Über die Krux des Erinnerns

Von Natascha Pflaumbaum · 23.08.2012
Das Schauspiel Frankfurt eröffnet seine Spielzeit mit der Uraufführung eines Stücks des Regie-Duos Stefanie Lorey und Bjoern Auftrag. "Bouncing in Bavaria" heißt das Zwei-Personen-Stück: ein Kammerspiel, das in Frankfurt für die kleine Bühne eingerichtet wurde.
Am Anfang ist es ein Spiel. Traute Hoess sagt sich im Kopf das Alphabet auf. Felix von Manteuffel sagt "Stopp". Sie sagt "L". Und Felix von Manteuffel muss nun sagen, woran er sich erinnert: Orte, Personen, Sachen, die mit "L" beginnen. Erst Herr von Manteuffel, dann Frau Hoess - abwechselnd wie bei einem Ping-Pong-Spiel. Sie nennen Sachen, Personen, dann werden es immer mehr kleine Details, kurze Szenen, Atmosphären, Gesten, Belanglosigkeiten - völlig willkürlich, rein assoziativ - wechseln sie sich ab. Sie sagen:

""Ich erinnere mich an Liebe".
"Ich erinnere mich an einen Teller Suppe mit Buchstaben drin."
"Ich erinnere mich an das Gefühl, wenn man mit nackten Füßen eine Kellerassel zertritt."!"

Wenn dem einen nichts mehr einfällt, wird das Buchstabenroulette im Kopf des anderen angeworfen. Alles passiert automatisch. Wie bei einer Maschine, denn die beiden sind eine Erinnerungsmaschine: ein Gedächtnis mit zwei Hirnen. Jeder steht auf einem kleinen Rechteck Silberfolie, das die beiden Schauspieler zu Beginn der Vorstellung, sorgfältig entfalteten. Sie tun nun so, als seien das Elektroden, auf denen stehend der Erinnerungsfluss in gang gebracht wird.

Beide stehen nah am vorderen Bühnenrand einer als weißer Kubus eingerichteten Bühne (Bühne und Kostüme: Ralph Zeger). Zwei Stühle, hinten an der Wand ein weißer Bilderrahmen und ein paar dünne Rohrleitungen, durch die für kurze Momente später einmal hellblaue Farbe läuft. In diesem weißen Kubus fließen die Erinnerungen nur, wenn die beiden auf den Elektroden stehen. Wenn einer unterbricht, den anderen etwa berührt, ertönen anfangs elektronische Buzzergeräusche, später kitschige easy-listening Musik.

So erinnern sich die beiden anderthalb Stunden lang. Der Hoess-von-Manteuffel-Erinnerungsautomat spült dutzendweise Erinnerungen hoch. Die beiden Erinnerungskombattanten reden pausenlos, immer in kurzen Sätzen - wie in Pointen, Aphorismen. So verkürzt, dass sie grotesk, lehrreich, erhellend, frappierend auch für andere sind.

Diese Erinnerungsmaschine zählt auf, sammelt, dichtet hinzu, idealisiert und glorifiziert Erlebtes, und so fügen sich allmählich zwei Leben zusammen. Aus Hunderten von Einzelsätzen. Die beiden erscheinen wie ein Paar, obwohl sie gar keines sind. Das freie Spiel, die freie Assoziation, der Stegreif geben hier die Dramaturgie vor. Das Regieteam Stefanie Lorey und Bjoern Auftrag, die seit über 10 Jahren schon zusammenarbeiten, haben eine Theaterform entwickelt, die die Parameter des Theaters nutzt (Bühne, Kostüme, Licht, gehobene Sprache), um Biografien auf die Bühne zu bringen.

Hier geht es nicht um einen Stoff, einen dramatischen Text, sondern um das, was Menschen denken. Also ist auch das, was Traute Hoess und Felix von Manteuffel erzählen, autobiografisch, ohne allzu persönlich oder gar indiskret zu sein. Ihre singulären Erinnerungen funktionieren exemplarisch. Immer weiß man, wovon sie reden, weil man meint, ähnliche Erinnerungen gemacht zu haben.

Aus den vielen Einzelheiten schälen sich im Laufe des Abends eine Reihe von philosophischen und psychologischen Erkenntnissen über das Erinnern: wie rudimentär es ist, wie es verkürzt, wie viele Details man behält, dass es fast immer Kleinigkeiten sind, die sich geradezu symbolhaft aufblasen. Man lernt, wie sich Erinnerungen in kleinen Kapseln abspalten. Man merkt, wie man verfälscht, hinzufügt, idealisiert und am Ende wieder vergisst.

Man lernt aus der parallelen Erzählweise von Traute Hoess und Felix von Manteuffel, dass simultane Erinnerungen häufig synchron erscheinen. Fälschlicherweise. Am Ende zweifelt man an der Wahrhaftigkeit von Erinnerungen überhaupt: sie sind Geschichten, die man in sich trägt, ein Konstrukt, das uns zu dem macht, für das wir uns halten.