Über die Schönheit der Mathematik

06.01.2008
Georg Cantor schuf nicht nur die Mengenlehre, er befasste sich auch mit dem Unendlichen. Der Schriftsteller David Foster Wallace hat sich mit dem Leben und Schaffen des berühmten Mathematikers befasst und ein Buch vorgelegt, das auf die verborgene Schönheit dieser Wissenschaft aufmerksam macht.
Die Reihe "Great Discoveries", ein ambitioniertes Projekt der Verlage Atlas Books / W.W.Norton, startete im Oktober 2003 und folgte der Philosophie, prominente Prosaautoren über herausragende Gestalten der Wissenschaftsgeschichte schreiben zu lassen. Inzwischen sind mehrere Bücher aus dieser Reihe im Deutschen erschienen, so von Rebecca Goldstein ein Buch über das Genie Kurt Gödel – ein prägender Mathematiker des 20. Jahrhunderts - und ein Buch von Sherwin B. Nuland über den Arzt Ignaz Semmelweis. Aber das Buch, das 2003 den Auftakt bildete und für das ein Autor mit Kultstatus gewonnen werden konnte, kam erst jetzt, knapp vier Jahre später auf den deutschen Buchmarkt.

David Foster Wallace gehört zu den prominentesten Vertretern der jüngeren amerikanischen Autorengeneration, er wird als großer Stilist gerühmt. Die ungewöhnliche Paarung, ein namhafter Prosaschreiber trifft auf Georg Cantor - einen großen Mathematiker des 19. Jahrhunderts - und die Geschichte vom Unendlichen, sichert Aufmerksamkeit und Neugier. Sie dürfte noch größer werden wenn man erfährt, dass der englische Titel "Everything and More – A Compact History of ∞" lautet, der näher bei der Wahrheit liegt als der biografisch orientierende Titel "Georg Cantor". Denn keine Lebensgeschichte hat Wallace in erster Linie geschrieben, die ihm erlaubt hätten seine Stärken leichter einzusetzen; stattdessen ein populärwissenschaftliches Mathematikbuch über einen höchst verwickelten Gegenstand.

Das Ergebnis ist erstaunlich. Wallace hält nichts von groben Vereinfachungen, in denen sich die mainstreamartige Suche nach effektvollen Aha-Erlebnissen spiegelt. Seinen Anspruch, die Mathematik in ihrer Schönheit zu zeigen, nimmt er so ernst, dass er hin und wieder Gefahr läuft über die Köpfe seiner Leser hinweg zu schreiben. Womit auch gesagt ist, dass die Lektüre Zeit und auch ein gewisses Maß an Vorbildung erfordern um den Perioden Wallace’scher Tiefensuche folgen zu können. Dass er sich mit diesem Anspruch auch in der guten Gesellschaft eines Thomas Pynchon befindet, der in "Against The Day" ebenfalls Exkurse in die höhere Mathematik nicht scheute, verweist wohl darauf, dass ihre faszinierende Welt zu finden ist – wenn man sie nur sucht.

Wallace interessieren die Wahrnehmungen seiner Figuren, ihre Gedanken, die Funktion des Gehirns. All das bleibt auch richtig, wenn es um die Mathematik geht, in der sich das Denken in Reinkultur spiegelt. Die Geschichte des Unendlichen ist eine Geschichte, die vom Menschen geschaffen wurde, denn nirgendwo in der Wirklichkeit gibt es das Unendliche. Selbst alle Atome unseres Universums bilden noch immer eine endliche Zahl. Also ist zu reden über Abstraktionen. Wallace führt uns ermutigend in diese Denkwelt ein, setzt das Unendliche als Gegensatz zur konkreten Welt, in der bedrückender Weise alles endet, alles begrenzt ist und dahingeht. Mit dem Unendlichen kann Gott gedacht werden.

Der saloppe Erzählstil, den Wallace pflegt, vermittelt den Eindruck, sich ganz außerhalb akademischer Erklärungswelten zu befinden, was allerdings nur zum Teil stimmt. Hin und wieder wird der Leser mit Abschnitten konfrontiert, die mit der Buchstabenfolge "FESI" bezeichnet sind, was heißen soll: Falls es sie interessiert. Wenn nicht, dann überblättern. Aber das Interesse allein reicht hier in den meisten Fällen nicht mehr aus.

Die Schönheit der Mathematik, die Wallace im Auge hat, verlangt ihren Preis. Das unendlich Kleine und das unendlich Große beschäftigten die Mathematiker seit der Antike. Oft wurde es von ihnen als verstörend empfunden, dann als Herausforderung. Wir lesen eine Geschichte des Unendlichen voller Paradoxien, die zu dem Genie Georg Cantor führt, den wir aus der Schule als Begründer der Mengenlehre kennen. Wir lernten und lernen wieder, dass es eine Menge der natürlichen Zahlen gibt, die unendlich ist. Aber was heißt das? 1845 wurde in Petersburg der Mathematiker geboren, der darauf eine Antwort geben konnte. Georg Cantor schuf in den ersten vierzig Jahren seines Lebens jene grundlegende Werke, die das abstrakte Unendliche, das wie ein Spuk in den Köpfen herumgeisterte, für das Denken fassbar und vergleichbar machte. David Foster Wallace scheut auf dem Weg zu dieser Erklärung keine Mühe – für sich nicht und für den Leser auch nicht.

Sein Buch ist ein junger unbekümmerter Gesang auf die verborgene Schönheit einer Widerspenstigen und scheinbar Unnahbaren – auf die Mathematik.

Rezensiert von Peter Kirsten

David Foster Wallace: Georg Cantor. Der Jahrhundertmathematiker und die Entdeckung des Unendlichen
Aus dem Amerikanischen von Helmut Reuter und Thorsten Schmidt
Piper Verlag 2007
416 Seiten, 22,90 Euro