Über Leben im Umbruch

Von Claudia van Laak · 10.07.2008
Wer als Journalist ein düsteres Bild Ostdeutschlands zeigen will, der fährt nach Wittenberge. Die Industrie am Ende, Geschäfte und Wohnungen stehen leer, von ursprünglich 30.000 Einwohnern sind weniger als 20.000 übrig. Nun haben Sozialforscher die Stadt entdeckt.
Umfrage: "Es ist eine Stadt mit 20.000 Einwohnern an der Elbe, die direkt zwischen Berlin und Hamburg liegt."
"Wittenberge ist eine Kleinstadt, die ehemals mehr Leute hatte durch die Industrie, die hier angesiedelt war."
"Was mag ich an der Stadt? Die Umgebung, man ist hier aufgewachsen, man kennt hier viele, man ist hier verwurzelt, man hat die Elbe vor der Tür hier."
"Es herrscht in der Stadt vor, dass sie sehr misstrauisch sind Fremden gegenüber."
"Man fährt Freitagnachmittag durch leere Straßen, dann merkt man schon die Perspektivlosigkeit, oder so eine Leere, oder wenn man länger nicht hier war, dass es wieder Lücken zwischen den Häuser gibt, oder ganze Häuserzeilen eben weg sind."
"Das Gefühl herrscht vor, jeder, der hierherkommt, will die Stadt nur nutzen, aber will nicht mit der Stadt leben, er will sie einfach nur ausbeuten."

Wittenberge in Brandenburg. Eine Arbeiterstadt, 100 Jahre lang durch die Industrie geprägt. Ölmühle, Nähmaschinenwerk, Zellstoffproduktion. Das war einmal.

"Die Leute sind schon verletzt, die erzählen schon von Verletzungen, würde ich sagen, wenn sie erzählen von der Industrie, die nicht mehr da ist. So diesen Schwall, den man immer am Anfang bekommt, wenn man erklärt, was man macht, das ist nicht mehr da, das ist nicht mehr da, das ist nicht mehr da."

Anna Eckert ist Wissenschaftlerin, genauer gesagt: europäische Ethnologin. Ein Jahr lang hat sie in Wittenberge verbracht, hat sich zusammen mit zwei weiteren Forschern eine Wohnung geteilt, ist mit dem Fahrrad an der Elbe entlang gefahren, hat viel gelesen, Akkordeon gespielt und vor allen Dingen: Feldforschung betrieben.

"Als europäische Ethnologin ist es ja wichtig, dass man im Feld ist, um genau mitzukriegen, wie das Leben abläuft. Das ist schon anders, wenn man hier nur ein paar Tage unter der Woche ist, als wenn man ein ganzes Wochenende hier ist, auch sieht, was sich da verändert, was die Leute am Wochenende machen, oder einfach zu merken, wie langweilig das auch sein kann."

Für die Leute in Wittenberge ist die große schlanke 28-Jährige "die Studentin", obwohl Anna Eckert ihr Studium längst abgeschlossen hat. Um nicht aufdringlich zu wirken, macht sie keine Fotos, Block und Bleistift haben sie und die anderen Sozialforscher allerdings immer dabei.

"Beobachtungsprotokoll Familie F. 13. Dezember 2007. Um zum Haus der Familie F. zu gelangen, müssen wir quer durch den alten Wittenberger Arbeiterbezirk, das sogenannte Packhofviertel laufen, welches durch den städtischen Rückbau nur noch partiell existiert. In einer der übriggebliebenen Straßen wohnt die Familie F. Die Straße besteht aus mehreren Mehrfamilien-Backsteinhäusern, die stilistisch durchaus mit alten Arbeitvervierteln wie Hamburg-Wilhelmsburg oder Manchester vergleichbar ist. Doch an vielen Stellen sieht man den Rückbau anhand der zwischen den Häusern aufklaffenden Lücken."

Eckert: "Insgesamt das Thema ist Strategien alltäglicher Überlebenssicherung, also diese Strategien, die die Leute entwickeln, um mit dem Umbruch umzugehen, wenn sie von Arbeitslosigkeit bedroht sind, wenn Infrastruktur sich zurückzieht, was sie vielleicht dagegen setzen können an Strukturen, die Stabilität schaffen."

Die Datschensiedlung ist eine Struktur, die Stabilität schafft in unsicheren Zeiten. 29 Kleingartenanlagen gibt es in Wittenberge, jeder sechste Einwohner verbringt seine Freizeit hier. Ob Sozialismus oder Kapitalismus, ob Brigade oder Team, ob VEB oder GmbH, die Gurken wachsen immer.

"Morgen, Hartmut, da kommen die großen Gurken, wo hat er die denn geholt, von Kalle, Eure Freilandgurken sind auch wieder schön, meine haben zu viele taube Blüten. Man muss immer hinterher sein, zum Ausruhen ist das nichts, wenn er in Ordnung ist, kann man sich schon eine Pause gönnen, besser als in der Wohnung sitzen."

Protokoll: "13. Okober 2007. Am Eingangstor zum Hauptweg ist ein Schild angebracht, auf welchem die Regeln für die Besucher des Kleingartens nachzulesen sind. Wir betreten die Anlage, gehen den Mittelweg entlang, links und rechts befinden sich die einzelnen Gärten. Die Begrenzung ist bei allen Gärten gleich, kleine Mauersimse, darüber in Wadenhöhe Draht als Zaun gespannt, in der Mitte ein wadenhohes Gartentürchen.

Einige Wege in den Gärten sind frisch geharkt, ein Zeichen für die anderen Pächter, dass der jeweilige andere Kleingärtner bereits da gewesen ist. Wir entdecken alte Badewannen, die als Wassertonnen verwendet werden. Auch alte Autofelgen werden benutzt, sie dienen als Schlauchhalter. Blinkende CDs an Schnüren aufgespannt und über die Beete gehängt, sollen die Vögel abschrecken.

Die Gartentürchen bilden eine magische Grenze, die ohne Erlaubnis nicht überschritten wird. Trotzdem kann jeder vom Hauptweg aus in die einzelnen Gärten schauen, jeder hat im Blick wie ordentlich oder unordentlich ein Garten ist, wer arbeitet oder wer sich ausruht."

Arnold Grade schwingt sein rechtes Bein sportlich über Sattel und Gepäckträger, steigt vom Fahrrad ab. Ihm gehört der zweite Garten rechts, gleich neben dem Schaukasten mit den Bekanntmachungen, und das seit 45 Jahren. Eine Idylle mit Sträuchern voller Himbeeren und Stachelbeeren, blühenden Rosen und einer Vogeltränke. Unter dem Dach seines Geräteschuppens nistet ein Vogel.

Grade: "Das ist hier meine Schwarzdrossel. Da ist das Nest hier, sehen Sie, und ich darf die zum Beispiel anfassen, sind sie noch da, ja die Kleinen sind da, warm, sind zwei oder drei Junge."

Es scheint, als ob der Umbruch nach der Wende an der Kleingartenanlage Grüner Weg spurlos vorüber gegangen ist. Hier ist es so wie immer. Doch beim genaueren Hinschauen fällt auf – in der Kleingartenanlage wird ein Generationenkonflikt verhandelt. Stoff für die Sozialforscher.

"Die Jüngeren, die sind meistens für sich, die Generationen bleiben unter sich, und die haben die Gärten mehr als Hobby, als Freizeit, wir sind es ja gewohnt, jede kleine Ecke noch was anzubauen, die sehen das mehr als Grünanlage, zum Feiern, zum Grillen."

Arnold Grade hat den Ethnologinnen all das und noch mehr erzählt. Mit viel Elan und Freude darüber, dass ihm, dem verwitweten Eisenbahner, jemand so viel Interesse entgegenbringt und seine Geschichte notiert.

"Det stimmt, det muss auch mal gesehen werden, was hier unten der kleine Bürger so treibt, und was er anbaut und was er erntet."

"Über Leben im Umbruch" oder auch "Überleben im Umbruch" heißt das dreijährige europäische Forschungsprojekt, das mit 1,5 Millionen Euro gefördert wird und an dem 5 Universitäten und Institute beteiligt sind. Kleingärtner Grade freut sich über das Interesse der Sozialforscher an Wittenberge, Bürgermeister Hermann weiß noch nicht so recht. Geredet haben wir lange genug, sagt der SPD-Politiker.

Hermann: "Jetzt geht es um die Aufgaben der Zukunft, wie wollen wir die denn lösen. Und da freut man sich lieber über einen kleinen umgesetzten Schritt, dass da ein Haus saniert worden ist, dass wir ein kleines Unternehmen eröffnet haben, dass wir ein Projekt anschieben können, als über eine Reflektion."

Oliver Hermann hat die Nase voll vom Gerede über Wittenberge als Verliererstadt. Wir haben 15 Jahre lang getrauert über die verlorenen Industriearbeitsplätze, sagt der promovierte Historiker, langsam reicht´s.

"Gerade Wittenberge galt nun lange Zeit als eines der Top-Negativ-Beispiele aus Ostdeutschland, und das nervt einfach nach einer Weile, man will´s nicht mehr hören, das hilft uns nicht bei der Lösung der Probleme."

Deshalb ist Bürgermeister Hermann auch nur mäßig begeistert von den Veranstaltungen an diesem Wochenende, die Sozialforscher und Künstler gemeinsam organisiert haben. Das Maxim-Gorki-Theater Berlin führt das Stück "Heaven" auf – es zeigt die "gegenwärtige Hölle des deutschen Ostens" – so die Ankündigung. Installations- und Klangkünstler bespielen leere Orte in Wittenberge – die ehemalige Stadtbibliothek und den Speisesaal der Mitropa. Über die Stadt verteilt laden hölzerne Hochstände zum Klettern ein, um einen anderen Blick auf Wittenberge zu gewinnen. Bürgermeister Hermann schüttelt den Kopf.

"Wenn dann Wissenschaft und Kunst kommen, gerade wenn sie aus der großen Stadt kommen in die Provinz, dann ist man erst mal skeptisch. Es ist auch eine ganz normale Haltung, dass man sagt, welcher Kulturspinner kommt denn da jetzt gerade wieder da an, der da irgendwelche Hochstände in die Stadt baut. Bis jetzt überwiegt mir zu sehr, das Negativbild oder -Image zu bedienen, obwohl das nicht gewollt ist. Da müssen die Wissenschaftler noch lernen, im Umgang mit der Materie."

Am Bahnhof: "Meine Damen und Herren am Gleis 4, der Zug verspätet sich um voraussichtlich 15 Minuten. Grund ist ein Problem im Betriebsablauf."

Der Bahnhof von Wittenberge ist neu und alt zugleich. Neu sind die Bahnsteige, die Unterführung, der Vorplatz und ein gläserner Kiosk, der neudeutsch DB-Service-Store heißt. Das imposante Empfangsgebäude aus dem 19. Jahrhundert dagegen steht zu großen Teilen leer und verfällt zusehends. Die Bahn will das Gebäude verkaufen, doch Interessenten gibt es dafür nicht. Der frühere Speisesaal der Mitropa ist an diesem Wochenende ausnahmsweise geöffnet.

"Guten Tag, ein Tisch noch frei, sagen wir Tisch 4, müsste noch gehen, Bitteschön. Wasser oder Kaffee?"

Der Kellner serviert das Wasser, legt dabei artig den linken Arm auf den Rücken. Zehn kleine quadratische Tische sind im Mitropa-Speisesaal verteilt, darauf gelbe und weiße Tischdecken und kleine Vasen mit Plastikblumen. Der Blick fällt auf den früheren Eingang zur Küche, der jetzt zugemauert ist, die große Wanduhr ist um 11 Uhr stehen geblieben. An den Wänden angedeutete Säulen mit Kapitellen aus Stuck, der Parkettboden abgewetzt. Der Kellner kommt zurück, in der Hand einen grauen Karton, den er elegant öffnet und auf den Tisch stellt. Er enthält bunte Postkarten, einen MP3-Player und ein Stückchen Stoff mit einer farbigen Naht – ein Hinweis auf das Wittenberger Nähmaschinenwerk, das nach der Wende geschlossen wurde.

"Wir haben jetzt vom Haus noch eine kleine Kiste über Wittenberge, da liegt alles drin. Das ist jetzt Wittenberge, ein Foto, das ist die Brücke, die über die Elblandschaft führt, und das ist ein Original von Veritas, ehemals Singer, kleine Nähbeispiele, wir haben jetzt hier ein Hörspiel."

Hörspiel: "Meine Damen und Herren am Gleis 4, Willkommen in Wittenberge, Ihre nächsten Reisemöglichkeiten Regionalexpress nach Wismar 16.44 Uhr von Gleis 4."

Zwischen den Postkarten, die ihren Weg aus Rom, Karl-Marx-Stadt und Mönchengladbach nach Wittenberge gefunden haben, liegt eine leere Karte, wartet darauf, beschrieben zu werden.

"Man kann Anregungen schreiben, was man mit der Stadt verbindet, wie das Verhältnis zur Stadt ist oder einfach eine fiktive Urlaubskarte schreiben, wie man Lust hat."

Der Kellner ist im wahren Leben Klangkünstler, heißt Peter Göhler und hat zusammen mit dem Regisseur Andreas Kebelmann das Wittenberge-Hörspiel komponiert. Ausgangsmaterial waren Protokolle und Interviews der Sozialforscher.

Interview: "Und wie sehen Sie Wittenberge als Ort zum Arbeiten? Schwierig, obwohl, man sagt ja immer, im Westen ist alles besser und mehr Arbeit, gloob ick, aber da wird auch nicht mehr so doll sein, da wird es auch viele Arbeitslose geben. Das ist natürlich hier schwierig, ich hab das bei meiner Mutter gesehen, die war jetzt 5, 6 Jahre zuhause, da hatte ich auch das Gefühl, die fällt in eine Depression, sie empfindet so eine Absage, als ob sie zu alt ist, dabei ist die erst 48, ich finde das noch nicht so alt."

An einem der Tische sitzt eine junge Frau in Jeans und bordeauxfarbenem Pullover, hört eine Dreiviertelstunde lang konzentriert zu, betrachtet dabei interessiert den ehrwürdigen, aber altersschwachen Mitropa-Speisesaal. Dann greift sie zu einer Postkarte und schreibt.

Worch: "Eigentlich gehe ich mit so einem Gedanken, das habe ich auch auf die Postkarte geschrieben, was könnte man hier für eine Projekt machen, vielleicht auch mit Freunden, wenn man sich was Tolles überlegt, dann könnte man vielleicht auch zurückkommen mit guten Ideen. Das ist vielleicht etwas utopisch, aber mit der Stimmung gehe ich jetzt hier raus."

Katja Worch ist wie viele ihrer Generation nach dem Abitur zum Studium weggegangen und nicht wiedergekommen. Jetzt lebt die Tochter des evangelischen Pfarrers von Wittenberge in Berlin, besucht ab und zu am Wochenende ihre Eltern. Früher dachte sie: Nichts wie weg hier aus dieser trostlosen Stadt. Mittlerweile sieht sie das etwas anders.

"Dass ich merke, dass mich irgendwas verbindet, mich verbindet auch was die Leute hier bewegt, mich verbindet, wenn meine Eltern so erzählen, Geschichten von Leuten aus Wittenberge, irgendwie bin ich schon sehr interessiert, dass es nicht nur negative Erfahrung gibt, sondern eigentlich, wie Leute, die hier geblieben sind, mit ihrer Situation umgehen."

Wie Leute mit dieser Situation umgehen, dass wird auf einer Konferenz im Wittenberger Marie-Curie-Gymnasium verhandelt. Aus Paris ist Didier Lapeyronnie angereist, der über seine Forschungen in den Vororten der französischen Hauptstadt erzählt. Der Soziologe Heinz Bude referiert über "Die Würde der Überflüssigen".

Bude: "Die sind dabei, sind trotzig zurückzuziehen in ihre Häuskes, und die Mehrheit derer, die für diese Region was vorhat, findet das auch gut so. Und das ist eine der tiefen Spaltungen in der Gesellschaft Wittenberges, dass wir die haben, die aus guten Gründen versuchen, Entwicklungsperspektiven für die Stadt, für die Region zu entwickeln und damit konsequent eine Gruppe abhängen, denen das Verständnis dafür völlig fehlt und die für sich den Eindruck haben, dass sie in der städtischen Lebenswelt eigentlich keinen Platz mehr haben."

Es geht um sie, um ihr Leben, ihre Sorgen und Nöte, um ihre Zukunft. Und doch ist kaum jemand aus Wittenberge auf dieser Konferenz zu finden. Hier verhandeln die Intellektuellen aus den Großstädten das Schicksal der Kleinstadtbewohner unter sich. Heinz Bude wehrt sich dagegen, Empfehlungen für ein besseres Wittenberge abzugeben.

Bude: "Wir müssen als Projekt auch sehr aufpassen, dass wir in diese Falle, Handlungsempfehlungen zu geben, die eine gewisse Griffigkeit haben, nicht hinein tappen. Die Abzweckung des Projektes ist zu versuchen, eine wissenschaftliche Thematisierung unter die Leute zu bringen und eine Thematisierung unter die Leute zu bringen heißt nicht, Handlungsempfehlungen zu geben."

Einer der wenigen Wittenberger auf der Konferenz der Sozialforscher ist der evangelische Pfarrer Reinhard Worch. Der 62-jährige strahlt Optimismus aus, er hat die Gabe, in allem etwas Positives zu sehen.

Worch: "Wie weit sich diese Aktion jetzt wirklich für unsere Stadt austrägt und etwas bringt, das weiß ich jetzt nicht, ich vermute, da wird auch nicht allzu viel Veränderung ausgehen, direkt. Aber indirekt, dass junge Menschen hier waren, mit anderen gesprochen haben, dass Menschen unserer Stadt Aufmerksamkeit erfahren haben, das finde ich das Besondere."

Reinhard Worch lädt ein in seine imposante Kirche aus dem Jahr 1870. Genau wie das Rathaus und der Bahnhof zeugt sie vom Stolz der Wittenberger auf ihre schnell wachsende Industriestadt. In den letzten Jahren ist das evangelische Gotteshaus mit mehr als eine Million Euro saniert worden. Eigentlich brauchen wir diese Kirche gar nicht, sagt Pfarrer Worch, unsere Gemeinde schrumpft genauso wie die Stadt.

"Wir haben die Kirche saniert, damit wir ein Zeichen für die Stadt auch setzen, dass Denkmale oder Bauten aus der Zeit des industriellen Aufschwungs auch erhalten bleiben, und es für unsere Stadt auch ein Motivationsschub auch gibt, schaut mal an, Menschen damals haben dieses gewagt, lasst uns doch jetzt auch nach vorn schauen."

Der Blick vom Kirchturm zeigt beides – die Potenziale der Stadt und die Misere. Da ist die weite Elbaue, schwer bepackte Radler strampeln vorbei. Leer stehende Speichergebäude am Hafen, frisch sanierte Cafés und Pensionen an der Flusspromenade. Die Stadt will verstärkt auf die Elbe setzen – auf den Tourismus, auf die Neubelebung des Hafens.

Und da ist die schrumpfende Stadt. Wittenberge hat seit der Wende ein Drittel seiner Einwohner verloren. Die Folge ist ein brüchig wirkendes Stadtbild – sanierte Gründerzeithäuser wechseln sich ab mit Brachflächen. Wohnhäuser in Pastelltönen stehen neben grauen Gebäuden mit leeren Fensterhöhlen und zugenagelten Türen.
Reinhard Worch versucht, die Stimmung in Wittenberge zu beschreiben. Wenn jemand sagt, Eure Stadt ist doch schön:

"Dann sagen die Leute, denk doch da dran, was hier alles passiert ist, was da alles eingefallen ist. Wenn man aber sagt, was ist denn das für eine blöde Stadt, da ist ja gar nichts los, dann sagen sie: Was wir alles gemacht haben! Das erzeugt einen Gegenimpuls."

Der evangelische Pfarrer wünscht sich mehr Engagement von seinen Wittenbergern. Noch herrsche die Meinung vor, die da oben, die Politik müsse es richten. Viele Leute würden nicht einsehen, dass es auch an ihnen liege, was aus dieser Stadt werde. Das sieht auch Heinz Bude so. Er hat eine Trutzburgmentalität in Wittenberge gefunden. Menschen, die es geschafft haben, grenzen sich ab von den Bedürftigen, sagt der Soziologe.

Bude: "Es gibt so ein bisschen die Tendenz, dafür haben wir den Staat, der für die aufkommt, und wir können uns nicht auch noch um die kümmern. Und das finde ich prognostisch eine außerordentlich interessante Situation im Blick auf 2020 - wenn der Solidarpakt ausläuft und es dann in der Tat eine Bürgergesellschaft in Ostdeutschland braucht, die in sich selber Strukturen der Sorge ausgeprägt hat, die nicht nur unbedingt staatlich sind."

Bürgermeister Oliver Hermann interessiert sich im Moment nicht für die Zeit, wenn der Solidarpakt ausläuft, sondern für das Hier und Jetzt. Das neu gewählte Stadtoberhaupt versucht, mit einem weit verbreiteten Vorurteil in und über Wittenberge aufzuräumen. Ja, unsere Stadt wird weiter schrumpfen, sagt der Bürgermeister, Grund dafür ist aber nicht die Abwanderung.

"Das ist aber den Leuten nicht so bewusst, sie sehen natürlich in ihren Familien, wie die Jüngeren gehen, wie die Vereine und Feuerwehren so verlassen werden, und reflektieren, alles geht weg. Die, die da kommen, werden nicht wo wahrgenommen, die sind nicht so integriert."

Seit einigen Jahren verlassen genauso viele Wittenberger die Stadt wie Menschen zuziehen. Die Stadt schrumpft, weil Geburten und Sterbefälle in einem krassen Missverhältnis stehen. Zurzeit sterben jährlich 250 Menschen in der Stadt, geboren werden aber nur 90. Perspektivisch bedeutet das: Wittenberge wird im Jahr 2030 nur noch 13.000 Einwohner haben, wenn es nicht gelingt, Leute in die Stadt zu holen. Positiv denken, gibt Oliver Hermann deshalb als Parole aus:

"Und da wäre meine Vision, dass man nicht mehr sagt, hier ist alles zusammengebrochen, und es gibt nichts mehr, und wenn man sagt, es gibt doch noch das Bahnwerk, na ja, das Bahnwerk, das war ja immer da. Nein, dass man sagt, wir haben hier das Bahnwerk, das hat 800 Leute plus Nebenerwerb 1000 Leute, das ist doch ein Superstandort, kommt her und macht noch viel mehr Standorte draus."

Die erste Phase des Forschungsprojekts "Über Leben im Umbruch" ist vorbei. Anna Eckert und die anderen Doktoranden werden jetzt ihre Zelte in Wittenberge abbrechen und in anderen europäischen Regionen ihre Vergleichsstudien anstellen. Die vorsichtige Bilanz der Sozialforscherin: die Stadt setzt noch zu sehr auf das alte Muster von industriellem Wachstum.

Eckert: "Die Elbe wird ausgebaut, und dann können wieder Schiffe fahren und dann kommt die Autobahn, und das ist natürlich schon die Frage, ob das eine berechtigte Hoffnung ist oder ob man nicht einfach auch sehen muss, dass es anders gehen wird, aber das ist natürlich schwierig, weil die Stadt so arbeiterlich geprägt ist, und die Leute noch so viele Erinnerungen an diese industrielle Zeit haben."

Die Soziologen und Ethnologen ziehen weiter, die Wittenberger bleiben da. Das ist doch ganz normal, sagt Pfarrer Reinhard Worch, wir bleiben eh zurück.

Worch: "Wir hatten auch schon Kanzler hier, auch Kohl war hier, die lassen uns immer zurück, da bleibt uns gar nichts weiter übrig. Wer glaubt, wir werden nicht zurückgelassen, der obliegt einer Illusion, wir bleiben immer zurück. Aber ich denke, dass jemand diese Probleme ein Stückchen mitnimmt, das machen die Studenten wahrscheinlich mehr als eine Bundeskanzlerin."
Bahnhof in Wittenberge
Bahnhof in Wittenberge© Claudia van Laak
Blick auf ehemalige Industrieanlagen in Wittenberge
Blick auf ehemalige Industrieanlagen in Wittenberge© Claudia van Laak