"Über die Einsicht in die Notwendigkeit"

Von Gesine Palmer · 18.10.2012
Wie auch immer die europäische Einheit vertieft werden könnte, sie darf immer weniger von den Regierungen, sondern muss immer mehr von den Parlamenten gestaltet werden, so verlangt es das Karlsruher Bundesverfassungsgericht. Und, sie sollte klugerweise nicht mit irgendwelchen Zwängen begründet werden, sondern mit der freien Entscheidung für eine bessere Alternative, meint die Theologin Gesine Palmer.
Mit Weisheiten geht es heute so, wie Luther es derbsexistisch über die Vernunft sagte: Sie sei "die höchste Hur, die der Teufel hat". Ihn schreckte, dass in Debatten jeder Standpunkt etwas Vernünftiges bei sich zu haben scheint. Nennt man aber deswegen die Vernunft eine Hure, dann zieht man ihr Wesen, ihre Allgemeinheit, in den Dreck - oder in das, was man dafür hält.

Das ist ziemlich riskant. Denn ohne die Allgemeinheit der Vernunft müssten wir auf den allgemeinen Anspruch der Menschenrechte ebenso wie auf die Regeln verzichten, die für wissenschaftliche Erkenntnisse gelten. Danach steht jede Aussage, die allgemeine Geltung beansprucht, unter Vorbehalt: Sie gilt nur, solange sie noch nicht als falsch widerlegt worden ist. Unser Sicherheitsbedürfnis freilich hätte es lieber eindeutig. Treffen wir eine Vernunfteinsicht auf Abwegen an, empört uns das.

Aber auch eine vermeintlich gesichert vernünftige Einsicht kann empören, wenn sie den Kontext wechselt. Kürzlich bemühte Karl Lamers in einem Interview mit diesem Sender die gute alte hegelianisch-marxistische Redewendung von der historischen Notwendigkeit:

"Es ist wirklich so, wie Hegel gesagt hat: Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit ist die in Europa extrem dichte transnationale Wirklichkeit, welche ja das Grundprinzip der nationalstaatlichen Organisationsform von Politik aufhebt, nämlich die Grenzen."

Verständlich, dass der ehemalige Vizepräsidenten der Europäischen Volkspartei und engagierte Außenpolitiker der CDU im Bundestag starke Worte braucht. Er möchte die Bürger ermuntern, ein paar nationale Souveränitätsopfer zu bringen, um für das übernationale Gebilde Europa wieder Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Die Begründung aber kann kaum funktionieren.

Denn die Bürger widersetzen sich diesem Ansinnen ja gerade deswegen, weil sie argwöhnen, dass ihnen von ihren eigenen Regierungen, vom europäischen Krisenmanagement her Gefahr drohe. Dieses Gefühl der Bedrohung kann durch das Aufbieten der historischen Notwendigkeit nur verschärft werden.

Schon in ihrer Jugend hatte Hegels Rede von der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit den Verdacht erregt, sie wäre das seine Seele verkaufende Liebchen der bestehenden Regierungen. Die Argumentation ist nämlich zirkulär.

Historische Notwendigkeit hieße, dass sich etwas zwangsläufig entwickele. Entwickeln kann sich nur, was schon angelegt ist - und mehr als das, was angelegt ist, kann sich nicht entwickeln. Zudem ist es schwierig, zu den Entwicklungen eine Perspektive einzunehmen, die nicht selbst Teil der Entwicklung ist. Es fehlt also die Entscheidungsmöglichkeit. Ohne diese kann aber von Einsicht auch nicht mehr die Rede sein.

Die Linkshegelianer hielten es für eine historische Notwendigkeit, dass "der Mensch" seine Geschicke in die Hand nähme. Ein Selbstwiderspruch. Deswegen hat der ethische Sozialismus nicht mit Hegel, sondern mit Kant gegen die Identifizierung von Vernunft und Geschichte opponiert: Das Wollen strebe immer nach Freiheit und folge dabei eigenen Gesetzen, die nicht aus historischen Entwicklungsgesetzen und auch nicht aus Naturgesetzen oder empirischen Fakten ableitbar seien. Nur dann kann sich auch Neues ereignen.

Kein Grieche, der um seine Rente fürchtet, wird sich zufrieden geben mit der Perspektive, dass er dann, wenn er gar nichts mehr hat, immer noch auf die historische Notwendigkeit der Entwicklung zur europäischen Einheit zurückblicken kann. Hätte seine persönliche Verarmung die Vernunft in Gestalt der historischen Notwendigkeit auf ihrer Seite - dann wäre es historisch durchaus wahrscheinlich, dass unser Grieche sich schließlich gegen die Vernunft selbst wendete und ihr, wie Luther es an anderer Stelle empfahl, die Augen ausstäche.


Dr. Gesine Palmer, geb. 1960 in Schleswig-Holstein, studierte Pädagogik, evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. Nach mehrjähriger wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit gründete die Religionsphilosophin 2007 das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, aber auch als Redenschreiberin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind "Religion, Psychologie und Ethik" - im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.