Über die transformative Hermeneutik der Quantenschwerkraft

Von Markus Metz und Georg Seeßlen · 16.09.2009
Gern wird, wenn man im öffentlichen Diskurs besonders zwingend argumentieren möchte, auf die unabweisbaren Tatsachen und Denkfiguren der Naturwissenschaften zurückgegriffen. So werden auch immer wieder gern die "Quantensprünge" genutzt, die - unbeschadet der Tatsache, dass sie in der Physik extrem kleine Sprünge beschreiben – gern für "gewaltige Veränderungen" herangezogen werden.
Aus dem Unmut darüber naturwissenschaftliche Konzepte als Argumentationsvehikel in anderen Disziplinen zu nutzen, ist eine der berühmtesten Wissenschaftsparodien entstanden.


Kapitel eins: Vom Grubenhund gebissen oder Zivilingenieuren widerspricht man nicht.

Am 21. Februar 1908 ging bei der Wiener Zeitung "Neue Freie Presse" ein Leserbrief ein. Darin schilderte ein gewisser "Zivilingenieur J. Berdach" seine bemerkenswerte Beobachtung eines Erdbebenphänomens. Am nächsten Tag veröffentlichte die Zeitung den Leserbrief.

"Während der Lektüre ihres geschätzten Blattes verspürte ich ein plötzliches Zittern in der Hand. Meine Ahnung bestätigte sich aber in einer Weise, die von meinen Beobachtungen seismischer Tatsachen in Bolivia durchaus abwich. Während ich nämlich sonst ein Abschwenken der Nadel nach Westsüdwest wahrnehmen konnte, war diesmal in unzweideutiger Weise eine Tendenz nach Südsüdost feststellbar. Allem Anscheine nach handelte es sich hier um ein sogenanntes tellurisches Erdbeben (im engeren Sinne), das von den kosmischen Beben (im weiteren Sinne) wesentlich verschieden ist."

Wer tatsächlich hinter dem "Zivilingenieur Berdach" steckte, klärte die Zeitschrift "Die Fackel" in ihrer nächsten Ausgabe: niemand anderes als Herausgeber Karl Kraus selber, der sich nicht nur über die verbreitete Wissenschaftsgläubigkeit lustig machte, sondern der so auch den "Neue Freie Presse"-Chefredakteur Moritz Benedikt düpierte, der auch nur die Erwähnung des Namens Karl Kraus in seinem Blatt untersagt hatte.

Karl Kraus konnte im Übrigen beweisen, dass die Redakteure den Unfug nicht etwa unachtsam und ungelesen ins Blatt gerückt hatten. Sie hatten den Brief nämlich kräftig bearbeitet, aus dem wiederholten "Erdbeben" ein "Beben" gemacht und die etwas unziemlichen "Stöße", die Berdachs Frau verspürt hatte, in neutralere "Erschütterungen" verwandelt. Auf Karl Kraus sollte bald eine ganze Reihe von pseudowissenschaftlichen Briefen und Artikeln folgen.

"Nach zirka 55 Sekunden erfolgte ein weit heftigerer Stoß, der eine Verschiebung des Hochdruckzylinders an der Dynamomaschine bedingte, und zwar derart heftig, dass die Spannung im Transformator auf 4,7 Atmosphären zurückging, wodurch zwei Schaufeln der Parson-Turbine starke Deformationen aufwiesen und sofort durch Stellringe ausgewechselt werden mussten","

berichtete ein "Dr. Ing. Erich Ritter von Winkler, Assistent der Zentralversuchsanstalt der Ostrau-Karwiner Kohlenbergwerke" 1911 in einem Leserbrief in der "Neuen Freien Presse" über gefährliche Spannungsschwankungen im Kompressorraum der Versuchsanstalt.

""Völlig unerklärlich ist jedoch die Erscheinung, dass mein im Laboratorium schlafender Grubenhund schon eine halbe Stunde vor Beginn des Bebens auffallende Zeichen größter Unruhe gab."

Mit dem Abdruck des Leserbriefs machte die "Neue Freie Presse" den "Grubenhund" zum geflügelten Wort. Eigentlich nichts anderes als eine unschuldige Bergwerkslore, wurde der Grubenhund zum Inbegriff aller parodistischen Angriffe auf Wissenschaftsgläubigkeit, Titelhuberei sowie Zahlen- und Begriffsfetischismus. Hinter dem "Ritter von Winkler" steckte diesmal nicht Karl Kraus, sondern der Unternehmer Arthur Schütz. Da er in den kommenden Jahren noch mehrfach zuschlug, kann man Arthur Schütz wohl als Vater der modernen Wissenschaftsparodie bezeichnen.

"Hat Berdach die Neue Freie Presse mit Ruten gepeitscht, so züchtigt Winkler sie mit Skorpionen. Die Wirkungen des Bebens im Ostrauer Kohlenrevier sind verheerend. Das Problem der Intelligenz und damit des Journalismus ist aufgeführt, der Offenbarungsglaube des gedruckten Wortes ist erschüttert","

frohlockte Karl Kraus und beschrieb nebenbei ein Kriterium für die gelungene Wissenschaftsparodie: Die Lüge muss gedruckt werden.


Exkurs: Wissenschaftsgläubigkeit

Es ist wahrscheinlich eine der größten Paradoxien der Moderne, dass wir gelernt haben, an die Wissenschaft zu glauben. Wir benutzen sie weniger als Instrument, sondern wir glauben an sie, etwa wie wir vordem an Götter oder Orakel geglaubt haben. Die Wissenschaftler selbst empfinden diesen Glauben, der eifrig von oben nach unten vermittelt wird, durchaus als nützlich. Schließlich verleiht er ihnen einen Status von Erhabenheit und Unantastbarkeit, ganz zu schweigen vom gesicherten Einkommen. Eine fundamentale Wissenschaftskritik wäre freilich genauso paradox, wir müssten auf jegliche Erkenntnis und jeden Fortschritt verzichten. Also bleiben kleine Korrekturen, Nadelstiche der Aufklärung und Selbstaufklärung – zum Beispiel Wissenschaftsparodien. Beate Müller, Germanistin an der Universität Newcastle:

""Die Wissenschaftsparodie ist eine Form der Parodie, die sich gegen die Wissenschaft oder wissenschaftliche Gepflogenheiten, wissenschaftliche Schulen, Richtungen wendet. Unter Parodie im Allgemeinen versteht man einen Text, einen Film oder auch ein Gemälde, der oder das sich intertextuell auf eine Vorlage bezieht und die Vorlage nachahmt, vor allem prägnante, typische Merkmale imitiert, aber auch karikiert, übersteigert, verzerrt und dadurch auch Komik herstellt, aber auch selbst textimmanent komisch sein kann."

Wissenschaftsparodien machen mal einen Wissenschaftler unmöglich, mal eine wissenschaftliche Methode oder einen wissenschaftlichen Jargon. Insgesamt aber machen Parodien die Wissenschaft menschlicher und demokratischer. Denn parodiert wird nie allein die Wissenschaft und ihr Apparat – parodiert wird immer auch unsere Bereitschaft, so ziemlich jeden Blödsinn zu glauben, wenn er nur wissenschaftlich daher kommt.


Kapitel zwei: Das Germknödelparadigma oder Die Wonnen der Indikatoren-Reduktion

Eine Stadt stellt eine große, schwer zu ordnende Ansammlung von wissenschaftlichen Problemen voller Indikatoren dar. Eine ordentliche Wissenschaft reduziert die Indikatoren soweit, dass sie optimal auf die jeweilige Fragestellung passen. Man kann es natürlich auch übertreiben.

"Das Telos sozialökologischer Forschung wird jedoch erst dann als erreicht angesehen, wenn es gelingt, Aussagen zu formulieren, deren unverminderte Erklärungskraft nicht mehr durch den referentiellen Bezug auf überhaupt irgendeinen Indikator getrübt sind. Der Bedeutungsgehalt dieses nur scheinbar einfachen Satzes kann an folgender jede mathematische Axiomatik sprengenden Formel ermessen werden: Vorausgesetzt ist i ungleich k Epsilon N, wobei gilt: i,k: Anzahl der Indikatoren und X: Erklärungskraft, sodann gilt i=x und k = x."

Mit dieser klaren Aussage endet "Das Germknödelparadigma", eine aufsehenerregende soziologische Studie über Struktur und Dynamik der Stadt Wien – und zwar anhand eines einzigen, so signifikanten wie wohlschmeckenden Indikators: des Germknödels, den man außerhalb des böhmisch-österreichisch-bayrischen Raumes höchst unzureichend als mit Pflaumenmus gefüllte Mehlspeise beschreiben kann. Mitautor Bernd Halfar, heute Professor für Sozialpolitik an der Katholischen Universität Eichstätt:

"Ich vermute, die Grenze wurde da überschritten, wo wir die Mehrfaktoren-Modelle eingesetzt haben, die damals in der Sozialwissenschaft sehr modern waren, dass man mit einem riesigem Rechenaufwand – mit Regressionsanalysen, Faktoranalysen, hohen mathematischen Modellen – versucht hat, soziale Wirklichkeit und deren Komplexität einzufangen. Das war damals nicht die Entdeckung der empirischen Soziologie, aber das war ein gewisser Höhepunkt. Man hat sich an Rechenmodellen berauscht, dann gab es Schritt um Schritt den Weg, diese Komplexität zu reduzieren und den Informationsgehalt einzelner Indikatoren zu steigern. Die Grenze war überschritten, als wir mit einem und zugegeben völlig blödsinnigen Indikator kamen und aus Versehen eine relative gute Erklärungskraft zumindest für eine österreichische Stadt hatten. Insofern gab es auch Resonanz bei den Kollegen: auf einmal war unser universitärer Postkasten voll mit Antworten, mit Kritiken, mit weiter treibenden Modellen und Theorien."

Zweite Bedingung für eine gelungene Wissenschaftsparodie: Sie muss sich von selber fortpflanzen, Widerspruch und Nachahmer finden. Den Nerv, den die Wissenschaftsparodie frei gelegt hat, wollen auch noch andere reizen.


Exkurs: Wissenschaft hat Methode

Wie alle Sinn-Systeme ist auch die Wissenschaft Veränderungen, Erneuerungen und Moden unterworfen. Auch hier begegnen sich konservative und avantgardistische Strömungen: Fundamentalisten und Überflieger, Geradeaus- und Querdenker, Buchhalter des Wissens und Phantasten. Wissenschaftsparodien sind eine von vielen Methoden, eine gewisse Balance zu bewahren.

Beate Müller: "Man kann sagen, dass Wissenschaftsparodien häufig eher konservative Retourkutschen auf die jeweils herrschende methodische Avantgarde darstellen, wohingegen Literaturparodien häufig das Kanonisierte, als überaltert Wahrgenommene dem Spott preisgeben. Und von daher ist der Wissenschaftsparodie vielleicht schon zu unterstellen, dass sie ein Indiz ist für eine provozierte Wissenschaft, aber selber nicht wirklich impulsgebend sein kann, denn dafür muss man originell arbeiten und das tut die Parodie nicht."

Das heißt nicht, dass es keine originellen Wissenschaftsparodien geben würde, vielmehr muss die Parodie auf Gegebenes reagieren. Die Parodie fügt der Wissenschaft nichts hinzu, sie nimmt ihr eher etwas weg: den falschen Glanz, den hohen Anspruch, vielleicht ein bisschen Selbstsicherheit. Erneuern muss sich die Wissenschaft dann freilich selbst.


Kapitel drei: Vom Liebesleben der Petrophaga

Nichts geht über den Triumph wissenschaftlicher Genauigkeit. Außer vielleicht der Entdeckung eines neuen naturwissenschaftlichen Phänomens oder einer unbekannten Spezies, die ein berühmter Professor dem staunenden Fernsehpublikum vorstellt.

Von 1983 bis 1993 war die Steinlaus unter ihrem wissenschaftlichen Namen "Petrophaga lorioti" im medizinischen Nachschlagewerk "Pschyrembel" aufgeführt. Zwischendurch entfernte man den Eintrag, den man als parodistischen Humbug erkannt zu haben glaubte. Doch die Nutzer des Nachschlagewerkes hatten das possierliche Tierchen bereits so in ihr Herz geschlossen, dass es auf ihr Drängen wieder seinen Platz im Pschyrembel erhielt. Während etwa der Deutsche Krankenkassenverband vor einer besorgniserregenden Ausbreitung der Petrophaga in Deutschland warnt, hat man hier längst den medizinischen und ökologischen Nutzen erkannt:

"Suspensionen von Petrophaga lorioti minor lassen sich viel einfacher und gezielter applizieren, um beispielsweise Sklerosen zu behandeln. Auch wird erwogen, Populationen von Petrophaga lorioti minor in Form eines Slurry als Ersatz für EDTA einzusetzen, da bekanntermaßen EDTA auch Schwermetalle bindet."

Das Schöne an einem erfundenen Forschungsgegenstand ist, dass er sehr rasch ein Eigenleben zu entwickeln beginnt, manchmal als parodistische Fortzeugung, manchmal als Ernst genommenes wissenschaftliches Phänomen. Aber was sind erfundene Forschungsobjekte im Vergleich zur Erfindung ganzer wissenschaftlicher Einrichtungen? Die "Universität von Muri" etwa hatte viel zu bieten, allerdings einen kleinen Nachteil. Sie existiert nur in den Köpfen zweier vergnügter Intellektueller, Gershom Scholem und Walter Benjamin, denen der Wissenschaftsbetrieb gehörig auf die Nerven ging. Da kann nicht ausbleiben, dass sporadisch Schriftstücke aus der "Acta Universitaris Muriensis" wiederentdeckt werden, etwa zum Beleg der 1976 in der "Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte" erstmals aufgetauchten und in der Fachwelt eifrig diskutierten "Kustoden-Theorie". Die Germanisten Christian Wagenknecht und Ernst Peter Wieckenberg weisen darin eine Geheimschrift nach, verborgen in den bis Ende des 18. Jahrhunderts ans Ende jeder Buchseite gestellten ersten Wörter der folgenden Seite, die dem Buchbinder wie dem Leser den Übergang erleichtern sollten.

"Die beiden Verfasser sind unabhängig voneinander und beim Studium ganz verschiedener Werke (Stielers Geharnschte Venus, Grimmelshausens Wunderbarliches Vogel-Nest) auf das auch ihnen bis dahin völlig unbekannte Phänomen der Kustodensprache gestoßen. Obwohl schon die ersten Funde kaum eine andere Erklärung erlaubten als eben die, dass hier ein buchtechnischer Behelf, ohne die Funktion noch aufzugeben als Träger gezielter Information benutzt worden ist, haben wir diese unsere Entdeckung über Wochen hin mit eben demselben Misstrauen behandelt, das auch der Leser unseres Berichts ihr anfänglich entgegenbringen wird..."

Die Leserinnen und Leser der "Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte" haben sich im Übrigen nie beschwert – weder über den wissenschaftlichen Gegenstand der Kustodensprache, über seine merkwürdige Behandlung noch über die noch merkwürdigere Quellenlage. Und da sich auch die Redaktion nie geäußert hat, wird es ein ewiges Rätsel bleiben, wer bei dieser gelungenen Wissenschaftsparodie Opfer, Komplize oder lachender Dritter ist.


Exkurs: Ordnungen und Organisationen

Man kann Wissenschaft als eine Methode der Erkenntnis ansehen, die aus sich selber heraus komisch werden kann, wenn Alleinvertretungsanspruch und Isolation dazu führen, dass Methodik, Organisation und Sprache ihre Bodenhaftung verlieren. Wissenschaft ist aber auch eine symbolische Ordnung, die für viele in den Denk-, Forschungs- und Lehrbetrieben einen Wert an sich darstellt. Dann geht es nicht mehr um einen wissenschaftlichen Beweis, sondern um den Beweis der Wissenschaftlichkeit. Wissenschaft, die sich selbst genügt, ist ein perfektes Einfallstor für die Wissenschaftsparodie. Bernd Halfar, Professor für Sozialpolitik:

"Ich vermute, dass in der Volkswirtschaftslehre, in Physik und anderen Naturwissenschaften die Leute sind, die am meisten Spaß an formalen Modellen haben. In der Volkswirtschaftslehre regt man sich als Forscher am wenigsten auf, wenn man einen geringen Wirklichkeitsbezug hat, aber ein wunderbar rennendes Modell, das funktioniert mit schönen Gleichgewichtszuständen unter ceteris paribus-Annahmen, die mit Wirklichkeit erstmal nicht kontaminiert sind. Diese Freude an komplizierten theoretischen Modellbildungen, an Simulationen unabhängig vom Gegenstand macht einen natürlich anfällig für Themen-neutrale oder -ferne Forschung. Das ist in der Naturwissenschaft in vielen Fällen auch so, insofern sind die praktischen Wissenschaften, die Probleme lösen wollen, da natürlich nicht überrepräsentiert. Das sind Leute, die viel Freude am wissenschaftlichen Tun als solchem haben, ohne unbedingt ein Problem lösen zu wollen."

Wissenschaft ist nicht nur eine symbolische Ordnung, die über die Welt und ihre Zumutungen gelegt wird. Sie ist auch eine innere Ordnung mit klaren oder eben doch nicht ganz so klaren hierarchischen Abgrenzungen und abgesteckten Terrains: hier harte, dort weiche Wissenschaft. Hier Empirie, dort Spekulation. Hier kritische Theorie, dort Statistik, Modell und Formel. Wenn die verschiedenen Segmente der Wissenschaftlichkeit einander ins Gehege kommen, gibt es Konflikte. Und im besten Fall eine Wissenschaftsparodie.


Kapitel vier: Auf dem Weg zur transformativen Hermeneutik der Quantengravität oder Anything Goes in Science

Im Sommer 1996 übersandte Alan Sokal, Professor für Physik an der New York University, der renommierten Zeitschrift "Social Text" einen Aufsatz mit dem viel versprechenden Titel "Die Grenzen überschreiten. Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravität".

Sokals Aufsatz stellte auf 35 Seiten, mit 109 Fußnoten und einer beeindruckenden Bibliographie von Adams bis Zizek, Gedanken wie diesen zur Diskussion:

"Mathematisch ausgedrückt, bezieht sich Derridas Beobachtung auf die Invarianz der Einsteinschen Feldgleichung G(mü)v = 8 (Pi) GT (mü) v unter nichtlinearen Raum-Zeit-Diffeomorphismen (Selbstabbildung der Raum-Zeit-Vielfachen, die unendlich differenzierbar, aber nicht unbedingt analytisch sind). Der springende Punkt ist, dass diese Invarianzgruppe ‚transitiv agiert’; dies bedeutet, dass jeder Raum-Zeit-Punkt, sofern er überhaupt existiert, in jeden anderen umgewandelt werden kann. Auf diese Weise höhlt die unendlich dimensionale Invarianzgruppe die Unterscheidung zwischen Beobachter und Beobachtetem auf."

Wer würde es wagen, solcher Argumentation zu widersprechen? Wer würde gar forsch behaupten, es handele sich um schieren Blödsinn? Die Redakteure von "Social Text" jedenfalls nicht. Nach Abdruck seiner Parodie konnte Alan Sokal den ihm verhassten Jargon für erledigt erklären, mit dessen Hilfe sich Geisteswissenschaftler unwiderlegbar machen: indem sie naturwissenschaftliche Analogien verwenden, die weder sie selbst noch ihre Leser durchschauen.

Beate Müller: "Man kann die Sokal-Affäre auch im Zusammenhang der Two Cultures, der Auseinandersetzung zwischen den zwei Kulturen Natur- und Geisteswissenschaften sehen, die C.P. Snow schon 1963 angeprangert hat: in einer Rede in New York hat er den Geisteswissenschaftlern vorgeworfen, sie hätten keine Ahnung von Naturwissenschaften, seien gleichzeitig den Naturwissenschaftlern gegenüber aber sehr arrogant. Und andererseits hat er den Naturwissenschaftlern vorgeworfen, keine Ahnung von Kultur- und Geisteswissenschaften zu haben. Diese Two Cultures spiegeln sich in der Sokal-Affäre insofern, als es in den 80er- und 90er-Jahren in den Geisteswissenschaften modern war, sich naturwissenschaftliche Konzepte anzueignen, um eine geisteswissenschaftliche Analyse, ein kulturkritisches Argument zu formulieren."


Exkurs: Die zwei Kulturen und die Postmoderne

Charles Percy Snow, Physiker, Schriftsteller und Politiker, vertrat in seiner berühmten Vorlesung "Die zwei Kulturen und die wissenschaftliche Revolution" die These, Geisteswissenschaft und Literatur auf der einen, Naturwissenschaft und Technik auf der anderen Seite würden sich immer weiter auseinander entwickeln: in ihrer Denkweise, der Sprache, der Anschauung der Welt, der politischen Philosophie. Diese wachsende Kluft werde am Ende dazu führen, dass sich Mitglieder der einen Kultur mit denen der anderen einfach nicht mehr verständigen können. Für Snow stellte dieser Bruch das entscheidende Problem dar bei der Lösung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme der Welt. Dabei übersah Snow freilich, dass beide Kulturen, so wenig sie sich gegenseitig auch vertragen mochten, in etwa gleich weit entfernt von dem waren, was man so "das wirkliche Leben" nennt. Beide Kulturen waren gleichermaßen entrückt, unheimlich und komisch. Jede gelungene Wissenschaftsparodie ist dann auch die Bearbeitung einer paradoxen Situation: eine demokratisierte Wissenschaft sollte eigentlich für alle da sein, aber niemand versteht sie.

Bernd Halfar: "Vermutlich hat eine Entwicklung stattgefunden, dass die Wissenschaft, obwohl sie niemand mehr versteht, obwohl niemand mehr die Methoden und theoretischen Annahmen nachvollziehen kann, weil sie einfach zu speziell geworden ist – und trotzdem ist sie demokratisiert. Demokratisiert in dem Sinne, dass Versatzstücke, einzelne Theoreme in die Welt gewandert sind, ohne Schrecken zu verbreiten und zu unserem lieben Gut geworden sind. Sie können heute als Fußballer getrost einen Elfmeter verschießen und psychoanalytisch drauf hinweisen, dass bei Ihnen irgendetwas los war. Das ganze Versagen und Nicht-Treffen, das früher nicht verwissenschaftlicht wurde – da ist völlig klar, da darf man wissenschaftlichen Kategorien bilden. Insofern ist die Integration wissenschaftlicher Teile in die Alltagskommunikation ein Hinweis auf eine Demokratisierung – und insofern glaube ich ist es auch von der Herrschaftsposition her unkompliziert geworden."

Dem musste schließlich auch die Wissenschaft selber Rechnung tragen. 1995 erschien das Buch "Die dritte Kultur" von John Brockman. Dieser verwirft darin C.P. Snows These von den zwei Kulturen und entwirft stattdessen eine "Dritte Kultur", die mit pragmatischen Lösungen, populärer Sprache und befreit von empirischen Zwängen die Elfenbeintürme verlasse. Die Vertreter dieser "dritten Kultur" mussten ihrem Wesen nach postmodern sein, auch wenn keineswegs alle ihre Vertreter den Begriff für sich gelten lassen wollen – das heißt zugleich bezogen auf eine Hegelsche Realphilosophie, die sich auf direkte Anschauung bezieht, und auf die mediale Vielfalt der Vermittlung.

Wenn wir nun drei statt zwei Kulturen haben, macht das die Sache zwar dynamischer, aber auch komplizierter. Mit jeder Differenzierung wächst die Anzahl der Wissenschaftler, die einerseits ihren Kollegen und andererseits dem Rest der Welt vorhalten, dass sie keine Ahnung haben. Von Diskursanalyse, einer anständigen Indikatoren-Reduktion oder Quantenphysik. Komisch ist das allemal.

Der Anschein der Wissenschaftlichkeit triumphiert bis heute in einem Maße über die Kritik und Selbstkritik, dass man gleichsam immer wieder willentlich darauf hereinfällt – ganz so, wie man bei anderen Sinn-Systemen das Widersinnigste akzeptiert, wenn es nur "gut tut". So steht zu vermuten, dass wir weiterhin auf jeden Grubenhund, jedes Germknödelparadigma, jede transformative Hermeneutik hereinfallen – vorausgesetzt die Sache passt in unser Weltbild, schmeichelt uns oder kommt in einer beeindruckenden Ausdrucksweise daher. Die Wissenschaftsparodie musste früher den mühsamen Weg zum Gedruckten nehmen, um als gelungen zu gelten. Im digitalen Zeitalter scheint trotz Hochleistungsrechnern, Web 2.0 und "Schwarmintelligenz" der Nachweis, ob es sich um Wissenschaft oder Blödsinn, Parodie oder Fälschung oder eine Mischung von alledem handelt, nicht leichter zu führen zu sein. Weder am heimischen Computer noch in den geheimnisvollen Labyrinthen der Gelehrsamkeit, in unseren Universitäten.

Bernd Halfar: "Wahrscheinlich funktioniert es in dem geheimnisvollen Raum nur durch extreme Übertreibung. Ein berühmtes Beispiel ist die Auswirkung von Erdnussbutter auf die Erdrotation, das ist wahrscheinlich für jeden ein schwer zu glaubender Zusammenhang. Sie kommen in Bereiche, die Sie nicht mehr als satirisch dekodieren können. Sie müssen etwa einfach in eine normale deutsche Hochschule gehen und sich am Schwarzen Brett die Prüfungsaufgaben oder die Einladungen zu Vorträgen ansehen. "Haben maltesische Dialekte ein rollendes R?" Wenn Sie dann in einen Hörsaal gehen, werden sie jemand finden, der dieses Thema vorträgt, der seit Jahren darüber arbeitet und publiziert hat. Für den einen ist das überhaupt nicht parodistisch, überhaupt nicht lustig, aber jemand, der etwas weiter davon weg ist, hat möglicherweise Spaß allein an der Themenstellung."
Der utopische Punkt scheint in greifbarer Nähe: Wissenschaft muss nicht mehr parodiert werden. Sie parodiert sich selbst. Unter anderem deswegen, weil es in der realen Welt so viele Probleme gibt, die die Wissenschaft lieber gar nicht erst sehen soll. Je mehr sie von Politik und Wirtschaft gegängelt wird, desto mehr sehen wir der Wissenschaft dabei zu, wie sie vor der Wirklichkeit zurückschreckt, wie sie sich Nischen und Selbstreferenzen sucht. Wie sie, mit einem Wort, komisch wird.