Über den Sinn von Gerüchten

Hans-Joachim Neubauer im Gespräch mit Susanne Führer |
Die Kulturgeschichte des Flurfunks hat Hans-Joachim Neubauer in seinem aktualisierten Buch "Fama - eine Geschichte des Gerüchts" untersucht. Kennzeichnend sei, dass jemand eine Nachricht in die Welt setze, ohne dafür verantwortlich gemacht werden zu können. Gerade das Internet sorge in dieser Hinsicht für eine neue Epoche, meint Neubauer.
Susanne Führer: "Fama – eine Geschichte des Gerüchts", so heißt ein Buch von Hans-Joachim Neubauer, das zuerst 1998 erschienen ist und nun in einer überarbeiteten und aktualisierten Ausgabe neu aufgelegt wurde. Guten Morgen, Herr Neubauer, herzlich willkommen!

Hans-Joachim Neubauer: Morgen, Frau Führer!

Führer: Man sagt über Sie, dass Sie gerne mit und für das Radio arbeiten. Ist das ein Gerücht?

Neubauer: Nein, es ist kein Gerücht, aber wer sagt das?

Führer: Das ist mir so zu Ohren gekommen, alle sagen das.

Neubauer: Wenn es alle sagen, könnte es doch ein Gerücht sein.

Führer: Warum wäre es kein Gerücht, weil es stimmt?

Neubauer: Nein, das hat keine Relevanz, ob es wahr ist oder falsch, für ein Gerücht, sondern es ist nicht wichtig genug. Nur die wichtigen Dinge werden Gerüchte und natürlich die unbestimmten.

Führer: Na ja, für mich könnte es ja doch wichtig sein, ob Sie jetzt sagen, Radio finde ich doof.

Neubauer: Ja, aber es braucht noch eine Menge Leute, um aus einer Vermutung ein Gerücht zu machen. Ob es für die anderen auch so wichtig ist – na ja, vielleicht ja schon.

Führer: Nehmen wir mal ein anderes Beispiel. Es kommt ja immer darauf an, für wen etwas wichtig ist. Unser hausinternes Gerücht oder unsere hausinterne Gerüchteküche heißt hier bei uns Flurfunk, der Flurfunk weiß immer schon lange, bevor es offiziell bekanntgegeben wird, wer neuer Chef wird, wer die neue Brüssel-Korrespondentin wird oder ob es eine Programmreform geben wird. Und der Flurfunk hat ja sogar manchmal Recht, das heißt, Gerüchte müssen nicht notwendig falsch sein?

Neubauer: Nein, überhaupt nicht, sie sind gar nicht über ihren Wahrheitsgehalt definiert. Entscheidend ist eher, dass jemand eine Nachricht in die Welt bringt, an der man teilhaben kann, ohne dass man verantwortlich gemacht wird dafür. Man sagt also nicht: Ich habe von dem und dem gehört, das jene oder jener nach Brüssel geht, sondern man sagt: Die Leute erzählen sich, ich habe gehört, der Flurfunk weiß ... Es gibt diesen Hauptsatz immer, der einen Agenten präsentiert, der aber anonym ist. Man kann also sozusagen über das Gerücht anonym sprechen und doch sozusagen an dem Thrill dieser tollen Geschichte teilhaben und gucken, wie die andere Person gegenüber da feuchte Augen kriegt bei diesen schönen Geschichten.

Führer: In Ihrem Buch unternehmen Sie ja sozusagen eine kleine Kulturgeschichte des Gerüchts – klein ist jetzt gemein gesagt, also von den alten Griechen bis zum 11. September 2001. Die Inhalte der Gerüchte haben sich natürlich immer geändert, denn so ein Gerücht muss ja aktuell sein, sonst hat es ja keine Bedeutung. Aber das Prinzip ist offensichtlich immer dasselbe, eins haben Sie jetzt gerade genannt, es gibt keinen Autor, man sagt nicht A, B hat gesagt, sondern der Flurfunk behauptet. Was macht noch ein Gerücht aus?

Neubauer: Na ja, wie gesagt, die Nachricht, die kolportiert wird, muss wichtig sein und unklar. Ihr Wahrheitsgehalt muss unklar sein. Wir wissen nicht genau, ob es stimmt oder ob es nicht stimmt. Und das Gerücht bietet dann eine Lösung an für ein Problem, das sich vielleicht vorher noch gar nicht so formuliert hat, aber das Gerücht ist wie, ja, man könnte sagen, wie die Träume so, ja, also eine Antwort auf eine Situation. Gerüchte sind Deutungen. Sie deuten einen Geschehensraum aus, indem sie eine Antwort geben auf etwas, was uns irritiert, auf ein Problem, auf eine unklare Situation. Wir müssen doch wirklich wissen, wer nach Brüssel geht, ja? Und indem wir das alle wissen wollen, haben wir schon die gute Bedingung für ein wunderbares Gerücht.

Führer: Für das nächste Beispiel, das Sie in Ihrem Buch erwähnen, scheint mir das nicht so recht passend. Sie erzählen da eine Geschichte aus der französischen Stadt Orléans, in der das Gerücht aufkam, die Juden gleich die Händler, also die Geschäftsinhaber dort, würden in ihren Geschäften die braven, französischen Mädchen betäuben, um sie dann an orientalische Bordelle zu verkaufen. Und dieses Gerücht macht die Runde und schwillt an, bis sich schließlich die Menge zusammenrottet und schreit: "Kauft nicht bei Juden!", und diese Geschichte spielt 1969, das muss man sich mal vorstellen. Da scheint mir doch mehr so etwas wie das kollektive Gedächtnis, der seit Jahrhunderten, Jahrtausenden gepflegte Antisemitismus eine Rolle zu spielen, oder?

Neubauer: Ja, dieser Antisemitismus ist ja eigentlich seit dem 12. Jahrhundert überliefert mit dieser Geschichte, der natürlich eine Ritualmordgeschichte zugrunde liegt. Das ist eigentlich der Kern dieses Gerüchts, der hier wieder neue Triebe bekommt, neu keimt. Das hier, die Situation, auf die hier geantwortet wird, die ist natürlich unklar, die kennen wir jetzt nicht, wir wissen nicht genau, was da los war. Der Edgar Morin, der das dann vor Ort untersucht hat, mit einer Gang von Soziologen ist er aus Paris dahin gefahren. Ich habe ihn hinterher mal gesprochen vor ein paar Jahren noch, und er hat mir erzählt, wie das da war. Die kamen da an mit ihren Mikros und ihren großen Fragebögen und haben alles aufgezeichnet, haben versucht, herauszufinden, was los war und fanden die Antwort, dass die Leute sich eigentlich wirtschaftlich unsicher fühlten und dass dafür dann dieses Gerücht gewissermaßen irgendwas erklärte. Die Juden machen so gute Geschäfte, während es uns so schlecht geht.

Führer: Wie konnte das Gerücht denn aufgehalten werden, denn das klingt ja nach einer sehr bedrohlichen Situation?

Neubauer: Das war auch sehr bedrohlich, das war extrem bedrohlich. Ich sage immer, das ist … Ich kenne kein einziges Pogrom – und ich hab mich mit vielen beschäftigt, mit historischen Pogromen –, ich kenne keines, das ohne Gerüchte in die Welt gekommen ist. Und es wurde hier dadurch besänftigt sozusagen, dass es besprochen wurde, dass in den Zeitungen darüber geschrieben wurde und vor allen Dingen war irgendwann die Welle vorbei, man identifizierte die scheinbar oder angeblich vermissten Leute, die waren dann doch da, die waren nicht weg, die Mädels waren nicht entführt worden und es gab diese Keller nicht, in denen die Geheimtüren in die Kanalisation führten.
Führer: Deutschlandradio Kultur, ich spreche mit dem Autor und Literaturwissenschaftler Hans-Joachim Neubauer über Gerüchte, wie sie entstehen und wie sie sich verbreiten. Herr Neubauer, zwei Ereignisse haben ja dem Gerücht noch mal jetzt so richtig Auftrieb gegeben, zum einen die Anschläge vom 11. September 2001 und zum anderen die Verbreitung des Internets. Durch das Internet ist ja nun dieser schnellen und auch weltweiten Verbreitung von Gerüchten überhaupt keine Grenze mehr gesetzt. Erleben wir sozusagen eine neue Epoche des Gerüchts?

Neubauer: Das halte ich gut für möglich. Ich glaube das auch. Das Gerücht beruht ja … Das eigentliche Medium des Gerüchts ist ja das Hörensagen. Man hat eben was gehört und sagt es weiter. Und das Internet funktioniert ganz ähnlich, das heißt, die Informationen, die wir bekommen, erhalten wir schneller, als wir die Möglichkeit haben, sie zu überprüfen und ihre Quelle zu checken. In dem Moment gibt es sozusagen einen Vorsprung dieser Unsicherheit gegenüber der Sicherheit, gegenüber der Überprüfbarkeit, gegenüber dem sogenannten Realen. Und in dieser zeitlichen Differenz, da siedelt dann vielleicht einmal ein sehr wichtiges Gerücht an. Wir haben das gehabt nach dem 11. September. Ich meine, das Internet war voll mit diesen Verschwörungstheorien, mit diesen Geschichten, in denen uns erzählt wurde, dass das alles jüdische Mossad-Attentate waren und so weiter und so weiter, ja? Das alte Ding. Adorno hat gesagt, der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden und da hat man es mal wieder gesehen an diesen Geschichten, die dann kamen, dass das stimmt, was Adorno gesagt hat. Und diese Struktur des Internets, dass es so schnell ist, leistet dem Vorschub.

Führer: Die Schnelligkeit ist also das Spezifische?

Neubauer: Ja, natürlich, es ist schnell, überall, sofort.

Führer: Liegt es nicht vielleicht auch daran, dass sozusagen das Internet ein bisschen an die Stelle … Früher hat man gesagt, es stand in der Zeitung, und damit hatte es sozusagen eine Plausibilität, so eine Glaubwürdigkeit, so eine Autorität. Und heute: Junge Leute sagen, ja ja, das steht im Internet, also ohne jetzt weiter … Im Internet steht ja viel und es gibt ja verschiedenste Quellen, dass das Internet auch so als eine Autorität anerkannt wird?

Neubauer: Ja, da haben Sie völlig Recht. Es verschiebt sich so etwas das Bild dessen, was wir wirklich für wahr halten können, was wir für falsch halten. Unser Begriff von Realität verschiebt sich. Das können wir vielleicht noch gar nicht so genau messen, aber wenn wir uns dann vergleichen mit unseren Kindern oder später mit unseren Enkeln werden wir das sehen, dass die ganz anders definieren, was sie für wahr und tatsächlich halten, als wir das jetzt tun. Und auch das könnte natürlich Gerüchten, wichtigen Gerüchten oder gefährlichen Gerüchten Vorschub leisten.

Führer: Kann man sagen – Sie haben das kurz erwähnt mit dem 11. September 2001, dass da viele Gerüchte kursierten – mir ist dazu eingefallen sozusagen eine Sternstunde des Gerüchts, wenn man jetzt mal das Gerücht jetzt so bewerten will?

Neubauer: Ja, das war natürlich eine Sternstunde des Gerüchts, ganz klar. Und vor allen Dingen, das Interessante ist, dass diese Geschichten ja bestehen bleiben, die sind immer noch im Netz. Die kann sich ja jeder wieder rausholen und die können auch wieder neu aktiviert werden, neu perspektiviert werden auch, für neue Situationen wieder benutzt werden als "Quellen" in Anführungszeichen.

Führer: Kann man aber nicht andererseits sagen, dass auch Dank des Internets es noch nie so leicht geworden ist, etwas zu überprüfen?

Neubauer: Ja, kann man sagen. Trotzdem glaube ich, dass es diesen Zeitunterschied geben kann und geben wird zwischen Alarmierung und Überprüfung.

Führer: Es ist doch aber trotzdem so, dass, wie soll ich sagen… Ob ich jetzt ein Gerücht glaube oder ob ich es weitertrage, das hängt doch stark von mir ab, also von meinen Einstellungen, von meinen Haltungen, von meinen Vorurteilen, um jetzt mal auf diese mündigen, kritischen Bürger vielleicht doch letzten Endes zu kommen, der ja auch verantwortlich ist dafür.

Neubauer: Das ist er, wirklich. Da kann man drauf setzen, darauf muss man setzen, das ist die Hoffnung, die wir haben, dass das Gerücht nicht alles erobern wird, auf die kritische Potenz des Bürgers. Aber man muss andererseits auch sehen, dass Gerüchte einfach was Natürliches sind in der Kultur, wenn man es so in diesem Gegensatz ausdrücken kann. Gerüchte gehören einfach dazu zum Sprechen, weil wir brauchen diese Modalität des anonymen Sprechens auch, des Ausprobierens einer Nachricht, wie wirkt die auf jemand anderen, wie kann man etwas testen in der Kommunikation, dessen wir uns selber noch gar nicht sicher sind? Und darum sind Gerüchte einfach Teil der menschlichen Kultur und werden es wohl auch bleiben.

Führer: Sie haben sich ja nun viele Jahre mit Gerüchten beschäftigt. Gibt es sozusagen ein Lieblingsgerücht, was Sie haben?

Neubauer: Ja, es gibt ein Lieblingsgerücht, und das ist aus einem Roman, Jurek Becker, "Jakob der Lügner". Das ist der Roman eines Gerüchts und da kommt in ein Getto in Polen das Gerücht, über Jakob den Lügner verbreitet, dass die Russen im Anmarsch seien und das Getto bald freisetzen würden bald. Und unter dem Eindruck dieses Gerüchtes entsteht Kultur neu. Die Leute fangen an, sich zu verlieben, die fangen an, sich zu verheiraten, die fangen an, Schulden einzutreiben. Ein neues Leben blüht auf im Schatten dieses Gerüchts. Es war leider ein falsches Gerücht.

Führer: Weil Jakob der Lügner behauptet, er habe es im Radio gehört, und er hat gar kein Radio.

Neubauer: Im Radio, genau, und der hat kein Radio, ja.

Führer: Hans-Joachim Neubauer war das, sein Buch "Fama – eine Geschichte des Gerüchts" ist gerade bei Matthes & Seitz erschienen und vielen Dank für Ihren Besuch im Radiofeuilleton, Herr Neubauer.

Neubauer: Ich danke Ihnen, Frau Führer.