Notstand bei Kinderärzten

Systemversagen auf dem Rücken der Jüngsten

08:47 Minuten
Ein kleiner Junge liegt krank im Bett mit einem Taschentuch vor seiner Nase.
Mehrere Krankheitswellen machen aktuell nicht nur Kindern und Eltern zu schaffen, sondern bringen auch die Kinderarztpraxen an den Rand der Belastbarkeit. © Getty Images / Imgorthand
Von Lisa Maria Röhling · 21.12.2022
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Wohl dem, dessen Kinder sich bester Gesundheit erfreuen. Alle anderen müssen sich derzeit mit dem Nachwuchs in ellenlange Warteschlangen bei Kinderärzten einreihen. Wie dramatisch der Versorgungsnotstand mancherorts ist, zeigt das Beispiel Bremen.
Mittwochmorgen, kurz nach halb 9 Uhr. Doktor Marco Heuerding betritt eines der Behandlungszimmer seiner Praxis im Bremer Stadtteil Huchting. Ein Mädchen sitzt auf dem Schoss ihrer Mutter, reibt sich die Augen, ist unruhig. Heuerding kennt die kleine Patientin. Die Familie war letzte Woche schon einmal da: Fieber, Husten und Schnupfen. Auch jetzt noch: 39 Grad.

Mit hartnäckigen Symptomen wie dieses Mädchen kämpfen viele, die an diesem Morgen in Heuerdings Praxis sitzen. Es ist Infektionssprechstunde, Eltern können hier ohne Anmeldung kommen, um ihre Kinder untersuchen zu lassen. Im Schnitt, sagt Marco Heuerding, seien knapp 40 Kinder in der Infektionssprechstunde.

Drei bis vier Minuten - mehr Zeit bleibt nicht

An besonders schlimmen Tagen aber seien es bis zu 140, dann arbeiten er und sein Kollege im Akkord, sind nur kurz in jedem Behandlungszimmer. Aber auch heute, an einem ruhigen Tag, ist wenig Zeit.
„Drei, vier Minuten maximal“, sagt Heuerding. „Wir versuchen in der Zeit hinzukriegen, was machbar ist. Aber es ist wenig, zu wenig.“

Das heißt: Bei jedem Kind muss es schnell gehen, ein Blick in die Ohren, den Mund, Abhören, dann weiter. So auch bei dem kleinen Mädchen. „Gut, die Helferin kommt vorbei und macht den Entzündungswert.“

Bremen gilt sogar als "überversorgt"

Eigentlich gilt das Land Bremen laut Zahlen der Ärztekammer als „überversorgt“: 86 Kinder- und Jugendärzte arbeiten in der Stadt Bremen, 13 in Bremerhaven, einige davon sind in mehreren Praxen tätig. Das ergibt eigentlich eine rechnerische Versorgungsquote von 130 Prozent. Trotzdem: Personalmangel und Krankheitswellen haben das System ausgedünnt. 

Deswegen genüge diese offizielle Versorgungsquote eben doch nicht, sagt Lukas Fuhrmann, Sprecher des Bremer Gesundheitsressorts.
„Hier müssen wir nicht nur akut schauen, wie man unterstützen kann, sondern es braucht auch eine Anpassung der Ermessungsgrundlagen, die dann dazu führen, dass wir offiziell überversorgt sind, dann aber in einer Situation landen, wo diese offizielle Überversorgung nicht ausreicht.“

Das Gesundheitssystem hält nicht Schritt

Marco Heuerding sagt: Die Anforderungen seien gestiegen, das System habe sich aber nicht angepasst. Allein durch die Versorgung Geflüchteter brauche die Behandlung manchmal länger, weil es Sprachbarrieren gebe. Und insgesamt seien alle Eltern schneller überfordert.
„Der Druck auf die Eltern, schnell ein gesundes Kind wieder zu haben, ist wahnsinnig hoch. Die müssen ja auch wieder zu Arbeit gehen. Dieser Druck wird dann einfach aufs System abgewälzt. Und dann stehen sie nach zwei Tagen Fieber hier, obwohl sie das auch noch abwarten könnten, wie sich das entwickelt. Das ist aber ein gesamtgesellschaftliches Problem.“
Ergebnis: Praxen und Kliniken sind voll. Einige Kinder- und Jugendärzte haben sogar Aufnahmestopps verhängt, nehmen keine neuen Patientinnen und Patienten mehr an. Heuerding will diesen Schritt nicht gehen. 

„Das Problem ist: Wir wollen die Kinder ja noch einigermaßen ordentlich versorgen und eigentlich müssten wir einen Aufnahmestopp machen. Wir versuchen auch, nur Kinder aufzunehmen, die in Bremen noch keinen Kinderarzt haben.“

Ein Drittel geht demnächst in Rente

Marco Heuerding ist im Vorstand des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, kennt die Lage im Bundesland gut. Und dass sie sich noch verschlimmern wird: Denn nach seinen Angaben ist ein Drittel der Kolleginnen und Kollegen 55 Jahre und älter, gehen also bald in Rente. Nachwuchs? Gibt es wenig, sagt er, weil es zu wenige Medizinstudienplätze gibt, der Numerus clausus liegt entsprechend bei 1,1.
Außerdem ist Bremen das einzige Bundesland, in dem man nicht Medizin studieren kann. Vorstöße, hier einen Medizinstudiengang zu entwickeln, liegen seit Jahren auf Eis. Es gibt Pläne, eine Kooperation mit einer anderen Universitätsklinik aufzunehmen – wann, wie und ob die umgesetzt werden, ist offen. 

Doch nicht nur die Ausbildung erschwert die Situation, sagt Marco Heuerding. Die Arbeitsbedingungen machten den Arztberuf nicht gerade attraktiver. Heuerding sagt: „Ich glaube, in der Intensität zu arbeiten, ist nicht unbedingt attraktiv.“

Für jedes Kind ein nettes Wort

Marco Heuerding macht seinen Job gerne. Egal, wie wenig Zeit er hat, er findet für jedes Kind ein nettes Wort, die meisten begrüßt er mit dem Namen, spricht sie auf eine Unterhaltung beim letzten Besuch an. Aber viele Kinder schauen auch erst mal verängstigt, wenn der Arzt das Zimmer betritt. 

„Kindermedizin braucht Zeit, und das wurde über Jahre hinweg komplett vernachlässigt. Bei einem Kind muss man einen Zugang finden, mit Zeit und Empathie. Und die Möglichkeiten haben wir seit Jahren nicht mehr.“

Genauso wenig Ruhe wie in Marco Heuerdings Behandlungszimmer herrscht bei seinen Kolleginnen am Empfang. Heute sind sie mit sieben Personen gut besetzt. Trotzdem kommen sie kaum hinterher.     

Frust bei den Praxismitarbeiterinnen

Der Frust läuft schon früh an anderer Stelle auf. Das zeigt Praxishelferin Vivien Buchholz am Bildschirm der Telefonanlage:
„Wir können nicht jeden Anruf annehmen zurzeit. Ich zeige das mal: Wir haben hier die Rückrufliste und während man einen Anruf annimmt, hat man direkt 20 Anrufe auf der Rückrufliste. Da ist dann schon eine Unzufriedenheit da, wenn man uns nicht erreichen kann. Man kommt eigentlich nicht hinterher.“

Pflegepersonal fehlt überall. Laut dem Bremer Gesundheitsressort sind die Ausbildungszahlen in der Krankenpflege erhöht worden, an den Universitäten gibt es mehr Studiengänge für Gesundheitsberufe. 

Sonderzahlungen für das Praxispersonal

Trotzdem sei gutes medizinisches Fachpersonal schwierig zu bekommen, sagt Marco Heuerding. Seine Praxis zahlt Sonderzahlungen, Urlaubsgeld und ein 13. Monatsgehalt, um die Helferinnen zu halten. Den sie leisteten viel: Organisation der Praxis, erste Einschätzungen der Patientinnen und Patienten, mitunter Triage am Telefon. 

Auf dem Weg ins nächste Behandlungszimmer wird Heuerding von seinem Kollegen für eine zweite Meinung aufgehalten. Ein Baby, vier Monate alt, schläft in einer Babyschale, die Mutter ist verzweifelt. Heuerding berät sich kurz mit dem Kollegen, bestätigt dessen Diagnose.

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„Das ist ein Kind, das in die Klinik müsste. Ein Kind, drei Monate alt, hohes Fieber, ansteigende Entzündungsparameter, der müsste einmal sauber durchgecheckt werden. Das sind alles Sachen, die wir jetzt auf unsere Schultern nehmen und gucken, wie man das ambulant hinbekommt. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand und haben keine Chance, die anders zu behandeln aktuell.“

Zu wenig Zeit für die ernsten Fälle

Die Familie soll am nächsten Tag wiederkommen, um zu schauen, wie es dem Kleinen geht. 

„Die Kinder, die wir ambulant nicht versorgen können, müssen eigentlich auf der Station versorgt werden. Und die Kinder, die stationär behandelt worden sind, brauchen eine ambulante Nachbetreuung. Wir konnten uns auch bisher aufeinander verlassen. Aber jetzt sind die Kapazitäten so weit aufgebraucht, dass wir uns die Patienten gegenseitig zuschieben, obwohl eigentlich beide am Limit arbeiten.“

Um Kliniken und Praxen jetzt zu entlasten, will das Bremer Gesundheitsressort eine Kinderambulanz einrichten, sagt Sprecher Lukas Fuhrmann.
„Dort würden wir kurze, kleine Fälle behandeln können, Krankschreibungen für die Eltern ausstellen können, um eben einfache Fälle, die gerade in den Praxen auftreten, abnehmen zu können.“ Wann die Ambulanz kommt und wie sie finanziert wird, ist unklar. Und auch, ob das die gewünschte Entlastung bringt.

Nächstes Problem: Es gibt keine Antibiotika

Für das kleine Mädchen mit dem anhaltenden Fieber sind inzwischen die Entzündungswerte da. Sie sind erhöht, es könnte eine bakterielle Infektion sein. Also zurück ins Behandlungszimmer. Nun geht es darum, ob das Mädchen Antibiotika bekommt. Und wenn ja, wie. 

„Problem ist jetzt: Es gibt keine Antibiotikasäfte mehr. Wir haben einen Lieferengpass für alle Antibiotikasäfte für Kinder. Ich kann ihnen ein Alternativpräparat aufschreiben, das gibt es noch – aber auch nicht in allen Apotheken. Ich hatte gestern eine Mutter, die hat elf Apotheken angerufen, bis sie eine gefunden hat, die das vorrätig hatte.“ 

Die Schlange reicht bis zur Treppe

Das Wartezimmer leert sich gegen halb elf langsam, an manchen Tagen stehen die Patienten um diese Zeit sogar noch bis auf die Treppe vor der Praxis. Nun kommen die Voruntersuchungen und Impfpatienten dran. Heuerding und sein Team versuchen, allen gerecht zu werden, eine Sorge hat er jedoch:

„Das ist schon eine angespannte Arbeitssituation grad und ich glaube schon, dass wir echt unter Stress stehen. Dazwischen mal ein Kind zu verpassen, was richtig krank ist und nicht ausreichend versorgt wird, das wird irgendwann passieren.“
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