Überlebensgeschichten

Von Gerd Brendel · 03.05.2010
Sein Vater ist Sunit und seine Mutter stammt aus einer Schia-Familie. Dass er irgendwie anders war begriff Ali Sethi sehr schnell. Heute arbeitet er als Autor, der seine und andere Geschichten aus Pakistian im Gewand der Fiktion erzählt.
"Manchmal durfte ich mitspielen. Ich musste in der Einfahrt warten, durfte den Ball auffangen und zurückwerfen oder hinter dem Tor stehen. Sie erklärten, mir fehle das nötige Geschick für Kricket oder sie erklärten gar nichts und spielten allein weiter. Sie stellten von Anfang an klar, dass ich nicht zu ihnen gehörte."

Zaki, der Ich-Erzähler aus Ali Sethis Roman "Meister der Wünsche" ist anders. Das hat mit seiner Familie zu tun. Die Erfahrung, nicht dazu zu gehören, teilt Zaki mit seinem Erfinder Ali Sethi. In dunklem Samtjacket und Polohemd steht der junge Autor vor einem Dutzend Zuhörer im Besuchercafé des Außenministeriums in Berlin-Mitte. Die Mitarbeiter des Hauses erkennt man an den Plastikausweisen. Einige von ihnen kennen das Heimatland des Schriftstellers von ihren Dienstreisen.

Der dichte schwarze Bart und die große Brille lassen den Endzwanziger älter erscheinen. Der geschliffene Stil verrät die Seminare in "creative writing", die Ali Sethi während seiner College-Zeit in Harvard besucht hat, der Akzent mit dem rollenden "r" die Herkunft aus der pakistanischen Oberschicht.

"I think a lot of our identity is also accidental, the identities which are imposed on us by other people"."

Über die Zufälligkeiten der eigenen Identitäten nachzudenken, hatte Ali Sethi schon als kleiner Junge Gelegenheit ... Am Mittag vor der Lesung bestellt er in einem pakistanischen Restaurant in Kreuzberg sein Lieblingsessen: Dahl - Linsen mit Joghurt.

""I liked as a child, my grandmother made it for me ... when I came home from school."

Die Großmutter kochte dem jungen Ali nicht nur sein Lieblingsessen. Sie erzog ihn auch, seine Mutter arbeitete wie sein Vater als Journalist. Sie engagierte sich gegen Zia ul Haqs Diktatur und nach seinem Tod gegen die korrupten Eliten, die die Nachfolge des Generals antraten- argwöhnisch beäugt von der Großmutter und dem Rest der standesbewussten Familie.

"Das fing schon mit der Heirat meiner Eltern an: Damals wurde meine Mutter um ein Haar von ihrem Vater einem Großbesitzer aus einer hohen Kaste enterbt, denn mein Vater gehörte zu gar keiner Kaste und war damals noch einfacher Buchhändler."

Ihr Kind spürte die Folgen:

"I was always aware of this not taboo of cast but of this distance."

Dass er irgendwie anders war begriff der kleine Ali sehr schnell.

"Dazu kommt auch noch, dass mein Vater Sunit war und meine Mutter aus einer Schia-Familie stammt. Als ich drei war wollte mich meine Großmutter zu einer traditionellen Schia-Prozession zu Ehren des Märtyrer Husseins mitnehmen. Sie hatte mich ganz in schwarz angezogen und hatte mir die typischen Büßer-Handschellen angelegt. Als mein Vater das sah, hat er einen Tobsuchtsanfall bekommen."

"… and said: no you will not do this, you will not go to this procession and what is this absurd nonsense."

Auf die absurden Versuche seiner Umwelt in der Familie, in der Schule ihn auf eine Religion, auf eine Kaste, auf eine Rolle festzulegen, reagierte der Junge Ali mit zwei Überlebensstrategien:

"I was this kind of a freak, everybody of my age wanted to listen to western music and I was interested in ordu and punjabi."

Er entdeckte die Musik der traditionellen Quawlis für sich und die Dichtung der Sufi-Poeten.

Und er erfand Geschichten:

"Wenn etwas nicht real war, machte ich es real: Als Schlüsselkind mit zwei berufstätigen Eltern war ich dauernd bei Familien, zu denen ich nicht gehörte, also erfand ich lustige Geschichten, damit sie mich akzeptierten."

Dass nicht nur Familien-Identitäten aus Fiktion bestehen, verstand Ali Sethi, als sein Vater, mittlerweile ein prominenter oppositioneller Journalist, nach Muscharafs Militärputsch verhaftet wurde: Am nächsten Morgen beschimpfte ihn sein Lehrer vor der versammelten Klasse als "Landesverräter". Verrat an welcher Nation? Welcher Kultur? Welcher Politik? welcher Religion

Eine provokante Sicht auf die Gründungsgeschichte Pakistans, die sich auch in Ali Sethis Erstlingswerk "Meister der Wünsche" spiegelt. Im Familienroman ist es die Geschichte der Großmutter Daali. Aber auch die pakistanische Gegenwart verhandelt der Autor: Als der Ich-Erzähler nach zwei Jahren aus Amerika zurückkehrt, weil seine Lieblingscousine heiratet, wird er von der alten Hausangestellten Nazeem abgeholt:

"'Und was macht die Uni?'
'Alles bestens.'
'Sehr gut.'
Sie hielt inne und lächelte ihr anerkennendes wohlwollendes Lächeln.
'Weißt Du, Saudi-Arabien stellt alles in den Schatten.'
Sie war gerade von ihrer Reise nach Mekka zurückkehrt."

Finanziert mit Geld aus Arabien.

Sethi: "Es geht nicht nur darum, dass Saudia-Arabien Geld in unser Land pumpt, es geht darum, dass große Teile der Bevölkerung es mit offenen Händen annehmen, nicht nur das Geld, auch die neuen Koranschulen und die Waffen."

Ali Sethis nächstes Buch wird kein Roman sein, sondern eine Dokumentation über ein Massaker an Christen im letzten Jahr.

"Am nächsten Tag bin ich hingefahren um zu demonstrieren - und ein sehr verängstigter Bischof flehte mich um Hilfe an."

Also fing Sethi an zu recherchieren. Die Ergebnisse werden vielen nicht gefallen, dem Militär nicht und ganz bestimmt nicht den Islamisten. Und wieder einmal wird Ali Sethi den Vorwurf zu hören bekommen, nicht dazu zu gehören. Dass das in Pakistan lebensgefährlich sein kann, hat der Schriftsteller von seinen Eltern gelernt.

"I should say that everybody in my country is in danger."

Im Grunde ist jeder gefährdet, sagt Ali Sethi. Die Legationsrätin hat die Augen gesenkt. Die Welt zerfällt in zwei Teile: Auf einer Seite kann die Wahrheit hinter den erfundenen Geschichten lebensgefährlich sein, auf der anderen Seite lässt man sich darüber aus Büchern vorlesen.