Über den Umgang mit Pädophilie

Stigmatisierung ist kein Ausweg

Medienkampagne gegen Pädophile - auf einem Bildschirm ist zu lesen: "lieben sie kinder mehr als ihnen lieb ist"
Mit einer Medienkampagne soll versucht werden, Pädophile von Übergriffen auf Kinder abzuhalten. © picture-alliance/ dpa/ Liesa Johannssen
Von Dorothea Brummerloh · 09.10.2017
Das Projekt "Kein Täter werden" bietet seit über zehn Jahren Therapien für Pädophile und bemüht sich auch um gesellschaftliche Aufklärung. Denn soziale Isolation ist ein Risikofaktor. Zwei Männer, die an diesem Projekt teilgenommen haben, erzählen hier ihre Geschichte.
Montagmittag in einer Hausmeisterwerkstatt. Irgendwo in Deutschland. Ein Mann in blauer Arbeitskombi spannt ein Metallrohr in den Schraubstock. Sägt, feilt und schleift es zurecht, damit es beim Einbau später gut passt. Der Mann am Schraubstock ist der Haustechniker. Geht er durchs Haus, grüßt er die Kollegen, sie winken zurück, scherzen mit ihm.
Caspar*: "Ich war ungefähr 30 als ich merkte, dass die Bilder von Mädchen in mir eine Seite zum Klingen brachten, die eigentlich nur von erwachsenen Frauen angeschlagen werden sollte. Ich merkte, dass die Bilder eine erotische Komponente bekamen und auf mich wirkten."
Caspar war zu diesem Zeitpunkt bereits zehn Jahre verheiratet. Wenig später zerbrach die Ehe. Jetzt war er häufig allein und schaute sich oft Bilder von kleinen Mädchen an. Er schob das auf die Trennung. Eine Phase, die vorübergehen wird. Nichts Schlimmes also. Als sein Interesse an den Nacktbildern nicht nachließ, bekam der Hausmeister einer Grundschule Angst.
Caspar: "Wohin führt das jetzt noch? Jetzt finde ich die Kinder nur attraktiver. Und wie kann es noch weitergehen? Seit ich diese Neigung bei mir feststellte, seit ich feststellte, es geht über gewisse Grenzen hinaus, habe ich mir, was ich an Informationsmaterial kriegen konnte, besorgt. Ich war mir eigentlich immer sicher, dass meine Kinder an meiner Schule - so habe ich das gedacht - vor mir sicher waren, weil ich um mich wusste, weil ich um die Gefahren wusste, habe ich die für sicher gehalten."

Pädophilie allein ist keine Krankheit

Tillmann Krüger: "Pädophilie allein ist keine Krankheit, sondern eine sexuelle Neigung, Orientierung oder Präferenz."
Tillmann Krüger, Psychiater und Sexualmediziner an der Medizinischen Hochschule Hannover.
"Kein Mensch hat sich Pädophilie oder irgendeine andere sexuelle Neigung aktiv ausgesucht in der Regel. Sondern damit kommen wir auf die Welt."
Exhibitionismus, Voyeurismus, Fetischismus, Sadomasochismus - es gibt viele sexuelle Vorlieben und Wünsche.
"Aber bei so etwas wie Pädophilie ist die Brisanz natürlich unglaublich groß, weil sie in der Form eben nie ausgelebt werden darf, weil sie eben auf Kinder gerichtet ist."

Andere therapeutische Interventionen bei Pädophilie

Die Polizeistatistik verzeichnet jährlich zirka 12.000 Kinder in Deutschland, die Opfer von sexuellem Missbrauch werden. Das sind allein die angezeigten Fälle und damit nur ein Teil der Wirklichkeit. Die Dunkelziffer, da ist sich die Forschung einig, ist weit höher. Die Mehrheit der verurteilten Täter ist nicht pädophil. Meist handelt es sich um den gewalttätigen Machtmissbrauch eines Menschen mit gewöhnlicher sexueller Präferenz. Eine Unterscheidung der Täter ist wichtig, denn um Kinder zu schützen, sind in solchen Fällen andere therapeutische Interventionen und gesellschaftliche Reaktionen gefragt als bei Pädophilen. Die Mehrheit der Gesellschaft setzt allerdings auch heute noch pädophile und andere Sexualstraftäter gleich, weiß Tillmann Krüger.
Ein Mann sitzt am Computer und sieht sich Bilder mit Kindern an.
Pädophilie ist keine Krankheit, sagt Tillmann Krüger, Psychiater und Sexualmediziner.© picture-alliance/ dpa / Lehtikuva
Tillmann Krüger: "Und es ist Teil unserer Öffentlichkeitsarbeit, aber auch unserer wissenschaftlichen Arbeit hierüber aufzuklären. Zweifelsohne ist es so, dass das Vorliegen einer Pädophilie natürlich ein ganz wesentlicher Risikofaktor ist. Aber es ist ja nicht der einzige Risikofaktor. Es gibt viele Männer, die sind in der Lage, sich zu kontrollieren, oder versuchen, eine Kontrolle zu erreichen und kommen zu uns, um das zu lernen. Das heißt also, man tut diesen Menschen wirklich unrecht, sie per se wegen der Pädophilie in einen Topf zu werfen mit Sexualstraftätern. Und das gehört ganz klar differenziert."

Mikado-Studie: Jeder Zweite meint, wegsperren für immer

Studien zufolge sind knapp ein Prozent der männlichen Bevölkerung im reproduktionsfähigen Alter pädophil. Das wären 250.000 Männer in Deutschland. Sexmonster, Kinderschänder, perverse Kreaturen - diese Meinung über Menschen mit einer pädophilen Präferenz ist weit verbreitet, selbst wenn sie noch nie in ihrem Leben ein Kind missbraucht haben.
Tillmann Krüger: "Ein Reflex in der Gesellschaft ist ‚wegsperren‘ und zwar für immer. Und dieser Aussage ‚wegsperren und zwar für immer‘ - dieser Aussage stimmen immerhin 50 Prozent der Menschen in der Gesellschaft zu. Und 25 bis 30 Prozent sagen sogar, ein Mensch mit Pädophilie - der hat eigentlich kein Lebensrecht. Der ist besser tot als lebend. Das sind dramatische Zahlen."
Diese Zahlen stammen aus der Mikado-Studie, einem Forschungsprojekt der Universität Regensburg, gefördert vom Bundesfamilienministerium. 854 Passanten wurden in Dresden und Stuttgart auf öffentlichen Plätzen befragt. Nur 4,8 Prozent würden Menschen mit Pädophilie als Freund akzeptieren. Mehr als die Hälfte der Befragten würde eher sexuelle Sadisten als Nachbarn und Kollegen akzeptieren als Pädophile.
Sara Jahnke: "Ich halte es nicht für hilfreich, jemanden, der diese Neigung hat, diesen Stempel von vorne herein aufzudrücken: Du kannst doch sowieso nicht anders. Du wirst früher oder später Kinder missbrauchen."
Sara Jahnke ist Psychologin. In ihrer Dissertation hat sie sich u.a. mit der Stigmatisierung von Pädophilen befasst.
Sara Jahnke: "Die Betroffenen sind aber nicht nur durch dieses Merkmal gekennzeichnet, sondern sie haben durchaus die Möglichkeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie sich verhalten wollen. Und die Pädophilie macht sie jetzt nicht zu willenlosen Robotern oder zu Sklaven oder zu Monstern, sondern das sind ganz normale Menschen und die machen sich natürlich auch Gedanken darüber."

Das Projekt "Kein Täter werden"

Die Ursachen für Pädophilie sind bis heute noch nicht umfassend geklärt. Sexualmediziner gehen davon aus, dass entwicklungsbiologische, psychische und soziale Faktoren an der Entstehung beteiligt sind. Sicher sei eigentlich nur: So wie ein heterosexueller Mann nicht zur Homosexualität erzogen werden könne, sei es auch nicht möglich, jemanden, der auf Kinder fixiert ist, plötzlich für Erwachsene zu interessieren. Betroffene können nur lernen, ihr Verhalten zu kontrollieren.
Mit einem Werbeslogan wurden vor elf Jahren in öffentlichen Verkehrsmitteln Männer auf das weltweit einzigartige Projekt "Dunkelfeld - Kein Täter werden" aufmerksam gemacht. Ziel des am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité Berlin ins Leben gerufenen Projektes war und ist es, sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche zu verhindern. Die Anschubfinanzierung kam von der VolkswagenStiftung, die das Präventionsprojekt sieben Jahre finanziell förderte.
Henrike Hartmann ist Mitglied der Geschäftsleitung der VolkswagenStiftung. Die promovierte Pharmazeutin war verantwortlich für das Projekt "Kein Täter werden". In dem Ordner, der vor ihr auf dem Tisch liegt, sind Mails und Briefe enthalten, die die Stiftung als Reaktion auf ihr finanzielles Engagement bekam.
" … Teile Ihnen mit, dass ich in Zukunft unter allen Umständen vom Kauf der Produkte ihres Namensgebers Volkswagen absehen werde, von dem ich in der Vergangenheit insgesamt sechs Fahrzeuge erworben habe …"
Henrike Hartmann schüttelt den Kopf. Der Name legt es nahe, aber die Stiftung ist keine Unternehmensstiftung, sondern eine Stiftung bürgerlichen Rechts, vom Bund und dem Land Niedersachsen zur Förderung der Wissenschaft gegründet – 1961, mit Erlösen aus der Umwandlung der Volkswagenwerk GmbH in eine Aktiengesellschaft.
Henrike Hartmann: "Wir verstehen uns einerseits als Impulsgeber, dass wir neue Dinge ermöglichen, risikoreiche Dinge ermöglichen und dann haben wir eine Rubrik, die da heißt: offen für Außergewöhnliches."
Geld und Offenheit, das brauchte Klaus Beier für sein außergewöhnliches Projekt.
Henrike Hartmann: "Der Projektleiter ist an uns herangetreten und hat gesagt, hier, das ist ein Thema, was natürlich wirklich sehr sensibel ist, politisch sensibel. Das wollen viele andere nicht anfassen, haben vielleicht auch Angst vor schlechter Presse. Dennoch ist es ein sehr wichtiges Projekt."
Auch die Werbeagentur Scholz & Friends hat das Projekt unterstützt, pro bono- zum Wohle der Öffentlichkeit, ohne Bezahlung.
Christina Ritzenhof: "Es ging in erster Linie für uns um Kinderschutz. Wir müssen Prävention betreiben, wir müssen zusehen, dass die Taten verhindert werden."
Christina Ritzenhof, Mitarbeiterin bei Scholz & Friends.
"... und natürlich haben wir darin auch eine kommunikative Herausforderung gesehen. Das Thema Pädophilie wurde in der ‚Schmuddel-Ecke‘ genannt und dass sich jetzt aber ein wissenschaftliches Institut mit dem Thema befasst, hat ja schon gezeigt, es ist ein ernst zu nehmendes Thema, dem wir uns widmen müssen, weil es in der Gesellschaft ein Tabuthema ist."
Die Werbeleute haben mit ihrer Idee den richtigen Zugang gefunden: Die Darstellung einer alltäglichen Situation in einer S-Bahn sprach die Zielgruppe an und machte sie auf das Therapieangebot aufmerksam. Genau das wollten wir, sagt Christina Ritzenhof.
Christina Ritzenhof: "Natürlich gab es für uns ein Risiko. Das lässt sich gar nicht von der Hand weisen. Wir haben aber gesehen, dass, wenn man dieses Problem erklärt, wächst das Verständnis für das Engagement in diesem Feld enorm. Und wir haben darauf vertraut und das Vertrauen wurde bestätigt."
Es gab positive Resonanz von Unternehmen, Kunden, Kinderschutzorganisationen, auch von den Medien. Und: Diese Werbekampagne dient heute als Referenz, dass man auch sensible Themen anpacken kann.

Pädophilie: Der Feind in mir

Max merkte schon in der Pubertät, dass er anders als andere tickt. Während sich die Jungen aus seiner Klasse, seine Freunde und Kumpels nach gleichaltrigen Mädchen umschauten, faszinierten ihn die wesentlich jüngeren.
Max*: "Ich habe mir noch bis Anfang 20 vorgemacht, dass das völlig normal ist und da redet bloß keiner drüber. Und mit Anfang 20 als aus dem Wunsch ‚Mädchen aus der Nähe nackt sehen wollen", "Geschlechtsteile nackt sehen wollen" auch ‚anfassen wollen‘ wurde, da hat es bei mir klick gemacht. Da habe ich gemerkt, Moment, hier stimmt irgendetwas nicht."
An seine Seelenpein, die Zerrissenheit in der er damals steckte, erinnert er sich noch genau. Das war eine Identitätskrise, sagt er heute, mit Anfang 30.
Max: "Mein komplettes Leben hat sich in zwei Teile aufgespalten: An der Uni - funktionieren, Noten einfahren, zuhören, lernen und sobald ich aus der Uni raus war oder für mich alleine war, Gedanken im Kopf: Was bist du für ein Monster! Nein, das bist du doch eigentlich gar nicht. Und willst du das eigentlich oder willst du das? Oder wird das irgendwann die Macht über dich gewinnen, diese Neigung, diese Empfindung oder kannst du das kontrollieren lernen? Und das hat mich komplett zerrissen."
In einem Auge spiegelt sich das Bild von Kindern am Strand.
Isolation von Pädophilien ist der falsche Weg, sagen Experten.© picture-alliance/ dpa / Lehtikuva
Caspar kennt diese Achterbahn der Gefühle. Eine neue Beziehung weckte in ihm Hoffnung, aber auch die Angst vor sich selbst. In seiner Not beendet er die Beziehung.
Caspar: "Ich hatte damals auch nur das Bild vor Augen, dass ich von den Medien her kannte: Jeder Pädophile wird irgendwann übergriffig. Ich wollte das nicht. Ich hatte eine neue Bekanntschaft geschlossen. Ich habe gedacht, jetzt ändert sich das Leben wieder. Es spielt wieder eine Frau eine Rolle in meinem Leben. Diese Frau hat ein achtjähriges Kind gehabt. Ich hatte Angst vor mir, ich hatte Angst um das Kind."
Max: "Das habe ich als Feind gesehen - meine Neigung, den ich irgendwie besiegen muss. Eine Neigung nicht zu akzeptieren, sondern einfach nur dagegen anzukämpfen, ist etwa so, als wenn du in der Wüste stehst, dir geht das Benzin aus und du läufst ums Auto herum, schimpfst auf das Auto und trittst vor die Kühlerhaube. Das bringt auch kein Benzin her. Du musst erst mal akzeptieren, dass das Benzin alle ist und dann losgehen, welches holen. Dieser Hass auf die Neigung ist etwas, was absolut verständlich ist, dass das bei den Leuten aufkommt, aber was einen nicht wirklich weiterbringt."

Gefahr des Rückfalls ist höher als bei anderen Missbrauchstätern

Bei Erwachsenen mit einem sexuellen Interesse an Kindern geht es darum, diejenigen zu stärken, die nicht Täter werden wollen. Und es geht um die Verhinderung von Rückfällen. Diese Gefahr ist bei pädophilen Tätern bedeutend höher als bei anderen Missbrauchstätern. Seit gut einem Jahrzehnt wird in Deutschland an Therapien und Ursachen intensiv geforscht. An die inzwischen elf Standorte des Programms "Kein Täter werden" haben sich bis Ende März dieses Jahres fast 8000 Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet hilfesuchend gewandt, meist anonym per Mail. Auch Max und Caspar.
Caspar: "Ich hatte gehofft, dass ich dort mit meiner Neigung umgehen lernen, dass ich mit diesem Menschen dann leben kann. Das war der Wichser, der sich zum Anblick nackter Kinder einen runterholt. Und das war ein Mensch, mit dem ich nicht mehr leben wollte. Und da suchte ich nach einem Notausgang aus meinem Leben. Das war nicht mehr tragbar. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte nur aus diesem Leben raus."
Max: "Was habe ich dann noch vom Leben? Es ist ein wesentlicher Teil des Lebens, der eingeschränkt wird und in unserem Fall quasi verboten ist. Darf nicht passieren …"

Pädophile leiden unter psychischen Begleiterkrankungen

Max konnte sich mit Mitte 20 nicht vorstellen, wie ein Leben ohne Sexualität funktionieren kann. Suizidgedanken kamen auf – wie bei vielen Betroffenen.
Max: "Diese Suizidgedanken basierten darauf, dass ich das nicht mehr aushalten wollte- die Belastung, das Hin- und Hergerissensein, das nicht wissen, wie es weitergeht. Was für mich am Schlimmsten ist, ist Ungewissheit. Nicht zu wissen, wohin steuert dein Leben? Habe ich überhaupt die Macht darüber, niemals übergriffig zu werden? Oder ist es irgendetwas, was irgendwann unweigerlich über mich hereinbricht und passiert?"
Viele Pädophile wollen Hilfe, trauen sich aber nicht, sie einzufordern oder erhalten keine angemessene Unterstützung. Bei "Kein Täter werden" bekommt einen Platz, wer bestimmte Kriterien erfüllt. Die Pädophilie muss eindeutig diagnostiziert sein. Gegen den Hilfesuchenden darf aktuell nicht wegen Straftaten ermittelt werden, bereits ausgesprochene Strafen müssen verbüßt und Bewährungsauflagen erfüllt sein. 2486 Personen stellten sich bisher an einem der elf Standorte zur Diagnostik und Beratung vor, 1327 davon konnte ein Therapieangebot gemacht werden. Insgesamt haben seitdem 740 Teilnehmer die Therapie begonnen und 295 abgeschlossen. 269 befinden sich aktuell in Behandlung.
Doch es hagelt auch Kritik am Konzept "Kein Täter werden": von Betroffenen, von Opferschutzorganisationen aber auch von Psychologen. Das Projekt wäre grundsätzlich zwar notwendig, aber die Opfer gerieten zu sehr in den Hintergrund. Außerdem sei die Quote der Abbrecher hoch. Hinzu kommt die Kritik, dass die ärztliche Schweigepflicht über dem Kinderschutz stehe. Tillmann Krüger, Psychiater und Sexualmediziner an der Medizinischen Hochschule Hannover:
"Wir unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht. Aber wenn wir sehen, dass ein reger Konsum von derartigen Bildern, Missbrauchsabbildungen oder sogar sexuelle Kontakte zu Kindern stattfinden, ist das in der Therapie eine riesige Herausforderung und bedarf dann auch einer Intensivierung der Therapie, um eben das schnell zu unterbinden, um schnellstmöglich Wege zu finden, dieses Verhalten zu kontrollieren und abzustellen. Wir bieten das Projekt ja nicht dazu an, um den Leuten zuzusehen, wie sie Schaden anrichten und sie dabei zu begleiten. Sondern wir bieten das Projekt ja gerade deswegen an, um genau das zu verhindern und das in Krisen oder bei Rückfällen mit dem Patienten auch schnellstmöglich einen Weg zu finden, wie er das schaffen kann."
Eine erste Untersuchung hat gezeigt, dass bisher nicht übergriffige Teilnehmer weiterhin keine Übergriffe begangen haben. Die Teilnehmer flüchteten sich weniger in Rechtfertigungen, sie zeigten mehr Mitgefühl mit Kindern, fühlten sich weniger einsam. Jedoch gaben einige der Therapieteilnehmer, die bereits früher einen sexuellen Kindesmissbrauch begangen hatten, erneute Übergriffe zu.
Tillmann Krüger: "Therapie ist natürlich auch nicht immer der Königsweg. Es gibt auch Fälle, wo das nicht viel bringt und manche Menschen sind auch nicht bereit, sich behandeln zu lassen. Psychotherapie kann man nicht erzwingen. Wenn keine Motivation da ist, funktioniert es auch nicht. D.h. es ist kein Allheilmittel, aber dennoch ein ganz, ganz wichtiger Baustein und das zeigen auch die Daten."

Zu wenige Therapeuten können oder wollen behandeln

Als Alternative bliebe nur Wegschauen - doch das geht auch angesichts des enormen Leidensdruckes und der häufig bestehenden psychischen Begleiterkrankungen der Betroffenen nicht.
Tillmann Krüger: "Wir sehen bei zum Beispiel bis zu 40 Prozent der Teilnehmer affektive Störungen. Das können zum Beispiel Depressionen oder Angsterkrankungen sein. Sonst in der Bevölkerung sind das eher so 10 bis 15 Prozent. Wir sehen auch viele Persönlichkeitsstörungen, häufig ängstlich-vermeidende Persönlichkeiten beispielsweise. Und oftmals auch nicht ganz unauffällige Biografien."
Betroffene berichten von einer Odyssee durch Psychotherapie-Einrichtungen, Arztpraxen und Reha-Kliniken. Auch Caspar, der sich frühzeitig Hilfe suchte, fand niemanden, der ihm wirklich half. Er outete sich beim Hausarzt und wurde auf Grund seiner Neigung zur Reha geschickt. Die Therapeuten dort lehnten allerdings ab, ihn zu behandeln.
Caspar: "Pädophilie kann krank machen. Kann depressiv machen, kann das Selbstwertgefühl zerstören. Das treibt einen in die Isolation. Im Grunde genommen verstärken sich die Symptome dadurch, dass ich mich von den anderen zurückziehe, weil das negative Feedback zu groß war, nicht mehr tragbar war."
Schließlich bekam Caspar Hilfe im Projekt "Kein Täter werden".

Impulskontrolle, medikamentöse Unterstützung und soziale Kontakte

Die Therapiesitzungen, die ein bis zweimal pro Woche stattfinden, sind alles andere als leicht. Es geht um Fragen wie: Gab es schon Übergriffe? Werden Missbrauchsbilder konsumiert?
Tillmann Krüger: "Dann geht es natürlich sehr intensiv an die unterschiedlichsten Themen: eigene Sexualität, eigene Biografie, aber auch Empathie, Perspektivenübernahme, die eigene Verhaltenskontrolle, Stressmanagement."
So finden die Männer heraus, welche Gefahrensituationen sie besser meiden sollten.
Tillmann Krüger: "Wichtig ist beispielsweise genau zu verstehen, warum irgendetwas passiert, in welchen Situationen es vielleicht auch passiert, wozu Sexualität überhaupt eventuell auch dient? Manchen dient es ja auch ein Stück weit als Stressabbau."
Caspar: "Also wenn es mir nicht gut ging, hatte ich immer die Neigung, mir ein paar gute Momente zu verschaffen, indem ich einfach abschaltete, ich ging ins Netz. Und das war etwas, was anderen Leuten in der Gruppe auch so ging und dadurch haben wir daran gearbeitet: Wie merke ich, dass es mir so schlecht geht, dass ich aus dieser Realität kurz ins Internet fliehen möchte? Und was kann ich stattdessen machen?"
In der Therapie ging es auch darum nachzufühlen, wie es den Kindern auf diesen Bildern geht. Caspar hatte sich aus dem Internet Bilder besorgt, wurde dafür rechtskräftig verurteilt. Die Ausrede "man schaue sich bloß Bilder an" ist nicht zu akzeptieren, sagt er heute, nach anderthalb Jahren Therapie. Das sei immer ein realer Missbrauch.
Caspar: "Und ich habe eine Zeit lang auch ein Testosteronblocker genommen, weil für mich persönlich die Fantasien, die Kinder, die ich in meinen Kopf hatte, zu mächtig wurde, ich bin sie nicht losgeworden. Ich wollte die gerne loswerden, weil ich mein Denken in eine andere Richtung bringen wollte. Und dazu habe ich den Testosteronblocker genommen und der hat mir dabei auch sehr gut geholfen."
Wenn die sexuellen Bedürfnisse weniger intensiv sind, ist die Kontrolle des eigenen Verhaltens einfacher, erklärt Tillmann Krüger.
Tillmann Krüger: "Ein dritter Faktor kann eine Motivierung des sozialen Umfeldes sein. Manche Patienten berichten auch davon, dass sie sagen, sie haben einzelne Menschen in ihrem Umfeld eingeweiht. Das kann über eine soziale Kontrolle auch unterstützend sein, dass man sagt, Mensch, da ist gerade jemand in einer schwierigen Situation, in einer kritischen Phase. Da braucht es jetzt auch Unterstützung aus dem Umfeld, damit es nicht zu Übergriffen kommen."

Stigmatisierung treibt in die Isolation

Ablehnung und Vorurteile treiben die Betroffenen noch mehr in die Isolation, sagt die Psychologin Sara Jahnke. Die Risiken werden nicht kleiner, sondern größer.
Sara Jahnke: "Das heißt ja nicht, dass die Verantwortung nur auf der Gesellschaft liegt. Die liegt in erster Linie bei den Betroffenen. Aber ich denke, darüber sollte man auch nachdenken, dass man es den Betroffenen nicht gerade erleichtert ... Dass man, in dem Moment, wo man konfrontiert ist mit jemanden in seinem Freundeskreis oder in seiner Familie oder in seinem Bekanntenkreis, dass man in dem Moment vielleicht doch mal einen Moment überlegt, bevor man ihn verurteilt. Vielleicht mal mit ihm spricht und Hilfe anbietet - das ist sicherlich sinnvoller als von vornherein ohne Kenntnis der Person und der Umstände darauf zu schließen, das ist ein Monster. Mit dem will ich nichts zu tun haben."
Caspar: "Ich habe gelernt, dass mich nicht alle Leute ablehnen, sondern dass es inzwischen einige gibt, die über mich Bescheid wissen, die mich annehmen, die trotz der Neigung meine Freunde sind. Und dieser Kontakt, der hat mir sicherlich so viel gebracht wie die Therapie auch."
Caspar ist eine Art Netzaktivist geworden und engagiert sich auf der Webseite "Schicksal und Herausforderung", deren Herausgeber Max ist. Gemeinsam betreuen sie das Forum, stellen Aufklärungsmaterial, Informationen zum Thema ein, geben Buchtipps und sind auch Ansprechpartner für Fragen - sei es von Betroffenen oder deren Angehörige.
Max: "Unser Ziel ist es, einen geschützten Rahmen zu schaffen, in dem man sich frei unterhalten kann und wo auch Regeln bestehen. Wenn jetzt zum Beispiel jemand da ist, der dann irgendwie anfängt irgendwie rumzumotzen: Ja, Kinder wollen doch Sex oder so etwas, dann wäre so jemand recht schnell wieder raus."
Caspar: "Ich finde es so wichtig, dass es diese Webseite gibt, auf der sich Menschen austauschen können, die nicht missbrauchen wollen, die den Übergriff ablehnen. Diese Webseite ist eben auch offen für Fragen von Angehörigen."
Gerade im Chat, wo sich Leute melden, die noch nicht sicher sind oder gerade herausgefunden haben, was mit ihnen los ist.
Caspar: "Und da merkt man zum Teil auch die Verzweiflung heraus und ich versuche dann, zu sagen, Junge, beruhige dich erst einmal. Sprich die einzelnen Befürchtungen aus. Wir reden drüber. Du bist nicht allein. Du bist nicht allein - das macht schon viel aus."
Max: "Das ist überhaupt meine Motivation, weshalb ich im Internet aktiv bin. Um heutigen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen das zu bieten, was ich nicht hatte als ich an mir die Neigung bemerkt habe, nämlich gucken zu können, gibt es Vorbilder? Gibt es Leute, die sind da schon durch und wo ich gucken kann, wie ist es da gelaufen?"
Das öffentliche Klima hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Die Opfer von sexuellem Missbrauch müssen sich heute nicht mehr verstecken, wie es vor ein, zwei Jahrzehnten noch üblich war. Heute wird ihnen zugehört und – vor allem – auch geglaubt. Hinzukommt, dass Kinder in Familie und Schule gestärkt und aufgeklärt werden. Es wird mehr zu Kindesmissbrauch und Pädophilie geforscht als zu dem Zeitpunkt als das Projekt "Kein Täter werden" begann. Und diese Erkenntnisse fließen in die Therapien ein.
Sexualwissenschaftler gehen davon aus, dass sich sexuelle Präferenzen erstmals in der Pubertät offenbaren, also auch die Pädophilie. Ein frühzeitiges Eingreifen erhöht die Chance, dass man nicht übergriffig wird. Und so gibt es inzwischen auch ein eigenständiges Therapieangebot für Jugendliche, die eine sexuelle Ansprechbarkeit für Kinder haben. Unter dem Titel "Du träumst von ihnen" richtet es sich an 12- bis 18-Jährige, aber auch an ihre Eltern, Mitarbeiter von Jugendämtern oder Schulen.

Gesetzliche Krankenkassen übernehmen Kosten für anonyme Therapie

Aktuelle Nachuntersuchungen und erste wissenschaftliche Auswertungen des Pilotprojektes "Kein Täter werden" haben gezeigt, dass das Behandlungsprogramm die Risikofaktoren für sexuellen Kindesmissbrauch mindert. Deshalb werden Kosten der anonymen Therapie für die nächsten fünf Jahre von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen.
Sara Jahnke: "Ich finde das positiv, dass auch die GKV sich da der Verantwortung stellt und ich denke, das ist auch ein Zeichen, dass auch bei den Krankenkassen dieses Thema an Bedeutung gewinnen wird. Und ich hoffe, dass das dazu führt, dass sich generell die Therapiemöglichkeiten in den nächsten Jahren für Pädophile verbessern, d.h. es ist auch wenig Wissen vorhanden und natürlich auch so eine gewisse Abneigung -das gibt‘s ja auch, dass viele sagen, meine Warteliste so voll. Da muss ich mich ja nicht mit ihm hinsetzen, der pädophile Neigung hat, womit ich mich erstens nicht auskenne und was ich zweitens auch unangenehm finde."
Niemand hat sich diese Neigung ausgesucht, aber jeder ist für sein Verhalten selbst verantwortlich ist. Wichtig ist aber auch zu akzeptieren, dass die Gesellschaft ebenfalls Verantwortung trägt. Das haben die öffentlichen Debatten um den Skandal an der Odenwaldschule, am Canisius-Colleg oder die Aufarbeitung bei den Grünen, die bis Mitte der 90er-Jahre Pädophilie-Aktivisten in ihren Reihen geduldet haben, gezeigt. Man muss sich der Realität stellen.
Tillmann Krüger: "Wir kennen Beispiele, wo Menschen mit Pädophilie sich in ihrer Gemeinschaft offenbart haben und wo sie nicht ausgestoßen wurden und wo alle wussten, wir passen mit auf, dass diese Person möglichst nicht alleine mit einzelnen Kindern irgendwo zu tun hat. Sondern immer in Gemeinschaft, sodass es auch eine soziale Kontrolle gibt. Und wir denken, dass ein Umgang in dieser Art und Weise viel sicherer ist als diese Leute auszugrenzen oder aber nur ans Wegsperren zu denken. Also da brauchen wir in der Gesellschaft einen neuen Umgang, einen kreativen Umgang, neue Wege, offene Wege, um damit umzugehen. Das ist für uns alle und insbesondere für unsere Kinder der beste Schutz."
* Namen sind Pseudonyme
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