Über die Vergänglichkeit der Macht

Von Rolf Schneider |
Der österreichische Sozialistenchef Otto Bauer, er starb 1938, war ein hochintelligenter Kopf. Er war ein begnadeter Redner und ein integrer Mensch. Einen Fehler freilich hatte er: Allen Zeugnissen zufolge besaß er, im Unterschied zu seinen politischen Gegnern, überhaupt kein Verhältnis zur Macht.
Ganz richtig saßen er und seine Partei die gesamte Erste Republik Österreich hindurch in der Opposition, dieweil die christlich-sozialen Bundeskanzler Seipel, Dollfuß und Schuschnigg das Land erst in die Krise, dann in den Untergang führten. Sie verfügten über den für ihr Amt erforderlichen Zynismus, über die nötige Härte und Skrupellosigkeit. Dergleichen scheint unabdingbare Voraussetzung für das Erlangen und den Erhalt von politischer Macht.

Die nun bedeutet, nach einer Definition des Soziologen Max Weber, ‚"jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“. Die Erklärung ist eher formaler Art. Sie benennt ein ungleichgewichtiges Verhältnis zwischen Personen oder Personengruppen, Machtfülle auf der einen Seite ist nicht denkbar ohne relative Ohnmacht auf der anderen. Macht, behauptet das Lexikon, stehe in intimem Zusammenhang mit Gewalt. Und Machtverhältnisse seien umso robuster, je raffiniertere Formen der Gewalt sie annähmen. Sei es in primitiven und archaischen Gesellschaften vor allem die physische Stärke, welche Macht verleiht, träten bei modernen Ordnungen Besitz, Ämter, Wissen, Einfluss und geschickte Menschenführung in den Vordergrund.

Die Sonntagsreden unserer Politiker enthalten regelmäßig die Behauptung, man benötige Macht nicht um ihrer selbst willen, sondern um zu gestalten, außerdem sei sie in der Demokratie immer bloß geliehen und dies auf Zeit. Der zweiten Feststellung ist in etwa beizupflichten. Macht ist bei uns kein Erbbesitz, wofür etwa die Familie von Franz Josef Strauß ein schönes Beispiel gibt. Freilich gilt dies ausdrücklich nur für Wahlämter. Daneben existiert die wirtschaftliche Macht, die durchaus Erbbesitz ist oder sein kann, und die beinhaltet immer auch politische Macht. Die durch Franz Müntefering los getretene Kapitalismusdebatte handelt unter anderem davon.

Was aber die Gestaltungsmöglichkeiten anlangt, sei daran erinnert, dass sie allein durch den bei uns obwaltenden Föderalismus beträchtliche Einschränkungen erfahren.

Nehmen wir nur die Gewalt. Laut Grundgesetz ist sie Monopol des Staates, administrierbar durch das Bundeskabinett. Doch schon die Polizeigewalt untersteht wesentlich den Regierungen der einzelnen Bundesländer, die zwar auch Staat sind, aber auf anderer Ebene. Der von uns gepflegte Föderalismus wirkt hinein in Gesetzgebung, in Wirtschafts- und Bildungspolitik, wobei es zu Gegensätzen kommen kann, die unauflöslich sind und eine Gestaltung verhindern. Die beiden Kammern unseres Parlaments können sich wechselseitig blockieren, wie gegenwärtig zu beobachten.

Zusätzliche Einschränkungen erfolgen durch das Wirken des Bundesverfassungsgerichts. Außerdem werden Regierungskompetenzen eingeschränkt oder nichtig durch die Beschlüsse und Vorschriften der EU-Kommission in Brüssel. Man sieht: Mit der Gestaltungsmöglichkeit der Politik ist es so weit nicht her. Die Macht ist in Wahrheit eigentlich keine. Sie ist ein Fetisch oder, mit dem französischen Soziologen Jean Baudrillard, ein bloß symbolischer Dingwert, eine Simulation.

Wieso drängen sich aber so viele Menschen nach ihr? Die Antwort lautet, dass selbst ein symbolischer Dingwert besser ist als gar nichts. Wer über ausreichenden Zynismus, über genügend Härte und Skrupellosigkeit verfügt, möchte sie auch ausleben, was soll er sonst damit. Hinzu kommt, dass es befriedigend ist, über einen oder mehrere Konkurrenten zu obsiegen. Anschließend bezieht man ein passables Einkommen. Man kann Verbindungen knüpfen, die ökonomisch profitabel werden. Man hat ein Apparat, einen Dienstwagen, ein Dienstflugzeug. Man ist umgeben von Assistenten, Beratern, Redenschreibern und Zuarbeitern von vielerlei Art. Man ist umgeben von Schranzen. Man kommt unentwegt in den Medien vor. Man reist viel herum und wird hofiert, auch international. Dies alles stärkt das Selbstwertgefühl. Macht, wie simuliert immer, ist jedenfalls gut für das Ego.

Leute, die solche Macht besaßen und wieder verloren, berichten von Entzugserscheinungen. Die kürzlich abgetretene Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Heide Simonis, ist deutlich davon gezeichnet. Andere nennen Macht eine Droge. Sie wissen gar nicht, wie wahrhaftig ihre Aussage ist: Drogen erzeugen künstliche Paradiese, doch ihr Genuss ruiniert Körper und Geist.

Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen „groben Verstoßes gegen das Statut“ wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. „November“, „Volk ohne Trauer“ und „Die Sprache des Geldes“. Rolf Schneider schreibt