Über Liebe und ihre Gründe

Unter dem Titel "Einige Überlegungen zu Normen, zur Liebe und zu den Zielen des Lebens" hat Harry G. Frankfurt, "praktischer" Philosoph an der Universität von Princeton, unlängst drei aufeinander bezogene Vorlesungen gehalten und zu einem Essay von noch nicht einmal 110 Seiten zusammengestellt.
In einem ersten Abschnitt führt Frankfurt den zentralen Begriff seiner praktischen Vernunft über die Liebe ein - leider ein ziemlich schwammiger oder – wie sein Übersetzer Martin Hartmann unwillig anmerkt – ein "notorisch schwer übersetzbarer Zentralbegriff". In amerikanischem Englisch:

"…to care about."

Auf Deutsch…dass es etwas gibt, worum wir uns sorgen, was uns am Herzen liegt, was uns wichtig ist, worum wir uns kümmern, woran uns etwas liegt.

Harry Frankfurt: "Mein Vorschlag, das Repertoire, auf das sich die praktische Vernunft bezieht, auszuweiten, zielt auf diese zusätzlichen Begriffe: worum wir uns sorgen, was uns wichtig ist – eben was wir lieben!"

In einem zweiten Schritt unter der Überschrift "Über Liebe und ihre Gründe" zeigt der Philosoph dann, dass und wie solche bedingungslose Liebe unsere Identität als Mensch und Person bestimmt:

"Das Lieben selbst ist das wichtigste für uns. Es gehört einfach zu uns, das Lieben zu lieben."

Und der Essay schließt mit durchaus überraschenden Erwägungen zur Selbstliebe als der "reinsten" Form der Liebe überhaupt.

"Die Menschen kommen nicht umhin, sich selbst zu lieben, solange sie irgendetwas lieben. Liebt jemand etwas, dann liebt er notwendig sich selbst."

An zwei Beispielen versucht Harry Frankfurt seinen Hörern und Lesern klar zu machen, wie uns unsere praktische Vernunft veranlasst, aus Gründen der Liebe zu handeln. Beispiel Nummer Eins: Zwei Ertrinkende.

"Ein Mann sieht, wie zwei Menschen am Ertrinken sind. Da er nur einen von ihnen retten kann, muss er entscheiden, welchen der beiden er retten will. Den einen kennt er nicht, bei dem anderen handelt es sich um seine Frau, die er liebt ... Es wäre ganz gewiss ungereimt, würde der Mann nach einem Grund für ihre Rettung suchen. Wenn er sie wirklich liebt, dann verfügt er schon über einen solchen Grund: Sie ist in Not und braucht seine Hilfe. ... Jemanden oder etwas zu lieben bedeutet unter anderem ganz wesentlich, seine Interessen als Gründe heranzuziehen, um diesen Interessen zu dienen, ja, es besteht ganz wesentlich daraus."

Noch nachdrücklicher entfaltet Harry Frankfurt seine These, dass Liebe nicht Passion sei, sondern nur und vor allem die wichtigste Form des Sich-Sorgens am zweiten Beispiel: dem der Liebe von Eltern zu ihren Kindern. Eine Liebe, die bereits vor ihrer Geburt beginnt. Eine Liebe, die unabhängig bleibt von irgendwelchen wertvollen Eigenschaften der Kinder. Eine Liebe, die den Kindern einen "Endzweck" für ihr Leben verleiht.

"Diese Beziehung zwischen der Liebe und dem Wert des geliebten Wesens – dass nämlich Liebe nicht notwendigerweise im Wert des geliebten Wesens gründet, dieses Wesen aber in jedem Fall für den Liebenden wertvoll macht – gilt nicht nur für elterliche Liebe, sondern ganz allgemein."

Und ganz besonders gilt sie für den Fall der Selbstliebe. So wie Eltern bedingungslos ihren Kindern helfen, liebesfähig zu werden, um erfüllt leben zu können, ebenso erfahren wir an uns, dass das Lieben von Natur aus zu unseren wahren Interessen gehört – ganz unabhängig von unserem Willen und Wollen...

"Wünscht eine Person zu lieben, dann wünscht sie damit gleichzeitig in einer Position zu sein, aus der heraus sie mit zuversichtlicher und fester Absicht handeln kann. Ohne eine solche Absicht kann Handeln nicht befriedigen."

Denn es wäre nur sinnlos, ziellos, willkürlich verschwendet, von leerem Aktivismus geprägt. Dabei lässt uns doch die – unsere? – praktische Vernunft wissen und erfahren, dass nur die Liebe unserem Leben Bedeutung verleiht. Wobei Harry Frankfurt sichergestellt wissen will, dass Liebe eben nicht mit Vernarrtheit oder Lust, Begehren oder Sex, Besessenheit oder psychischer Abhängigkeit verwechselt wird. Liebe entspringt der Triebkraft unseres Willens, ist also Sache der praktischen Sorge um das, was für den, den man liebt, gut ist. Was doch jeder will ... oder?

Harry G. Frankfurt: Gründe der Liebe
Aus dem Amerikanischen von Martin Hartmann
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. 109 Seiten, 14.80 €.