Über die Förderung von Jungen

Von Barbara Leitner · 27.06.2005
Mal sind es die schlechten Ergebnisse bei PISA und ihre Unlust am Lesen, mal extreme Gewalttaten mit denen schlaglichtartig deutlich wird: Mit den Jungen in unserer Gesellschaft stimmt etwas nicht. Wie eine bessere Förderung geschehen kann, beschreibt der Kinder- und Familienpsychologe Wolfgang Bergmann in seinem Buch.
Mit traumwandlerischer Sicherheit fährt Harry Potter im Doppeldeckerbus durch den nächtlichen Großstadtverkehr von London. Nichts kann ihn aufhalten. Er ist der Held, dem sich alles unterwirft, so stark und großartig fühlt sich Harry und mit ihm – so die Erfahrung von Wolfgang Bergmann – eine ganze Generation von kleinen Jungen.

Trotzig, unruhig, aggressiv und selbstherrlich schubsen, stoßen und schreien sie in Kindergarten, Schule und zu Hause und bringen Eltern, Lehrer und auch Berater leicht an ihre Grenzen. Gerade Jungen sind es, die mit der inflationär gebrauchten Diagnose "hyperaktiv" in der kinderpsychologischen Praxis des Autors in Hannover landen. Dort entdeckt er in dem riesigen Sessel vor seinem Schreibtisch immer wieder ein einsames, trauriges Kind.

"Bereits der erste Blick auf den 11- oder 12-jährigen Jungen zeigt, dass mächtige zivilisatorische, mediale, artifizielle, die Sinnlichkeit steuernde Kräfte in diesem Kind wirksam sind, Tag für Tag, und sich in seine Tagträume eingeschrieben haben ... "

Kein Wort schreibt Bergmann davon, dass Computerspiele und Fernsehen die Burschen gewalttätig machen könnten – auch wenn sie zehnmal toben und um sich schlagen und sich hinterher nicht daran erinnern können. Die Wirkung der Medien ist viel schlimmer:

" "Die nervösen, hyperaktiven Jungen, die sich realen Ordnungen nicht fügen und realen Anforderungen nicht folgen können, bewegen sich in den digitalen Symbol- und Möglichkeitsräumen sicher und geduldig und mit hoher Ausdauer, als seien sie seelisch endlich zu Hause."

Denn ein anderes zu Hause kennen Paul, Fritz, Max, Frank und Rudolf nicht, jene Jungen, deren Seelenleben der Autor mit seinem 180 Seiten zählenden Buch zu erfassen sucht. So verschieden ihre Geschichten auch sein mögen: Zur perfekten Zauberwelt der Medien vermissen sie bereits seit früher Kindheit ein Gegengewicht: die Ordnung, Sicherheit, eine feste Bindung:

"Die Familien sind das Problem"

… heißt es bei Bergmann, ohne die Sache zu beschönigen. Vorbei sind die Zeiten, da Mutter und Vater bereitwillig die ihnen zugedachten Rollen übernahmen und darin auch den Kindern so etwas wie Geborgenheit gaben. Heute sieht es anders aus:

"Mann und Frau sind ausschließlich durch ihre Gefühle miteinander verbunden. Aber Gefühle (...) können zur einen und zur anderen Seite ausschlagen."

Oft sind es die Kinder, die in dieser Konstruktion die Balance halten und die Eltern glücklich machen sollen. Spannend wäre zu lesen, welches ganz andere Familienschicksal Mädchen in solch einer Konstellation erleben. In dem Buch aber gilt Bergmanns Aufmerksamkeit ganz den Jungen. Deren Not sieht er gerade durch die Mütter auf die Spitze getrieben. Einem kleinen Tyrannen bieten sie kaum Einhalt, auch wenn sie deren Verhalten nicht ertragen können. Damit käme ihr Bild einer "guten Mutter" ins Wanken. Die Väter allerdings erweisen sich selten als deren Rettung. Und das nicht einmal, weil sie zu lange abwesend sind. Vor allem verhalten sie sich wie mutlose, emotionale Randfiguren.

Es ist ein beunruhigendes Buch. Behutsam und schonungslos zugleich schildert Bergmann, welche Spuren der Familien- und Schulalltag in der Psyche der Jungen hinterlässt – und das nicht bei der Unterschicht, sondern bei denen, die sich um die Therapie bemühen. Das ist eine Katastrophe und tut weh. Dabei sind nicht die bockigen, trotzigen, hochnäsigen Kinder das Problem, sondern ihre Eltern, Lehrer, Erzieher, auch Therapeuten – hilflos, überfordert, verstrickt und mit sich selbst im Unreinen.

"Nicht ihre Absichten, nicht ihr guter Wille, nicht einmal ihre Überzeugungen prägen die Kinder, sondern das, was sie sind. Das macht die Kunst einer guten (oder verfehlten) Erziehung aus."

Dafür Ratschläge zu geben, weigert sich Bergmann. Gerade wer einem Erziehungs-Rezept-Buch folgt, entfernt sich vom eigenen Empfinden und erschwert den Kontakt, so seine Meinung. Statt dessen wünscht sich der Psychologe und Vater von denjenigen, die mit Kindern leben, drei Dinge in ihrer Begegnung mit den zerbrechlichen Jungen: dass sie deren Stärken sehen und sie stärken; dass sie ihnen ein deutliches Stopp entgegen halten, wenn sie Grenzen überschreiten und Gewalt ausüben; und ihnen Trost schenken, wenn ihnen Leid oder Unrecht geschieht.

" "Kinder brauchen Könige, um sich selbst wie Prinz und Prinzessin zu fühlen."

"Kleine Jungs – große Not. Wie wir ihnen Halt geben können", ein Buch von Wolfgang Bergmann, 180 Seiten, erschienen bei Patmos 2005.