Über die Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs

Diese nächtliche Dimension

Die Schriftstellerin Nelly Sachs, aufgenommen am 24.10.1966 in ihrer Wohnung im schwedischen Stockholm, nachdem die Vergabe des Literaturnobelpreises an sie bekanntgegeben worden war.
Die Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs, aufgenommen im Jahr 1966 © imago / United Archives International
Von Vera Teichmann und Harald Krewer · 09.05.2020
Die Dichterin Nelly Sachs, 1891 in Berlin geboren und 1970 im schwedischen Exil gestorben, war eine Vertraute der Nacht. Erst wenn das Tagewerk getan und die Dunkelheit hereingebrochen war, konnte sie sich dem Schreiben widmen und die Bilder, die aus ihrem Inneren auftauchten, zu Worten formen.
Als Nelly Sachs im Mai 1940 mit dem letzten zivilen Flugzeug aus Berlin flieht, liegt mehr als die Hälfte ihres Lebens hinter ihr. Kindheit und Jugend hatte die Tochter assimilierter Juden in einer Villa mitten in der Stadt verbracht.
Die Nobelpreisträgerin ist auch insofern eine Ausnahmeerscheinung in der Literaturgeschichte, als dass sie den wichtigsten Teil ihres Werkes erst im reifen Alter schuf: Ihr Werk beginnt mit der Shoah. Die literarische Produktion vor der Flucht wollte Nelly Sachs nie wieder aufgelegt sehen.

Der unbekannte Geliebte

"Ich bin am 10. Dezember 1891 in Berlin geboren als Tochter von William Sachs und seiner Ehefrau Margarete, geborene Karger. Wir wohnten am Tiergarten. Ich ging in die private Töchterschule von Frau Professor Aubert in der Brückenallee. Da ich einziges Kind war, verlief meine Kindheit still. Es herrschte in unserem Haus eine künstlerische Atmosphäre; mein Vater war sehr vielseitig begabt, zudem ein erfolgreicher Erfinder, zum Beispiel für die Luftfahrt. Trotz des harmonischen Elternhauses war mein Leben durch ein eigenes Schicksal mit tiefer Tragik verknüpft, die auch eine Quelle meines Werkes geworden ist."
(Nelly Sachs anlässlich der Nobelpreisverleihung.
Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv)
Zeitgenössische Aufnahme der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf. Sie wurde am 20.11.1858 auf Gut Marbacka in Värmland geboren und starb ebenda am 16.3.1940. 1909 erhielt Selma Lagerlöf den Nobelpreis für Literatur.
Mit der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf tauschte Nelly Sachs sich aus© dpa / picture alliance
Auf ihr Leben fällt ein Schatten, als sich die 17-Jährige verliebt und diese Liebe unerfüllbar bleibt. Den Namen des Mannes sowie die näheren Umstände der Begegnung hat Nelly Sachs zeitlebens als Geheimnis bewahrt. Körperlich und seelisch geschwächt, verbringt sie einige Zeit in einem Sanatorium, und es ist ein Arzt, der ihr zum Schreiben rät.
Gedichte, Puppenspiele und Prosatexte entstehen; den Band "Legenden und Erzählungen" schickt Nelly Sachs an die von ihr verehrte Selma Lagerlöf, von deren Werken sie sich hatte inspirieren lassen. Die Nobelpreisträgerin antwortet wohlwollend und mit feiner Ironie: "Ich hätte es selber nicht besser machen können." Die Karte ist adressiert an "Nelly Sachs, Schriftstellerin", eine Bezeichnung, die für die jüngere Autorin nahezu einer Taufe gleichkommt.

Flucht nach Schweden

Über das "Leben unter Bedrohung" der letzten Berliner Jahre berichtet sie mit einigem zeitlichen Abstand in einem ihrer wenigen Prosatexte, zuerst veröffentlicht 1956 in Schweden:
"Zeit unter Diktat. Wer diktiert? Alle! Mit Ausnahme derer, die auf dem Rücken liegen wie der Käfer vor dem Tod. Eine Hand nimmt mir die Stunde fort, die ich mit dir verbringen wollte. Sie nimmt mir diese Samentüte daraus blaue Blumen sprießen sollten ohne einen Hauch von violett, das schon an Untergang erinnert. Ohne zu wollen, atme ich im Garten einen Duft, aber die Rose ist schon anderen zugesprochen. Bereite dir aus Krumen eine Mahlzeit, denn du bist krank und ich liebe dich so. Um dich zu retten, möchte ich dich in einen Buchfink verwandeln, der vor dem Fenster an einem Blatt hängt, das der Frühling ihm schenkte. Aber der Frühling hat uns den Rücken zugekehrt. Blüht aus der Fäulnis. Wolken da oben. Wettbewerb im Sterben. Herrliches Fortziehn. Von dieser Erdenkugel abstoßen zu dürfen, diese Wurzelfüße herauszureißen. Gnade, Gnade des Nicht-mehr-Sein-dürfens. Höchster Wunsch auf Erden: Sterben ohne gemordet zu werden."
Nach dem Tode des Vaters, der während seiner langen Krankheit von der Tochter gepflegt wurde, beginnen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten für Nelly Sachs und ihre Mutter; mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 ist ihre Existenz bedroht. Die Rettung gelingt mithilfe einer guten Freundin, die Selma Lagerlöf als Fürsprecherin für ein Einreisevisum nach Schweden gewinnt. Mit wenigen Habseligkeiten in einem alten braunen Koffer treffen Nelly Sachs und ihre betagte Mutter in Stockholm ein.

CD-Empfehlung: "Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm"
Im Mittelpunkt dieses akustischen Porträts von Nelly Sachs steht ihr von Flucht und Verwandlung geprägtes Werk: Interpretationen von Gedichten ergänzen historische Originaltöne, biografisch kommentiert von Aris Fioretos sowie den Freunden und Weggefährten Margaretha Holmqvist und Hans Magnus Enzensberger.
Infos: 1 CD mit 16-seitigem Booklet, Laufzeit 75 Minuten

© speak low
Margarete Sachs ist krank und auf ständige Betreuung angewiesen, deshalb übernimmt die Tochter Arbeiten, die sie von zu Hause erledigen kann. Eine Zeit lang verdingt sie sich als Wäscherin und Näherin, bekommt aber bald die Möglichkeit zu übersetzen.
Durch den Kontakt mit der radikal-modernen schwedischen Lyrik ändert sich auch die dichterische Sprache von Nelly Sachs. Mit einem Vokabular, durch das die schwedische Sprache hindurchschimmert, und freien Versen schreibt die Überlebende über die Verfolgung und Vernichtung ihres Volkes. "Die Gedichte kamen und brachen gewaltsam aus mir hervor", sagt sie in einem Interview.
Nelly Sachs, die 1953 die schwedische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, scheint endlich in ihrer neuen Heimat angekommen zu sein. Sie schreibt an eine Freundin:
"Es ist alles wie ein Wunder. Nach furchtbaren Jahren, die ich immer am Tod lebend verbrachte und sehr einsam, kommt nun aus aller Welt eine solche Zustimmung. Ein kleiner Kreis geliebter Freunde waren die letzten fünf Jahre um mich. Einer der führenden skandinavischen Literaturkritiker entdeckte mich, einige der größten schwedischen Lyriker übersetzten, und so wurde es hier Heimat in der Freundschaft. Denn ein Land kann uns niemals mehr Heimat sein, nur wo wir Liebe finden, sind wir zuhause. Vor zwei Tagen war wieder ein großer Abend mit einigen meiner kurzen dramatischen Szenen. Mit jungen Schauspielern las man 'Was ist ein Opfer', 'Der magische Tänzer', 'Verzauberung' und 'Eine Scheidelinie'. Ein deutscher Literaturhistoriker war eingeladen, über mein geträumtes Theater der Zukunft zu sprechen. Trotz aller Verschiedenheit, betonte er, ist die Verwandtschaft mit Beckett da. Die Jugend war gänzlich gefangen und verstand, meine eigene Generation findet mich dunkel und rätselhaft."

Erfolge in Deutschland

Anfang der 50er-Jahre wird die junge Generation in Deutschland auf die "Dichterin der Shoah" aufmerksam. Hans Magnus Enzensberger, seinerzeit Lektor im Suhrkamp Verlag, verantwortet die Edition zweier Bände mit Gedichten und szenischen Dichtungen von Nelly Sachs und trägt so maßgeblich zu der großen Anerkennung bei, die ihr im letzten Jahrzehnt ihres Lebens zuteil wird. 1960 nimmt Nelly Sachs den Droste-Preis der Stadt Meersburg entgegen und betritt damit zum ersten Mal seit der Flucht wieder deutschen Boden.
Das schwarz-weisse Foto zeigt Hans Magnus Enzensberger im Profil. Der Blick geht einem Gedanken nach, seine Brille hat er in der linken Hand.
Hans Magnus Enzensberger war der Lektor von Nelly Sachs© imago images / gezett
"Ich höre, was ein Gedicht ist. Das kann ich hören. Das trägt, das lebt, da ist eine Energie drin, solche Kriterien, die man nicht nachmessen kann. Und wenn man selbst auch Gedichte schreibt, dann entstehen sofort solche vielleicht nicht Wahlverwandtschaften, aber da ist etwas. Da schwingt irgendeine Seite bei dir mit. Das ist auch sprachlich nicht etwas, was du irgendwo schon hundertmal gehört hast. Das hat auch einen eigenen Sprachzauber. Manchmal nehme ich ein dickes Buch, eine neue Ausgabe; manches erkenne ich wieder, manches kenne ich gar nicht. Dann bewege ich mich in diese ganz andere Welt, als es meine alltägliche Welt ist. Manchmal muss ich mich sogar ein bisschen rein lesen, da es auch nicht immer auf Anhieb geht. Da muss man ein bisschen Zeit haben und ein bisschen zuhören. Warum macht sie das jetzt so? Das ist eine Frage des Tonfalls, also auch der Prosodie im Gedicht. Das kann man wirklich am besten nachprüfen, wenn man es laut liest. Manches hört man auch, ohne es laut zu lesen. So ein Tonfall. Dann höre ich etwas Bestimmtes. Es gibt so Bilder von Bosch und Patinir, wo so Kristallkuppeln sind. Man ist in einem anderen Raum."
(Hans Magnus Enzensberger)

Verleihung des Literaturnobelpreises

Zurück in Schweden bricht das Gefühl, verfolgt zu werden, sich bei ihr wieder Bahn. Von Ängsten gequält, wird Nelly Sachs in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, in der sie in den folgenden zehn Jahren bis zu ihrem Tod immer wieder lange Zeitabschnitte verbringen sollte. Und wieder ist es ein Arzt, der, indem er sie zum Schreiben ermutigt, ihr Überleben sichert. In der Nervenklinik Beckomberga entsteht ein großer Teil ihres Werkes, darunter die geheimnisvollen späten Gedichte "Glühende Rätsel". So kommt dem Arzt die Ehre zu, Nelly Sachs 1966 zur Verleihung des Literaturobelpreises zu führen, den sie an ihrem 75. Geburtstag aus der Hand des schwedischen Königs entgegennimmt.
Die Nobelpreisgewinner 1966 in Stockholm: rechts im Bild Nelly Sachs und Samuel Agnon
Die Nobelpreisgewinner 1966 in Stockholm: rechts im Bild Nelly Sachs und Samuel Agnon© imago stock&people
Die Jahre nach dem Nobelpreis waren von zunehmenden Beschwerden geprägt. Nelly Sachs erlitt einen Herzanfall und die Anzeichen von Paranoia verstärkten sich, zeitweilig begab sie sich wieder ins Krankenhaus. Sie schrieb regelmäßig, aber nicht mehr viel. Das letzte Jahr war von ihrer Krebserkrankung geprägt: Operation, kurzfristige Besserung des Allgemeinzustandes, erneute Einweisung ins Krankenhaus. Dort erfährt Nelly Sachs durch einen Besucher vom Freitod Paul Celans, mit dem Nelly Sachs seit den 50er-Jahren in Briefkontakt stand. Am 12. Mai 1970, dem Tag der Beerdigung von Paul Celan, starb Nelly Sachs.
"Schon hast du dein Fluchtgepäck
hinüber –
die Grenze ist offen
aber vorher
werfen sie alle deine "zu Hause"
wie Sterne durchs Fenster
komm nicht mehr zurück
im Unbewohnten wohne
und stirb – "
Die Sendung ist eine Wiederholung aus dem Jahre 2010.

Autoren: Vera Teichmann und Harald Krewer
SprecherInnen: Katharina Marie Schubert, Cathlen Gawlich, Ulrich Noethen
Komposition und Sounddesign: Christian Mevs
Klavier: Michael Mühlhaus

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