Überbau für das Alltägliche

Von Michael Rutz |
Es ist schön, dass der Papst in Deutschland ist. Endlich einmal keine Krisen- und Katastrophenschlagzeilen, diese benediktinischen Tage sind ein Labsal. Sie strömen Ruhe aus, Zuversicht und für die 50 Millionen Christen, die Juden und Muslime im Lande auch die Erkenntnis, dass diese Welt noch in anderen Händen ist, als in jenen der Börsenspekulanten, der Krisenmanager, skandalbegieriger Medien.
Ein Oberhaupt der milliardenstarken katholischen Kirche hat immer viel zu sagen, er ist seit 2000 Jahren das Gewissen der Welt, eine kraftvollere Organisation gibt es nicht. Und er ist wichtig, weil Religionen und Konfessionen wichtig sind, weil sie die Weltgeschichte treiben und allzu oft auch gegenwärtig der Politik die Tagesordnung aufzwingen.

Also hört man dem Papst besser zu, zumal Benedikt dem XVI. Kenner der Literatur Joseph Ratzingers haben in seinen bisherigen Reden in Deutschland allerdings nichts Neues entdeckt. Das Spannungsverhältnis von Recht und Gerechtigkeit, das er am Donnerstag im Bundestag elaborierte, hatte er fast genauso schon in seinem Disput mit Jürgen Habermas im Januar 2004 dargelegt. Er hatte schon damals von der Notwendigkeit gesprochen, Macht unter das Maß des Rechts zu stellen, hatte die Grenzen des demokratischen Willensbildungsprozesses markiert, in dem Mehrheiten blind oder ungerecht sein können, und hatte die Entgleisung der Vernunft gerügt, die sich in der Naturwissenschaft von der Atombombe bis hin zur Gentechnologie gezeigt habe und die das Ethos von Mehrheitsentscheidungen bloßstellt.

Diesmal aber hat er es politischer angefangen. Indem er die Ökologiebewegung in Deutschland dafür lobte, dass sie entdeckt habe, dass "die Erde selbst ihre Würde in sich trage und wir ihren Weisungen folgen" müssten, ergab sich geradezu zwingend der vergleichende Blick auf den Menschen. Auch der trägt selbstverständlich seine Würde in sich, und wer der Würde der Erde das Wort rede und ihr zu folgen predige, müsse zwingend und erst recht auch die dem Menschen eigene Würde verteidigen und sie durchsetzen, folgerte Benedikt zwingend.
Damit aber ist es in der Politik so weit nicht her. Abtreibungsgesetze, Präimplantationsdiagnostik, Forschung an menschlichen Embryonen: Hier wird die Menschenwürde in einem Maße zur Disposition gestellt, das die vom Papst gelobten Grünen im Falle von Natureingriffen nicht widerstandslos hinnehmen würden, wenn es etwa um die Biosphäre von Buntspechten oder Tümpelkröten ginge.

Insofern wird diese Rede noch lange zitabel sein, hat sie die Dissonanz des Handelns der Ökologiepäpste dieser Republik bei den Grünen oder in der CDU doch lautstark gebrandmarkt. Aber so ist es mit Reden von Joseph Ratzinger schon immer gewesen: Sie sind weitgreifend in ihren Gedanken, sie liefern den Überbau für das Alltägliche, sie sind moralisch in ihrem Kern, sie sind fromm. Sie setzen auch Maßstäbe, allerdings oft solche, die den konkreten Problemen der Menschen entrückt sind. Und es ist einer der Kniffe dieses Papstes, durch die Betonung des Allgemeinen, des Großen und Ganzen sich den alltäglichen Anfragen zu entziehen.

Er hat ja Recht, dass der Wesenskern der katholischen Kirche mit den religiösen Alltagsproblemen von wiederverheiratet Geschiedenen oder konfessionsverschiedenen Ehepartnern nichts zu tun hat. Aber den obersten Seelsorger darf das nicht kaltlassen, er kann nicht darüber so einfach hinweggehen und, wie gestern in Erfurt geschehen, auf solche Anfragen ausweichend mit einem Aliud antworten, ich zitiere: "Das Notwendigste für die Ökumene ist zunächst einmal, dass wir nicht unter dem Säkularisierungsdruck die großen Gemeinsamkeiten fast unvermerkt verlieren, die uns überhaupt zu Christen machen."

Das ist auf banale Weise richtig, aber die Dringlichkeit der konkreten Anfragen an Ökumenefortschritte entwertet der Satz in keiner Weise. So geht es fort: Durch den Priestermangel verlässt die katholische Kirche ihre Gläubigen, ohne dass der Papst bisher vernehmbar geprüft hätte, ob nicht vielleicht die kirchlichen Ausschreibungsbedingungen für diesen Beruf nicht mehr stimmen, etwa der Zölibat. Auch die Position von Frauen in der männerdominierten Kirche ist verbesserungsbedürftig, auch dazu: bisher kein Wort.

Es ist wahr: Nichts davon berührt den Glaubenskern der Kirche, um den es zuerst gehen muss. Aber die Kirche muss sich die Gegenwart, in der sie lebt und in der sie gestaltend wirken will, immer im Blick haben. Aggiornamento, Anpassung an die Lebenswirklichkeit, hieß das zu Zeiten des Zweiten Vatikanums.

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