Über Glanz und Elend der Pharmaforschung

Bevor ein Medikament in die Apotheke kommt, vergehen nicht selten zehn Jahre. Vor der Zulassung sind zahlreiche Hürden zu überwinden. Studien müssen gemacht werden, Ethikkommissionen sind einzuschalten, Zulassungsstellen prüfen die Unterlagen. Die Wissenschaftsjournalistin Heide Neukirchen verfolgt in "Das Patienten-Dilemma" den langen Weg der Pillen.
15.000 Kinder in Deutschland leiden an Gelenkrheuma. Sie können sich immer schlechter bewegen, leiden unter Augenschäden und Wachstumsstörungen. Vor einigen Jahren initiierten Wissenschaftler eine staatenübergreifende Studie zur Entwicklung eines neuen Medikamentes: Nicht weniger als 84 Ethikkommissionen in 21 Ländern mussten zustimmen - in einem 40 Monate dauernden Prozess. Während Ethikkommissionen beratschlagen, leiden die Kinder: Das bisherige Medikament, eine gelbe Pille, löst mit seinen starken Nebenwirkungen so heftige Aversionen bei den jungen Patienten aus, dass viele sich beim Anblick gelber Gegenstände spontan übergeben.

In ihrem Buch "Das Patienten-Dilemma. Warum wir nicht die Medikamente bekommen, die wir brauchen", erschienen im Heyne Verlag, rollt die renommierte Wirtschaftsjournalistin Heide Neukirchen das Drama der weltweiten Medikamentenforschung auf: Während sich in Europa wenig Freiwillige für Arzneimittelstudien finden, leben in Indien und Afrika ganze Dorfgemeinschaften von nichts anderem. Die moralisch gebotene und rechtlich geforderte "informierte Zustimmung" der Probanden ist Makulatur bei Menschen, die nicht lesen und schreiben und die Tragweite ihrer Entscheidung gar nicht überblicken können. Ein anderes Problem: Aufgrund der hohen Standards sind Prüfsubstanzen für Medikamentenstudien inzwischen so kostbar wie Edelsteine. Gehen einer Firma Prüfsubstanz und Geld aus, bleibt die Weiterentwicklung einer Arznei auf der Strecke – wie häufig das vorkommt, verzeichnet keine Statistik, moniert die Autorin. Die immensen Investitionskosten führen dazu, dass nur noch Global Player im Rennen sind. Sie haben es auf Blockbuster-Medikamente abgesehen, die am Markt Milliarden einspielen – kleine und innovative Firmen, seltene Krankheitsbilder bleiben außen vor. Bei ihren Recherchen hat Heide Neukirchen in der Pharmabranche viele Ärzte und Forscher getroffen, die sich lange Arbeitstage aus edelsten Motiven zumuten – sie wollen kranken Menschen helfen. Trotzdem schielen ihre Chefs über Gebühr auf Börse und Aktienkurse, kritisiert die Autorin. Auch handfester Betrug spiele eine Rolle: Da werden Statistiken geschönt, Patienten erfunden und Briefkastenfirmen täuschen Krankenhäuser vor.

Heide Neukirchen kennt ihre Quellen, die sie im Anhang neben einem Glossar ausführlich auflistet. Und sie war persönlich vor Ort, suchte das Gespräch mit Ärzten, Forschern und Behördenmitarbeitern, reiste nach Indien und China und nahm an einer mehrwöchigen Medikamentenstudie teil. Ein spannender Blick hinter die Kulissen ist ihr gelungen, auch wenn das Buch bisweilen vom schieren Durcheinander des Themas erdrückt zu werden scheint. Gleichzeitig bleiben wichtige Themen unbeachtet: so der ausufernde Patentschutz in der Pharmabranche oder die vielen Scheininnovationen.

Das absolut sichere Medikament sei eine Illusion, resümiert die Autorin am Ende. Wären wir etwas risikobereiter, könnten sich Arzneien drastisch verbilligen. Vor allem aber müsse die Bürokratie verschlankt werden – damit es am Ende nicht heiße: "Operation gelungen, Patient tot."

Rezensiert von Susanne Billig

Heide Neukirchen: Das Patienten-Dilemma
Warum wir nicht die Medikamente bekommen, die wir brauchen
Heyne Verlag 2009
256 Seiten, 17,95 Euro