Überleben in Workuta

03.04.2013
Erst in den Jahren der Wende, kurz vor seinem Tod, hat Horst Bienek angefangen, über seine Zeit in einem russischen Gulag zu schreiben - ein aufschlussreiches Werk über die frühe deutsche Nachkriegszeit.
Es war aus heutiger Sicht eine Lappalie, die Horst Bienek im November 1951 zum Verhängnis wurde. Der angehende Dichter und Meisterschüler von Bertolt Brecht hatte dem Jugendfreund Günter Grell ein Telefonbuch seines Wohnorts Potsdam überreicht. Grell, zeitweilig FDJ-Führer und SED-Abgeordneter der Volkskammer, war allerdings zuvor nach Westberlin übergesiedelt und rühmte sich, für die CIA zu arbeiten. Vor allem mit Hinweis auf die Übergabe des Telefonbuchs an Grell wurde Bienek von Stasi-Agenten festgenommen. Es folgten ein Schauprozess vor dem Sowjetischen Militärtribunal und eine Verurteilung zu zwanzig Jahren Haft wegen antisowjetischer Hetze.

Die Strafe verbüßte Bienek rund drei Jahre lang als Zwangsarbeiter in den Steinkohlengruben von Workuta im Norden des Ural. Davon handeln rund 60 Seiten Erinnerungen, die der Schriftsteller in den letzten Monaten vor seinem Aids-Tod Ende 1990 niederschrieb und die unlängst im Bienek-Nachlass-Archiv der Leibniz-Bibliothek Hannover aufgefunden wurden. Herausgegeben hat sie der Göttinger Wallstein Verlag – mit einem ausführlichen Nachwort von Michael Krüger, dem langjährigen Lektor Bieneks im Hanser Verlag München.

Horst Bienek, der dem Aufbau der DDR nicht ablehnend gegenüberstand, die politischen Mechanismen in diesem Staat aber kaum durchschaute, reagierte auf die unwahren und grotesken Vorwürfe der Richter sogar mit Schuldgefühlen. Hatte er nicht das Ulbricht-Bild in seinem Büro abgehängt? Bienek schildert den Transport in Gefangenenwaggons aus der Zarenzeit von Berlin über Warschau und Moskau bis zu den Steinkohlegruben in der Nähe des Eismeers und die internationale Häftlingsgemeinde, die in Workuta zusammenkam: Deutsche, die mit der DDR in Konflikt geraten waren, polnische Untergrundkämpfer aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, sowjetische Juden oder Bürger aus den von Stalin annektierten baltischen Republiken. Bienek erzählt von sexuellen Nötigungen der Blattnoi, der Kriminellen, die die politischen Häftlinge in Schach hielten. Er erzählt von den Nöten der Arbeit unter Tage, vom großen Streik in Workuta, der nach Stalins Tod 1953 ausbrach und brutal unterdrückt wurde.

1955, dank der Moskauer Vereinbarungen des Bundeskanzlers Konrad Adenauer, kam Horst Bienek frei und ging anschließend in die Bundesrepublik. Dort arbeitete er beim Hörfunk und als Verlagslektor, bevor er seit den späten siebziger Jahren mit dem Roman "Die erste Polka" und dessen Fortsetzungen über seine Kindheit im oberschlesischen Gleiwitz Erfolge feierte.

Bieneks Entschluss, über Workuta zu schreiben, kam zu spät, um ein Thema, das er lange verdrängt hatte, noch gründlich zu durchdringen. Das posthum veröffentlichte Manuskript zeigt den Arbeits- und Lebensalltag im Straflager eher schemenhaft, ein Nachteil angesichts der mittlerweile sehr umfangreichen Literatur über den Gulag.

Lesenswert ist das schmale Buch dennoch. Liefert es doch aufschlussreiche Details aus der frühen deutschen Nachkriegszeit. Dazu gehört, wie sich Bertolt Brecht als Reaktion auf Verhaftung seines Meisterschülers in seinem Arbeitszimmer einschloss – um nicht Stellung beziehen zu müssen, während Helene Weigel gesagt haben soll: "Vielleicht war Bienek doch ein amerikanischer Spion. Man verhaftet doch bei uns nicht so einfach unschuldige Leute."

Besprochen von Martin Sander

Horst Bienek: Workuta
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Michael Krüger
Wallstein Verlag, Göttingen 2013
80 Seiten, 14,90 Euro


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