Über Nacht zum Pornostar

Von Bernd Sobolla · 07.07.2006
Die DVD "Boogie Nights" von Paul Thomas Anderson erzählt vom Aufstieg und Fall des 17-jährigen Tellerwäschers Eddie Adams, der unter dem Pseudonym "Dirk Diggler" über Nacht zum Pornostar wurde. Darin zeigt sich eine zügellose Hommage an die 70er Jahre.
Wir schreiben das Jahr 1977 und befinden uns im kalifornischen San Fernando Valley. Dort, nördlich von Los Angeles, hat sich die Pornofilmindustrie etabliert. Und Jack Horner, alias Burt Reynolds, ist einer der Starregisseure, dem auf der Suche nach neuen Gesichtern der junge Eddie auffällt. Ein Tellerwäscher in einer Disco, der zwischendurch für ein paar Dollar vor seinen Kunden masturbiert.

Boogie Nights: " Was?… Es gibt Leute, die dafür bezahlen dafür?/Klar. /Hast du heute schon? /Schon ein paar Mal./Und du könntest noch mal? /Ja, wenn sie wollen. Für zehn Mäuse./Nein. Meine Name ist Jack, Jack Horner. Filmemacher. /Wirklich? /Ja. Ich mache exotische Filme. Filme für Erwachsene. Hast du Lust mit an den Tisch zu kommen? Ich habe das Gefühl, unter der Jeans wartet etwas darauf, ganz groß raus zu kommen."

Doch Regisseur Paul Thomas Anderson hat keineswegs einen Sexfilm gedreht. Vielmehr ist "Boogie Nights" eine Milieudarstellung. Es geht um Menschen, deren Lebensziel aus Partys, Unterhaltung, Drogen und Sex besteht. Und die irgendwie Stars sein wollen, obwohl sie fast nichts zu bieten haben, und es für kurze Zeit sogar schaffen.

Boogie Nights: "Und der Preis für den besten Darsteller geht an, uh, ich kenne alle seine Filme und bin ganz wild darauf, mit ihm zu arbeiten - Mr. Dirk Diggler!"

Für den Pornostar Diggler, den Mark Whalberg spielt, wollte Regisseur Paul Thomas Anderson eigentlich einen ganz anderen Star verpflichten, wie er in seinem spannenden Audiokommentar verrät.

Paul Thomas Anderson:
"Ich dachte auch daran mit Leonardo di Caprio zu drehen. Ich traf ihn sogar, und er war wirklich wunderbar. Aber dann entschloss er sich, "Titanic" zu machen. Und ich glaube, er hat es nicht bereut und ich auch nicht. Also, Leonardo wäre damals meine erste Wahl gewesen und Mark ist es heute."

Der Filmemacher, der auch das Drehbuch schrieb, wuchs übrigens selbst im San Fernando Valley auf und besuchte als Botenjungen die Filmproduktionsfirmen und erlebte den Aufstieg und Fall vieler Legenden. Bereits mit 17 Jahren schrieb er das Drehbuch "The Dirk Diggler Story". "Boogie Nights" basiert auf diesem Skript, das im Wesentlichen das Leben des Pornostars Big John Holmes beschreibt. Holmes ist übrigens auch ein Dokumentarfilm gewidmet, den das Bonusmaterial beinhaltet, und in dem er u. a. über seinen Einstieg ins Gewerbe spricht.

Big John Holmes:
"Ich war im dritten Jahr im College und meine Nachbarin fragte mich, ob ich 100 Dollar verdienen wolle. Ich fragte, wen ich denn dafür umbringen solle. 100 Dollar war eine Menge Geld. Es ging um einen Sexfilm, und der Produzent suchte einen Mann, der einen wirklich Großen hat. Ich sagte: Na klar! Ich hatte sowieso nicht vor in die Politik zu gehen. Warum also nicht?"

Holmes spielte in seiner 20-jährigen Karriere in 2500 Filmen mit. Dass er u. a. unter wegen Mordanklage vor Gericht stand und 1988 an Aids starb, wird nicht gesagt. Schade eigentlich. Dafür aber erfährt man, dass er die sexuelle Extase, die man von dem Filmstar auch privat erwartete, keineswegs erfüllen konnte. Besonders umfangreich ist der zweite Audiokommentar, indem fast alle Protagonisten zu Wort kommen: Don Cheadle und Mark Whalberg, Bill Macey und Heather Graham, John C. Reilly und Juliana Moore, die das emotionale Zentrum des Films darstellt und die es hasst, lange zu proben.

Julianna Moore:
"Im Theater ist es etwas anderes. Da Probe ich bis zum Umfallen. Aber beim Film hat man nicht viel Zeit. Wenn man eine Szene zu oft probt, gehen manchmal die Emotionen verloren. Ich jedenfalls bin bei den ersten Aufnahmen meist besser, wenn alles noch frischer ist. Ohne zu wissen warum."

Alle Audiokommentare sind mit deutschen Untertiteln versehen - eine Seltenheit. Und hoch interessant auch, wie Paul Thomas Anderson viel Selbstkritik übt: Emotionale Momente, für die er sich hätte mehr Zeit lassen müssen, Szenen die nicht optimal aufgelöst sind. Hier erfährt man auch, dass viel improvisiert wurde und dass Burt Reynolds noch immer Schwierigkeiten hat, längere Texte zu lernen.

"Boogie Nights" thematisiert nicht nur das scheinbar unendlich freie Leben im Pornomilieu. Es geht auch darum, wie Menschen versuchen, entgegen allen Beteuerungen, irgendwie Anschluss ans bürgerliche Leben zu finden: Ein gleichermaßen schonungsloses wie sensible inszeniertes Gesellschaftsportrait. So träumt die Figur von Don Cheadle davon, ein Geschäft für Stereoanlagen zu eröffnen, Julianne Moore möchte den Kontakt zu ihrem Sohn zurückgewinnen, Heather Graham will wieder ans College. Und Burt Reynolds sehnt sich nach künstlerischer Anerkennung. Und er wähnt sich am Ziel, nur weil es ihm gelingt, seine Sexfilme mit einer Detektiv- und Abenteuergeschichte zu verbinden.

Boogie Nights: "Keiner legt sich ungestraft mit Chester und Brock an./Der beste Film, den wir gemacht haben. /Das ist ein echter Spielfilm, Jake! /Weißt du, das ist der Film, der mich unsterblich machen wird."