Über Gnade
Die jüngste Debatte um eine vorzeitige Haftentlassung des Exterroristen Christian Klar aufgrund eines Gnadenakts des Bundespräsidenten hat an ein Institut erinnert, das so recht weder in den Rechtsstaat noch in die Demokratie passen will: das Recht der Begnadigung.
Um dessen Bedeutung zu verstehen: Hier geht es nicht um eine Aussetzung des Strafvollzugs auf Bewährung, die rechtlich geregelt ist, sondern um einen Gnadenerweis, der die von einem Gericht nach Recht und Gesetz festgelegte Strafe dispensiert. Schon der Volksmund wusste und weiß immer noch: Gnade ergeht vor Recht. Das ist in der jüngsten Debatte gerne übersehen worden: Kein Verurteilter hat einen Rechtsanspruch auf Begnadigung, und die Begnadigung erfolgt nicht durch ein Gericht, sondern durch den Inhaber des höchsten politischen Amtes im Staate. Sie steht also auch quer zur Gewaltenteilung. Gnade ist ein einseitiger Willkürakt, in dem der Begnadiger dem Begnadigten nach Gutdünken Gnade erweist. Man mag das als antiquiert empfinden und mit allerlei Überlegungen einer Rationalisierung der Gnade das Wort reden. Aber regulierte Gnade ist keine Gnade; es ist gerade die Willkürlichkeit, die das Wesen der Gnade ausmacht.
Selbstverständlich sind die Juristen bestrebt, dieses Skandalon der Willkür zu beseitigen, ohne auf die Möglichkeit der Begnadigung grundsätzlich zu verzichten. Aber das ist ihnen nicht gelungen und kann auch nicht gelingen. Gnade ist nämlich kein juristischer, sondern ein politisch-theologischer Begriff. Gnade ist das Vorrecht Gottes, und sie wird den Menschen zuteil "ohne all ihr Verdienst und Schuldigkeit", wie es bei Martin Luther heißt. Recht stellt immer eine wechselseitige Bindung dar, auch bei der Strafe: Es bindet den Strafenden wie den Bestraften an Grundsätze und Regeln, die vor der in Frage stehenden Handlung festgelegt und öffentlich bekannt gemacht sein müssen. Genau das ist bei der Gnade nicht der Fall. Der Begnadigte kann die Gnade annehmen oder zurückweisen, aber er kann mit dem Begnadiger nicht rechten.
Diese Willkürlichkeit ist selbst als ein allein Gott zukommendes Merkmal immer wieder als anstößig empfunden worden, und deswegen hat es nie an Bestrebungen gefehlt, den Akt der Gnade unter der Hand in eine Art von Tauschbeziehung zu verwandeln. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Revitalisierungen der Religion häufig mit dem Kampf gegen diese tauschförmige Korrumpierung des Göttlichen begonnen haben. Die Reformation in Deutschland ist dafür ein Beispiel. Es gibt darum gute Gründe für die Auffassung, Rechtsstaat und Gnade passten nicht zusammen, schon ganz und gar nicht, wenn es sich um einen demokratischen Rechtsstaat handele.
Im absolutistischen Staat gehörte Gnade zu den Grundsätzen der politischen Ordnung. Ein Herrscher, der sich selbst als legibus solutus, von den Gesetzen entbunden ansah, hatte mit der willkürlichen Gewährung von Gnade kein Problem, im Gegenteil: Vor allem in der Gnade und weniger im Recht zeigte er sich als absoluter Herrscher. Und wenn er die Legitimität seiner Herrschaft obendrein auf dem Gottesgnadentum begründete, so waren Gnadenakte, die er gewährte, Zeichen dessen, dass unter Gott er – und nicht etwa das Recht – die höchste Macht im Staate darstellte. Die Absolutheit seiner Macht zeigte sich nicht in der Strenge des Rechts, sondern in der Großzügigkeit der Begnadigung. Die antimonarchischen Republikaner wussten das nur zu gut, und deswegen bestanden gerade sie auf der Strenge des Rechts. Sie wollten von Gnade nichts wissen; für sie war Gnade ein Herrschaftsmittel der Monarchen, das in Republiken keinen Platz hatte.
Aber bereits in den Zeiten der monarchischen Souveränität kam es zu einer allmählichen Ritualisierung der Gnadenerweise. Immer häufiger konnte bei Eintreten bestimmter Ereignisse mit der Begnadigung vor allem politischer – aber keineswegs nur politischer – Häftlinge gerechnet werden: Wenn ein Königssohn heiratete, ein Herrscher Nachwuchs bekam oder ein neuer Spross des Fürstengeschlechts den Thron bestieg, fanden Begnadigungen in großem Stil statt. Die doppelte Botschaft lautete: Auch in Zukunft durfte das Volk mit einem gnädigen Herrscher rechnen, und auch in Zukunft blieben die Menschen auf seine Gnade angewiesen. Dass diese Gnade sich demonstrativ an denen zeigte, die sich etwas hatten zu Schulden kommen lassen, spielte dabei eine eher beiläufige Rolle.
Kann dies in einer Demokratie auf den Inhaber eines politischen Amtes übertragen werden? Das Gnadenrecht ist, wenn man so will, der sichtbarste Ausdruck innerstaatlicher Souveränität, die in der Moderne vom Monarchen auf das Volk übergegangen ist. Der Rechtsstaat tut sich freilich mit der Idee der Gnade schwer. Das Problem der Demokratie ist, dass das souveräne Volk dieses Recht einem auf Zeit bestellten Amtsinhaber übertragen muss, der dadurch aus der Reihe der anderen Amtsträger herausgehoben wird. Dass der Bundespräsident das höchste Verfassungsorgan ist, zeigt sich auch darin, dass er – und nicht der Kanzler, oder der Bundestagspräsident, oder der Präsident des Bundesverfassungsgerichts – das Recht zur Begnadigung hat.
Und wo bleibt das Volk? In der jüngsten Debatte über die Begnadigung ehemaliger RAF-Terroristen haben sich einige darüber echauffiert, dass der Bundespräsident überfallartigen Zurufen des Volkes ausgesetzt worden ist, die über die Boulevardpresse vermittelt wurden, beziehungsweise von denen diese Presse behauptete, dies sei die Meinung des Volkes. Fast hörte sich die Kritik daran so an, als solle das Volk den Präsidenten bei seiner Entscheidungsfindung nicht stören. Mit einem Mal war sie wieder da: die Angst der Deutschen vor der Demokratie. Sicherlich trifft am Schluss der Bundespräsident die alleinige Entscheidung, und er allein verantwortet sie auch. Aber bei der Entscheidungsfindung ist es mehr als legitim, dass allerhand Zurufe erfolgen: von Abgeordneten, Interessengruppen und auch den Blättern des Boulevards. Über eine Begnadigung könne nicht an Stammtischen entschieden werden, ist dagegen indigniert eingewandt worden. In einer Demokratie eben doch, zumindest auch dort. Wer das nicht will, sollte nicht gegen die Stammtische, sondern gegen den Akt der Begnadigung zu Felde ziehen.
Herfried Münkler, geboren 1951 in Friedberg, ist Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Er ist mit zahlreichen Studien zur politischen Ideengeschichte und zur Theorie des Krieges hervorgetreten. Nicht wenige davon sind mittlerweile Standardwerke, so etwa "Machiavelli" (1982) und "Gewalt und Ordnung" (1992). Kürzlich erschienen Münklers jüngste Bücher "Die neuen Kriege" und "Der neue Golfkrieg".
Selbstverständlich sind die Juristen bestrebt, dieses Skandalon der Willkür zu beseitigen, ohne auf die Möglichkeit der Begnadigung grundsätzlich zu verzichten. Aber das ist ihnen nicht gelungen und kann auch nicht gelingen. Gnade ist nämlich kein juristischer, sondern ein politisch-theologischer Begriff. Gnade ist das Vorrecht Gottes, und sie wird den Menschen zuteil "ohne all ihr Verdienst und Schuldigkeit", wie es bei Martin Luther heißt. Recht stellt immer eine wechselseitige Bindung dar, auch bei der Strafe: Es bindet den Strafenden wie den Bestraften an Grundsätze und Regeln, die vor der in Frage stehenden Handlung festgelegt und öffentlich bekannt gemacht sein müssen. Genau das ist bei der Gnade nicht der Fall. Der Begnadigte kann die Gnade annehmen oder zurückweisen, aber er kann mit dem Begnadiger nicht rechten.
Diese Willkürlichkeit ist selbst als ein allein Gott zukommendes Merkmal immer wieder als anstößig empfunden worden, und deswegen hat es nie an Bestrebungen gefehlt, den Akt der Gnade unter der Hand in eine Art von Tauschbeziehung zu verwandeln. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Revitalisierungen der Religion häufig mit dem Kampf gegen diese tauschförmige Korrumpierung des Göttlichen begonnen haben. Die Reformation in Deutschland ist dafür ein Beispiel. Es gibt darum gute Gründe für die Auffassung, Rechtsstaat und Gnade passten nicht zusammen, schon ganz und gar nicht, wenn es sich um einen demokratischen Rechtsstaat handele.
Im absolutistischen Staat gehörte Gnade zu den Grundsätzen der politischen Ordnung. Ein Herrscher, der sich selbst als legibus solutus, von den Gesetzen entbunden ansah, hatte mit der willkürlichen Gewährung von Gnade kein Problem, im Gegenteil: Vor allem in der Gnade und weniger im Recht zeigte er sich als absoluter Herrscher. Und wenn er die Legitimität seiner Herrschaft obendrein auf dem Gottesgnadentum begründete, so waren Gnadenakte, die er gewährte, Zeichen dessen, dass unter Gott er – und nicht etwa das Recht – die höchste Macht im Staate darstellte. Die Absolutheit seiner Macht zeigte sich nicht in der Strenge des Rechts, sondern in der Großzügigkeit der Begnadigung. Die antimonarchischen Republikaner wussten das nur zu gut, und deswegen bestanden gerade sie auf der Strenge des Rechts. Sie wollten von Gnade nichts wissen; für sie war Gnade ein Herrschaftsmittel der Monarchen, das in Republiken keinen Platz hatte.
Aber bereits in den Zeiten der monarchischen Souveränität kam es zu einer allmählichen Ritualisierung der Gnadenerweise. Immer häufiger konnte bei Eintreten bestimmter Ereignisse mit der Begnadigung vor allem politischer – aber keineswegs nur politischer – Häftlinge gerechnet werden: Wenn ein Königssohn heiratete, ein Herrscher Nachwuchs bekam oder ein neuer Spross des Fürstengeschlechts den Thron bestieg, fanden Begnadigungen in großem Stil statt. Die doppelte Botschaft lautete: Auch in Zukunft durfte das Volk mit einem gnädigen Herrscher rechnen, und auch in Zukunft blieben die Menschen auf seine Gnade angewiesen. Dass diese Gnade sich demonstrativ an denen zeigte, die sich etwas hatten zu Schulden kommen lassen, spielte dabei eine eher beiläufige Rolle.
Kann dies in einer Demokratie auf den Inhaber eines politischen Amtes übertragen werden? Das Gnadenrecht ist, wenn man so will, der sichtbarste Ausdruck innerstaatlicher Souveränität, die in der Moderne vom Monarchen auf das Volk übergegangen ist. Der Rechtsstaat tut sich freilich mit der Idee der Gnade schwer. Das Problem der Demokratie ist, dass das souveräne Volk dieses Recht einem auf Zeit bestellten Amtsinhaber übertragen muss, der dadurch aus der Reihe der anderen Amtsträger herausgehoben wird. Dass der Bundespräsident das höchste Verfassungsorgan ist, zeigt sich auch darin, dass er – und nicht der Kanzler, oder der Bundestagspräsident, oder der Präsident des Bundesverfassungsgerichts – das Recht zur Begnadigung hat.
Und wo bleibt das Volk? In der jüngsten Debatte über die Begnadigung ehemaliger RAF-Terroristen haben sich einige darüber echauffiert, dass der Bundespräsident überfallartigen Zurufen des Volkes ausgesetzt worden ist, die über die Boulevardpresse vermittelt wurden, beziehungsweise von denen diese Presse behauptete, dies sei die Meinung des Volkes. Fast hörte sich die Kritik daran so an, als solle das Volk den Präsidenten bei seiner Entscheidungsfindung nicht stören. Mit einem Mal war sie wieder da: die Angst der Deutschen vor der Demokratie. Sicherlich trifft am Schluss der Bundespräsident die alleinige Entscheidung, und er allein verantwortet sie auch. Aber bei der Entscheidungsfindung ist es mehr als legitim, dass allerhand Zurufe erfolgen: von Abgeordneten, Interessengruppen und auch den Blättern des Boulevards. Über eine Begnadigung könne nicht an Stammtischen entschieden werden, ist dagegen indigniert eingewandt worden. In einer Demokratie eben doch, zumindest auch dort. Wer das nicht will, sollte nicht gegen die Stammtische, sondern gegen den Akt der Begnadigung zu Felde ziehen.
Herfried Münkler, geboren 1951 in Friedberg, ist Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Er ist mit zahlreichen Studien zur politischen Ideengeschichte und zur Theorie des Krieges hervorgetreten. Nicht wenige davon sind mittlerweile Standardwerke, so etwa "Machiavelli" (1982) und "Gewalt und Ordnung" (1992). Kürzlich erschienen Münklers jüngste Bücher "Die neuen Kriege" und "Der neue Golfkrieg".

Herfried Münkler© HU Berlin