mit zwei totalitären Systemen auf ihrem Boden machen mussten, die bisher eher einseitig auf die Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Helfershelfer in den besetzten Ländern gerichtete Erinnerungspolitik sich vor neue Herausforderungen gestellt sieht. Der Kampf der Polen um das Moskauer Eingeständnis, dass nicht die Nationalsozialisten, sondern der sowjetische NKWD den Massenmord am polnischen Offizierskorps in Katyn zu verantworten hatte, ist dafür nur ein frühes Beispiel.
Es finden sich viele brillante Kapitel in diesem Buch, etwa das über die gloriosen Jahrzehnte von 1953 bis 1973 in Westeuropa, in denen es stolze Wachstumsquoten gab, der Massentourismus Einzug hielt, sich die Reallöhne in Westdeutschland und den Beneluxländern verdreifachten, zwei Jahrzehnte, in denen Kühlschränke und Waschmaschinen, Autos und Fernseher das selbstverständliche Zubehör des durchschnittlichen Haushalts wurden.
Es gibt ironisch-provozierende Formulierungen, so wenn Judt schreibt, die Sozialdemokratie sei zeitweise "weniger eine Politik als eine Lebensweise" gewesen, eine Anmerkung, die sicher für Dänen und Schweden, aber auch für viele Deutsche vom Typ der Spätachtundsechziger gelten mag.
Die sechziger Jahre nennt er die Sternstunde des europäischen Staates, der Glaube an Wirtschaftsplanung und staatliche Interventionen hatte damals seinen Höhepunkt erreicht, und in Deutschland, Frankreich, England und Skandinavien wurde der Wohlfahrtsstaat weiter ausgebaut. Dass er diesen Bevormundungs- oder "Nanny-State" dem amerikanischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells vorzieht, steht außer Frage.
Das 21. Jahrhundert, meint er, könne vielleicht das europäische Jahrhundert werden. Und doch verhehlt er die Probleme dieses bevormundenden Wohlfahrtskapitalismus nicht: So sei heute unschwer zu erkennen, dass die flexible Rente, die vor den Wahlen 1957 von der Regierung Adenauer eingeführt wurde, unter veränderten demographischen und wirtschaftlichen Bedingungen eine untragbare Haushaltsbelastung darstelle.
Überzeugend arbeitet er auch historische Kontinuitäten heraus, etwa wenn er schreibt, der Kalte Krieg habe tatsächlich nicht erst nach dem zweiten, sondern schon nach dem ersten Weltkrieg begonnen, als die Alliierten im Bürgerkrieg auf Seiten der Weißen intervenierten und Frankreich Anfang der zwanziger Jahre den Polen im Kampf gegen die junge Sowjetunion beistand. Es sei allein Deutschland gewesen, das den Westen und Russland zu einer schwierigen, zeitlich kurz bemessenen Allianz zusammenführte.
"Solange Deutschland der Feind war, konnte man die tief greifenden Meinungsverschiedenheiten und Widersprüche zwischen der Sowjetunion und ihren Kriegsverbündeten leicht ignorieren. Aber sie waren vorhanden. Vier Jahre wachsender Zusammenarbeit in einem mörderischen Kampf gegen den gemeinsamen Feind konnten knapp 30 Jahre gegenseitigen Misstrauens kaum vergessen machen...
Die Auflösung des Kriegsbündnisses und die anschließende Teilung Europas war also kein Irrtum, nicht die Folge von blankem Eigennutz oder bösem Willen, sondern historisch begründet."
Er mokiert sich über die Exhumierung der Schriften Rosa Luxemburgs, Antonio Gramscis und anderer vergessener Marxisten, fragt bissig, ob die viel beschworene sexuelle Revolution für die große Mehrheit der Menschen nicht eine Fata Morgana geblieben sei und meint, die Swinging Sixties seien gegenüber den zwanziger Jahren, dem Fin de siècle oder der Pariser Demimonde der 1860er Jahre doch "ziemlich zahm" gewesen.
Über Letzteres mag man füglich streiten, wie sich denn bei einem solchen historischen Mammutunternehmen Fehler in etlichen Details gar nicht vermeiden lassen, auch nicht gelegentliche Fehleinschätzungen oder –deutungen mancher nationaler Tendenzen oder Unterschiede.
Zu den durch und durch gelungenen Kapiteln jedoch zählt seine Darstellung vom Ende der Sowjetunion. Da wendet er sich gegen die, wie er sie nennt: konventionelle Erzählung vom endgültigen Zusammenbruch des Kommunismus, welche den Aufstieg von Solidarnosc als das Eröffnungsgefecht im Entscheidungskampf gegen den Kommunismus betrachte.
Die polnische Revolution von 1980/81 will er nur als den "letzten Paukenschlag eines anschwellenden Crescendos von Arbeiterprotesten" verstehen, die 1970 begannen. Gestützt auf Furcht, Beharrungsvermögen und den Eigennutz der alten Männer, die das sowjetische System leiteten, hätte Breschnews "Ära der Stagnation" nach seiner Meinung endlos fortdauern können.
"Ganz gewiss gab es keine Gegenmacht, keine Dissidentenbewegung, weder in der Sowjetunion noch in ihren Satellitenstaaten, die sie hätte in die Knie zwingen können. Das konnte nur ein Kommunist tun. Und ein Kommunist tat es auch."
Aber dieser Kommunist, Michail Gorbatschow, daran lässt Judt keinen Zweifel, tat es wider Willen. Er schildert den letzten sowjetischen Parteichef als überzeugten Moralisten, unerhört aufgeschlossen für Veränderungs- und Erneuerungsbedarf, aber nicht bereit, die Kernthesen des Systems in Frage zu stellen, unter dem er aufgewachsen war. Wie viele Angehörige seiner Generation in der Sowjetunion habe er aufrichtig geglaubt, dass der einzige Weg zum Fortschritt die Rückkehr zu den leninistischen Prinzipien gewesen sei. Dass das leninistische Projekt selbst ein Irrweg war, habe er zu spät erkannt.
"Als Gorbatschow zunächst ein Element der Veränderung einführte, dann ein nächstes und wieder eines, untergrub er nach und nach das System, dem er seinen Aufstieg verdankte. Indem er die ungeheure Machtbefugnis des Generalsekretärs einsetzte, höhlte er die Diktatur der Partei von innen aus... Aber er hatte gewiss keine Vorstellung, was er da anrichtete, und wäre entsetzt gewesen, hätte er es gewusst."
Ob Judts Versuch die rundum gelungene alternative Geschichte zu jener nationalzentrierten Betrachtungsweise darstellt, mit der wir Europäer in jeweils unterschiedlichen Staaten und Kulturen aufgewachsen sind, steht dahin.
Fachhistoriker werden nicht zögern, ihre Einwände gegen diese oder jene These vorzubringen. Aber ein Anfang ist gemacht. Mögen andere Judts Geschichtserzählung nacheifern, aber es wird nicht einfach sein, etwas Besseres an seine Stelle zu setzen. Mein Urteil: Trotz seiner 966 Seiten nie ermüdend und sehr lesenswert.
Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork und Hainer Kober
Carl Hanser Verlag, München 2006

Coverausschnitt: "Geschichte Europas"© Hanser Verlag