Über die Macht der politischen Rede

Von Eberhard Straub |
Das alte Europa war eine Festgemeinschaft. Mit öffentlichen Freudenfesten - Turnieren, Opern, Triumphzügen, allegorischen Balletten und viel Musik - versicherten sich Herrscher und Untertanen der Grundlagen ihrer Ordnung, die Teil einer umfassenden göttlichen Weltordnung war.
Die Demokratien beruhen auf Abstraktionen, die sich nicht veranschaulichen lassen, sich jedoch in der Diskussion bewähren, um der Vernunft immer wieder zum Sieg zu verhelfen. Deshalb steht die Rede im Mittelpunkt demokratischer Festlichkeiten, zu denen vor allem Wahlkampfveranstaltungen gehören, die sich allmählich Volksfesten angleichen. Denn gerade in den Massendemokratien der nachbürgerlichen Zeit entwickelte sich eine Sehnsucht nach dem Fest, nach fröhlicher Gesinnungsgemeinschaft mit viel Jubel, Partystimmung und Heldenverehrung mit den Mitteln des Starkultes und des Showgeschäftes.

Der Trubel um Barack Obama unlängst in Berlin entsprach solchen Erwartungen. Der Senator kommt aus einem Land, in dem ähnlich wie in England auf der Schule und während des Studiums viel Zeit darauf verwendet wird, sich argumentierend, also redend, Anerkennung zu verschaffen. Deutsche lassen sich leicht von der rhetorischen Gewandtheit amerikanischer oder britischer Parlamentarier beeindrucken, die immer darauf achten, ihre Zuhörer zu unterhalten, um deren Aufmerksamkeit nicht zu verlieren.

Deutsche Studenten lesen und schreiben, Unbeholfenheit im mündlichen Ausdruck wurde nie als Makel empfunden, ja sie galt immer als beruhigender Hinweis darauf, authentisch oder ehrlich zu sein und nicht nach Effekten zu haschen. Große Redner machten sich leicht mangelnder Ernsthaftigkeit verdächtig, dem Volk nach dem Munde zu reden.

Die einzigen, die zuweilen nicht ganz auf jeden Redeschmuck verzichten konnten, waren Pfarrer und Professoren. Kanzel und Lehrkanzel prägten den Stil der öffentlichen Rede in Deutschland. Predigt und Vorlesung sind keineswegs immer gesellige Veranstaltungen. Pfarrer und Professoren können den Stolz, Recht zu haben und es besser zu wissen, nicht vermeiden. Sie wollen belehren und Doktrinen, ob theologische oder philosophische, vor jedem Einspruch oder Widerspruch schützen.

Deutsche Parlamentarier kannten nur Professoren und Pfarrer als Redner. Das deutsche Schauspiel bot wenige Vorbilder, weil nur Schiller große Reden seinen Helden in den Mund legte. Doch sein hohes Pathos galt bald als hohl und schwülstig.

Außerdem misstrauten deutsche Abgeordnete schon in wilhelminischer Zeit dem Parlamentarisieren, also der Debatte. Den Reichstag verstanden sie als Arbeitshaus. Gearbeitet wurde in den Ausschüssen. Plenarsitzungen galten als Zeitverschwendung. Dabei ist es bis heute geblieben. Die Abgeordneten wollen Handwerker und keine Mundwerker sein. Der schlimmste Vorwurf, den die Opposition gegen Gesetzesvorlagen des Regierungslagers richtet, lautet dementsprechend, handwerklich schlecht gearbeitet zu haben.

Verachtet mir die Meister nicht, das fordern die Abgeordneten mit Inbrunst im Herzen, und ehret ihre Kunst, als Geistesmechaniker sorgfältig Gesetze machen zu können wie weiland Hans Sachs zierliches und dennoch nützliches Schuhwerk. Handwerker misstrauen überflüssigen Worten.

Die deutschen Abgeordneten kommen oftmals aus der Verwaltung und arbeiten ihr zu. Der beste Staat ist der am besten verwaltete. Davon sind die Politiker genauso überzeugt wie der deutsche Bürger. Beide haben nur einen Traum: den vollkommenen Verwaltungsstaat, der jedem das Seine gibt und allen Sicherheit vor Willkür und Torheit.

In der unbestechlichen und korrekten Verwaltung wird nicht geredet, sondern geschrieben, zur Kenntnis genommen, abgeheftet und der Dienstweg beachtet. Das deutsche Ideal ist ein stummes Parlament, in dem mit meisterlichem Geschick an Gesetzen wie subtilen Laubsägearbeiten gebastelt wird. Frei nach Schiller ist dann die Devise: Feile Bastler, rede nicht. Die deutschen Abgeordneten halten sich konsequent an diese Aufforderung.

Es gibt keine Redner mehr im Bundestag und in den Landtagen. Sie werden auch nicht gebraucht, wenn sich das Parlament als Gesetzgebungsschmiede und nicht als politische Anstalt versteht. An der Entpolitisierung der Deutschen haben gerade dessen Vertreter erheblichen Anteil. Manchmal überkommt die Deutschen, wenn sie sich langweilen, dennoch ein Heimweh nach Politik, nach Sinnstiftung durch Gemütsergötzlichkeiten, denen Schiller und Beethoven offenbar für alle Zeit die festliche Richtung wiesen:

"Seid umschlungen ihr Millionen
Diesen Kuss der ganzen Welt"


Deutsche Gesetzgeber vermeiden als juristische Bauhäusler solche unsachlichen Üppigkeiten, mit denen Barak Obama in der Abendsonne spielte, in Berlin, dem Herzen Europas, wie ein Spanier sich begeisterte. Eine Sehnsucht nach Politik haben alle Europäer, gerade in diesem sehr deutschen Europa, das danach strebt, Politik durch Verwaltung und Gerichtsbarkeit zu ersetzen.

Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen unter anderem "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser", "Albert Ballin" und "Eine kleine Geschichte Preußens" sowie zuletzt "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit".