Über den Boom von Reisedokus

Die Vermarktung der Selbstfindung

29:32 Minuten
Vorwiegend westliche Backpacker entspannen beim Abendlicht auf der Terrasse einer Bar am Flussufer.
Wie sich das viele junge, westliche Touristen so vorstellen, wenn sie nach Asien fahren: Backpacker in der Utopia Bar am Flussufer in Luang Prabang, Laos. © picture alliance / Juergen Held
Von Pia Masurczak und Lisa Westhäußer · 11.08.2020
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Atemberaubende Landschaften, lächelnde Menschen und sich selbst spüren: Reisefilme und Blogs boomen mit solchen Bildern. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem die Reisenden selbst. Eine Reflexion über Privilegien bleibt oft außen vor.
"Ich wollte hinaus. Mich spüren. Ich habe Afrika durchquert. Von unten nach oben. Allein. Nur mit dem Fahrrad. Den Kontinent aus eigener Kraft erfahren... / Die Welt ist schön. Und geht raus. Und: Your fate is what you create… / Wir haben in unserem Film unsere Geschichte und unsere Reise dokumentiert. Raus aus dem Alltag und rein ins Abenteuer."
Sie haben sich alle auf den Weg gemacht: Gwen und Patrick, Ulli und Lena, Ben und Hannes und Anselm. Sie waren Jahre unterwegs und brachten eine Menge mit von ihren Reisen. Erfahrungen, Vorsätze, Bekanntschaften, Projekte, Musik – und eine Menge Filmmaterial. Bilder von einem einzelnen Geländewagen in der Wüste Westafrikas, Elefantenherden am Wegrand, einem kleinen Zelt vor kargen Berglandschaften, der Weite des Indischen Ozeans.
Daraus entstanden Reisedokus, Geschichten vom Ausbruch, Abenteuer, gefundenem Glück. Geschichten, die offensichtlich einen Nerv treffen und immer mehr Menschen in die Kinos ziehen. So war es auch bei den zwei Freunden Hannes Koch und Ben Schaschek, die zusammen fast fünf Jahre um die Welt gesegelt sind.
"Eigentlich war das ja eine spontane Geschichte. Ich habe in Australien studiert, Musik studiert, und dann meinen Rückflug verpasst. Und dann am Strand in Sydney ein Segelboot vorbeisegeln sehen und dachte, warum nicht einfach ein kleines Segelboot kaufen und damit nach Hause segeln."

"Leute, wir machen 'nen Kinofilm"

Ben überredet seinen Freund Hannes. Die beiden hatten sich beim Tontechnikstudium kennengelernt. Sie beschließen, auch unterwegs Musik aufzunehmen.
So treffen sie zum Beispiel einen südafrikanischen Gitarristen in Trinidad und Tobago, als ihr kaputtes Boot gerade in den Hafen geschleppt wird. Zufallsbekanntschaften wie ihn nehmen sie auf, filmen sie an menschenleeren Stränden und produzieren Musikvideos. Doch daraus wird mehr, als sie einen Regisseur kennenlernen.
"Er hat gesagt: 'Leute, es geht nicht nur um die Musik, es geht auch um euch, ihr müsst euch selber filmen.' Und das war am Anfang ganz komisch für uns, die Kamera auf einmal umzudrehen und zu sagen, jetzt machen wir das und das. Dann haben wir aber angefangen, hatten noch eine neue Kamera dazu und haben mehr und mehr gefilmt. Und am Ende haben wir wirklich versucht, jeden Tag, jeden Schritt irgendwie zu begleiten. Aber erst nachdem 'Weit' rauskam und da eine Tür aufgemacht hat für andere Filmemachende, hat Micha gesagt: 'Leute, wir machen 'nen Kinofilm.'"

Auf dem Motorrad durch die iranische Wüste

"Weit" – das war 2017 der Beginn der Reisefilmwelle in deutschen Kinos. In "Weit" dokumentiert das Freiburger Paar Gwen Weisser und Patrick Allgeier seine Reise um die Welt. Geplant hatten sie das Ganze, so sagen die beiden, als Film für Freunde und Familie. Ihnen wollten sie zeigen, wie sie in der mongolischen Steppe in einer Jurte übernachten oder auf dem Motorrad durch die iranische Wüste fahren.
Dann übernimmt eine Lokalzeitung kurze Ausschnitte aus dem Filmmaterial der beiden Weltreisenden für ihre Homepage. Die wecken so viel Interesse, dass Weisser und Allgeier sich entschließen, einen Film daraus zu machen. Und der läuft gut, zuerst nur in den Kinos ihrer Heimatstadt Freiburg, dann in ganz Deutschland. Eine halbe Million Kinobesucher sehen sich "Weit" an, der Film wird zur erfolgreichsten Dokumentation des Jahres. Gwen Weisser und Patrick Allgeier werden in Talkshows eingeladen, unter anderem das ZDF berichtet über den Film.

Reisen als Beruf

Seit dem Erfolg von "Weit" starten immer mehr Reisedokus in deutschen Kinos. Zehn waren es allein im Jahr 2019. Dazu kommen unzählige Reiseclips auf Youtube und Blogs. Hier sprechen Reisende über Streetart-Touren auf Tasmanien, vegan Essengehen in Thailand und die besten Reisekreditkarten. Einige Blogger in Deutschland können davon sogar leben.
Doch Reisedokus bieten ihren Zuschauerinnen und Zuschauern mehr als nur praktische Tipps und kurze Texte. Sie versprechen Authentizität und Nähe. Echte Menschen erzählen von ihren Reisen, sie nehmen uns mit zu ihren intimsten Momenten.

Geschöntes Bild der Reise

"Es ist ja sozusagen das Versprechen", erklärt Anna Sennefelder. "Ihr dürft mit uns mit, die Kamera ist immer dabei, und ihr könnt alles sehen. Tatsächlich wird aber natürlich nicht alles erzählt, das ist ja auch gar nicht möglich. Und das ist ja immer die Frage der ästhetischen Vermittlung: Was wähle ich aus, was zeig ich wie." Sennefelder ist Literaturwissenschaftlerin und forscht an der Universität Freiburg zu modernen Reiseerzählungen. Dabei beobachtet sie, dass Einblicke in intime Momente der Reisenden als Beleg für etwas anderes dienen: Authentizität. Reisedokus funktionieren unter anderem deswegen so gut, weil die Zuschauerinnen und Zuschauer sie als echt, als authentisch wahrnehmen.
Allerdings zweifelt Sennefelder diese Authentizität an. Die meisten Filme zeigen ein geschöntes Bild der Reise, Negatives wie Streit oder Geldsorgen kommen kaum vor.


Lena Wendt und Ulrich Stirnat haben sich auf ihrer Reise durch Westafrika öfter mal gestritten. Und zeigen das auch in "Reiss aus. Zwei Menschen. Zwei Jahre. Ein Traum", ihrem Kinofilm. "Als wir die Entscheidung getroffen haben, dass wir einen Film machen wollen", erzählt Ulrich, "haben wir im Anschluss ein, zwei Reisedokus angeschaut. Und auf jedem Klappentext steht immer 'authentisch' hinten drauf. Das war das letzte Quäntchen, was uns immer überall gefehlt hat: Es war nicht wirklich authentisch. Und das wollten wir bewusst anders machen, mal wirklich auch die Schattenseiten zeigen. Die gibt es beim Reisen. Jeder, der länger unterwegs war, weiß es."
Ulrich Stirnat und Lena Wend auf ihrer Reise. Ein junger Mann und eine junge Frau stehen vor einem Bus.
Ulrich Stirnat und Lena Wend wollten positive Erlebnisse in Westafrika in den Vordergrund ihres Filmes stellen. Negatives wolle niemand sehen, so ihre Erfahrung.© privat

Schlechtes Wetter, Beziehungsprobleme, Krankheiten

Bei "Reiss aus" geht es also auch um schlechtes Wetter, Beziehungsprobleme und Krankheiten. Dafür haben Ulli Stirnat und Lena Wendt intimes Filmmaterial genutzt. Beide hatten während der Reise Videotagebuch geführt. Ein Regisseur, den sie nach ihrer Rückkehr kennen lernen, empfiehlt ihnen, dieses Material zu nutzen.
Authentisches Material? Die Literaturwissenschaftlerin Anna Sennefelder sieht das anders: "Es wird natürlich klassischerweise gesagt, dass die Kamera nur nebenbei läuft und nur abfilmt, was sich sowieso ereignet hat. Das hat aus meiner Sicht trotzdem einen Inszenierungscharakter. Wenn ich mich entscheide, die Erfahrung zu medialisieren und in Umlauf zu bringen, ist es was anderes, als wenn ich die Erfahrung einfach nur für mich mache."

Die positive Message zählt

Ein Teil der Faszination an Reisedokus liegt also im Versprechen von Nähe und Authentizität. Darüber hinaus reizt auch die Botschaft der Filme das Kinopublikum: Der Aufbruch in eine andere Welt, der Mut, alles hinter sich zu lassen. Filme wie "Weit", "Reiss aus", "Blown away" und viele andere haben die Botschaft: Du kannst es schaffen. Auch du kannst deinen Traum erfüllen. Wenn du willst, morgen.


"Wir hatten schon die unglaublichsten und unterschiedlichsten Reaktionen auf unseren Kinofilm", erinnert sich Ulrich Stirnat. "Ein Typ kam auf uns zu und meinte: 'Jungs, danke euch für den Film, ich weiß, was ich machen muss. Ich kündige morgen und bin weg. Danke euch, ciao.' Das war alles, was er gesagt hat. Dann war er weg."
Eine Frau sitzt auf dem Pidurangala Felsen in Sri Lanka.
Der Pidurangala Felsen in Sri Lanka – beliebt bei Alternativtouristen.© picture alliance / dpa / Matthew Williams-Ellis
Aufbrechen und bei sich selbst ankommen. Das ist ein Skript, dem viele Reisefilme, Blogs und Bücher über das Reisen folgen. Reisen bedeutet hier: die Komfortzone verlassen und zu sich selbst finden.

Reisen ist Selbstbestimmung

"Ganz spannend" findet das Anselm Pahnke, "weil die Menschen heutzutage nicht nur das Reisen mögen, weil sie eine andere Kultur kennenlernen wollen, sondern weil sie sich auch selbst dabei so sehr erleben, weil sie in einen Raum geworfen werden, in ein Meer, in dem sie erst wieder Schwimmen lernen müssen und viele Momente unbekannt sind. Und dadurch kommt man ja in ein ganz anderes Gefühl zu sich, zu dem Umfeld, und in eine große Lebendigkeit, weil die Sicherheit einfach keine Rolle mehr spielt."
Das Meer, in dem Anselm Pahnke wieder schwimmen lernen wollte, war der afrikanische Kontinent. Mit dem Fahrrad ist er einmal von Süd nach Nord geradelt, die meiste Zeit alleine. Auch er hat diese Zeit dokumentiert, sein Film "Anderswo. Allein in Afrika" läuft gut in den Kinos.
"Was sich eben gut verkaufen lässt, ist die positive Message der Selbstfindung, und da ist Reisen ebenso das Vehikel schlechthin. Beim Reisen zeigt sich dir die Welt, wie sie ist. Du machst authentische Erfahrungen. Das gibt es schon seit dem 16. Jahrhundert in Reiseberichten als Motiv. Aber Reisen ist Selbstbestimmung, ist Erfahrung von Autonomie. Und das möchte man dann auch erzählt bekommen."
Der Reisende, der physische Grenzen und dabei gleich seine eigenen psychischen überwindet. Das ist eine Erzählung, die seit hunderten Jahren in Europa funktioniert, beobachtet die Literaturwissenschaftlerin Anna Sennefelder: "Ich sage immer, das ist wie die mittelalterliche Aventiure. Also man geht weg von der Gesellschaft, macht schwere, widerständige Erfahrungen und kehrt dann als geläuterter Held zurück."

Die Reisenden selbst rücken in den Mittelpunkt

In eine Gesellschaft allerdings, in der anders als im Mittelalter, Selbstverwirklichung und die individuelle Verantwortung für das eigene Glück zentrale Werte sind. Deswegen stehen bei Reisedokumentationen und Blogs stärker als je zuvor die Reisenden selbst, ihre Erfahrungen, ihr Blick auf die Welt im Vordergrund. Anselm Pahnke bestätigt das auch für seinen Film "Anderswo":

"Mein Cutter hat alles einmal durchgeschaut, ein zweites Mal durchgeschaut und mir dann irgendwann gesagt, dass diese Reise eigentlich besonders ist und nicht unbedingt in Afrika hätte stattfinden müssen, weil es eine Reise zu sich selber war, und das Ganze in einer exotischen Welt."
So bildet das Reiseziel den Hintergrund für die eigene Selbsterfahrung. Filme wie "Weit" oder "Anderswo" erzählen immer wieder vom Wunsch, nach einer anderen Art zu leben. In "Reiss aus" ist die Reise durch Westafrika der Ausweg aus dem drohenden Burn-out. Für Anselm Pahnke ergibt sich aus dem Unterwegssein auf dem Fahrrad ein neuer Lebensrhythmus. Ein Stück weit handeln Reiseerzählungen also immer auch vom Ausbruch aus der eigenen Gesellschaft:
"Afrika, Afrika. Endlich. Ich könnte umfallen vor Glück. Seit ich klein bin, ziehen die Menschen hier mich magisch an. Es ist wie nach Hause kommen. Warum kann ich in Deutschland nicht dieses Freiheitsgefühl empfinden, was mich jedes Mal überkommt, wenn ich afrikanischen Boden betrete. So hart das Leben hier ist, so gelebt wird es auch. Mein Alltag daheim – gefangen in Arbeiten, bis der Arzt kommt, Frustkonsum und einer Million Versicherungen – kommt mir dagegen wie ein schlechter Witz vor. Ein leider sehr trauriger Witz."

Oft zeigen Reisedokus Stereotype

"Das hat es bei den Expeditionsreisenden gegeben, das hat es bei Goethe gegeben", sagt die Journalistin Martina Backes, "das hat es bei Rousseau gegeben, das hat es in der Geschichte, wenn man sich umschaut, sehr häufig gegeben, dass die sogenannten Anderen oft das exakt konkrete Gegenmodell zur eigenen erlebten Gesellschaft darstellen. Man sieht eben nur das, was man weiß, oder man sieht eben auch gerne das, was man sehen möchte, wenn man nicht genau nach diesen Verhältnissen fragt."
Martina Backes beschäftigt sich als Mitarbeiterin der nord-südpolitischen Organisation Informationszentrum 3. Welt (iz3w) kritisch mit Fernreisen. Für sie werden aus den Menschen in den bereisten Ländern schnell Statistinnen und Statisten, die die Erzählungen der Reisenden vervollständigen. Ihre eigene Stimme und ihr Blick auf die Reisenden finden dabei in den Filmen wenig Platz.
Ein Grund dafür ist die Sprachbarriere: Dort, wo Englisch oder Französisch nicht mehr weiterhelfen, werden Gespräche schwieriger. Und dennoch liegt der Nullpunkt von Filmen wie "Weit" bei den Reisenden selbst: Ihre Bilder und Kommentare ordnen die Welt für die Zuschauer und Zuschauerinnen, während ihnen kaum eine andere Perspektive entgegengehalten wird. Und dabei, sagt Backes, greifen die Filme oft unbewusst auf altbekannte Stereotype zurück:

"Improvisationstalent, farbenfrohe Bilder, unkomplizierte Begegnungen, Kinder, die lachen, attraktive geschmückte Frauen, sind ja auch sehr stark in der Bildsprache vorhanden. Zum Improvisieren dieses, ja, wie repariert man jetzt 'nen LKW. Und da, wo es gar nicht mehr weiter geht, wissen die Leute eben doch damit umzugehen. Man könnte jetzt natürlich bösartig sagen: Das ist so ein bisschen die Kulisse, vor der man sich selbst als besonders zugewandter Reisender inszenieren kann."
Filmemacherin Lena Wendt widerspricht der Kritik energisch: "Ich glaube sogar vielmehr, dass die Menschen, die uns in dem Film begegnen, dadurch, dass wir so viel von uns preisgeben, für jeden Zuschauer sehr schnell zu Freundinnen und Freunden werden. Alles andere wäre ein Zoobesuch. Das wäre mit der Kamera draufgefilmt: In ein Dorf reingelaufen, und dann erzähle ich die Geschichte von irgendjemandem, dem ich gar nicht nahekommen kann. Ich kann ihm eigentlich viel besser nahekommen, wenn der Zuschauer mit mir fühlt, wie es mir mit der Person geht. Wenn der Zuschauer sieht, wie wir gemeinsam tanzen, wie wir gemeinsam aus einem Pott essen."
In welche Welt werden die Zuschauerinnen und Zuschauer überhaupt mitgenommen? Fragt man beim Kinopublikum nach, wird deutlich: Im Zentrum steht vor allem die positive Erfahrung einer gastfreundlichen, offenen und herzlichen Welt, die die Reisenden empfängt.

Hintergrundberichte verkaufen sich schwer

Die Welt und ihre Menschen sind im Kern gut, trotz allem, was man in den Medien sieht? Diese Botschaft scheint einen Teil der Anziehungskraft auszumachen, die von modernen Reiseerzählungen ausgeht. Sie beschäftigen sich mit individuellen Träumen, nicht mit der komplexen soziopolitischen Lage vor Ort. Dass Hintergrundbeiträge über den globalen Süden ohnehin schwer zu verkaufen sind, diese Erfahrung hat Lena Wendt gemacht:
"Ich komm ja vom Fernsehen, und ich muss sagen: Es ist nicht so, als hätte ich nicht sogar manche Themen angeboten bei gewissen Medien. Es interessiert hier nur kein Schwein. Es interessiert hier einfach niemanden, was in Westafrika ist. Wie geht es einem Rollstuhlfahrer in der Regenzeit in Abidjan? Wie ist es mit den Kleiderspenden in der Elfenbeinküste? Wie mit dem Leben der Weber und Fischfang? Was bringt es mir, solche Themen groß zu drehen, viel Arbeit und Mühe reinzustecken und jemandem vor Ort Hoffnungen zu machen, dass das hier jemand sehen will, wenn es dann eben keiner sehen will."
Lena Wendt und Ulrich Stirnat haben sich unter anderem deswegen dafür entschieden, die positiven Erlebnisse in Westafrika in den Vordergrund des Filmes zu stellen, statt sich mit politischen Themen zu beschäftigen. Nach diesem Prinzip verfahren auch Ben und Hannes, so sehen wir es in "Blown Away". Nach über 3000 Kilometern mit Zug und Auto einmal längs durch Indien kommen die beiden Tontechniker in Kaschmir an. Ohne vorher organisierte Unterkunft, ohne eine erste Anlaufstelle stranden die beiden in einer Region, die in Europa vor allem wegen des Konflikts zwischen Indien und Pakistan wahrgenommen wird. In den Medien ist von Kaschmir meist nur dann die Rede, wenn die indische Armee wieder einmal eine Ausgangssperre verhängt hat.


Dort treffen sie auf Mastana, selber Musiker mit einer Band, der er ihnen vorstellt. Mastana nimmt sie bei sich auf. "Nach ersten Berührungsängsten fühlt man sich eigentlich komplett in den Kreis der Familie aufgenommen", heißt es im Film.
Ben Schaschek (l) und Hannes Koch  haben die Musikdoku "Blown away" gedreht. Drei Männer sitzen mit Instrumenten in eine Raum. 
Ben Schaschek (l) und Hannes Koch haben die Musikdoku "Blown away" gedreht. "Wir haben genauso gelebt wie die Locals vor Ort."© privat
"Wir haben einfach nur festgehalten, was wir miterlebt haben. Wir wollten auch gar nicht unbedingt immer so von einer Touristensicht draufschauen, sondern wir wollten uns immer unter die Menge mischen. Wir haben ja auch mitgetanzt auf einer Hochzeit in Kaschmir. Da hat ein Typ angefangen zu tanzen, und Hannes und ich haben einfach mitgetanzt. Alle haben sich kaputt gelacht. Wir wollten Teil des Ganzen sein. Wir haben uns mit der linken Hand den Hintern abgewischt, wenn mal kein Klopapier war. Wir haben genauso gelebt wie die Locals vor Ort."

Das Privileg des freien Reisens

Auf eine andere Art reisen, näher dran sein: Diese Idee steht am Anfang vieler derzeit boomender Reisefilme. Als Gegensatz zum "Tourismus". Denn der steht in dieser Vorstellung für Pauschalreisen, für inszenierte Exotik, für eine Barriere zwischen dem Reisenden und der Fremde. Nähe zu den Menschen in den bereisten Ländern ist dagegen ein Maßstab für eine gelungene Reise. In den Vordergrund rückt das Wie, nicht das Was, sagt Anna Sennefelder:
"Der Modus ist wichtiger als das Ziel oder die Akteure. Es geht darum: Wie wird gereist? Wie geht richtiges Reisen? Es geht nicht mehr darum: Wohin reist man, wer reist, wer kann reisen? Das sind alles Fragen, die keine so wichtige Rolle spielen wie das Wie. Es gibt ja in der Reiseforschung diese klassische Distinktion zwischen Touristen und Reisenden, dass man sich vom Pauschaltourist als wahrer Reisender irgendwie abgrenzen kann. Die ist schon seit den 60ern als dumm und obsolet widerlegt worden, aber sie existiert immer noch. Dieses Low-Budget-Reisen, Reisen by fair means, man ist erdverbunden, man fliegt nicht, man reist per Anhalter. Das alles suggeriert sozusagen, dass man auf diesem Wege authentischere Erfahrungen machen kann als auf anderen Wegen."
Diese offene Welt ist auch eine verfügbare, zumindest für die Reisenden aus dem globalen Norden. Zugangsvoraussetzungen wie Visa oder Geld spielen in den Filmen eine untergeordnete Rolle, wenn sie überhaupt angesprochen werden. Die Möglichkeit, für eine gewisse Zeit alle ökonomischen Zwänge hinter sich zu lassen und mehrere Jahre nicht arbeiten zu müssen, stellt selbst schon ein Privileg dar. Denn schließlich wartet auf die Rückkehrer im Anschluss ja trotz allem ein Sicherungsnetz aus abgeschlossener Ausbildung, Sozialstaat, Familie und Freunden. Zum Eintrittspreis in die bereiste Welt werden stattdessen die Anstrengungen des Reisens, die Müdigkeit und die fehlende gemeinsame Sprache.
So wie bei Anselm Pahnke, der unterwegs an Malaria und Typhus erkrankt. Im Sudan, kurz vor Ende seiner Reise, kämpft er auf dem Fahrrad wochenlang mit dem Sahara-Wind und den an ihm vorbeirauschenden LKWs: "Es ist hart, es ist echt scheiße-hart", sagt er in seinem Film.

Die eigenen Privilegien bleiben unreflektiert

Einfach losfahren und am Leben fremder Menschen teilhaben: Das ist alles andere als selbstverständlich, sagt die Journalistin Martina Backes. Eine kritische Betrachtung der ökonomischen und sozialen Voraussetzungen für diese Art des Reisens gibt es in den Filmen aber meist nicht. Ein Publikum würde sich dafür vermutlich auch nicht gleichermaßen begeistern lassen.
"Dieses Eindringen in die feinsten und auch sensibelsten Poren der Gesellschaft – ich glaube, dass diejenigen, die da besucht werden, auch nicht immer die Kontrolle darüber haben, wie sie jetzt mit den Besuchenden eigentlich umgehen können, weil sie in einer schwächeren Position sind. Weil sie eben nicht mobil sind, weil sie nicht kosmopolitisch unterwegs sind, weil sie diese Möglichkeiten nicht haben. 'Wer hat hier eigentlich welche Privilegien, um in diesen Backstage-Bereich, in diesen privaten Bereich eindringen zu können?' Diese Reflektion fehlt nach meinem Verständnis bei den Protagonisten und Protagonistinnen dieser Filme komplett."
In "Reiss aus" kommentiert Lena Wendt in einer Szene zumindest kurz die Diskrepanz zwischen ihrer zweijährigen Reise und dem viel geringeren Bewegungsspielraum der Menschen vor Ort: "So oft wünsche ich mir, dass jedem alle Türen offen stehen. Dass jeder einzelne, so wie ich gerade, das riesige Glück hat, dahin zu gehen, wo er möchte, um sich sein eigenes Bild zu machen."
Dass Reisen, Grenzen problemlos überqueren zu können, nicht selbstverständlich ist, wird in den wenigsten Filmen angesprochen. Anselm Pahnke sagt im Nachhinein, dass sein Film in dieser Hinsicht Leerstellen hat. Einen politischen Film habe er sich allerdings nicht zugetraut. Für einen erfolgreichen Reisefilm ist diese Beschränkung auf das individuelle Erleben aber von Vorteil. Er will das Gegenstück zu dem sein, was in den Medien über Katastrophen und Kriminalität in Westafrika oder Lateinamerika berichtet wird. Vielleicht genau deshalb bleiben die Filme oft bei Bildern von weiten Landschaften, lächelnden Menschen, wilden Tieren, unberührter Natur und leeren Straßen bis an den Horizont stehen.

Anschlussfähig an Werbeästhetik

Bilder, die gut funktionieren, orientieren sie sich doch oft an der Ästhetik von Werbung. Diese Anschlussfähigkeit zeigt sich auch in Kampagnen wie der des Outdoor-Ausrüsters Globetrotter. Matthias Schwarte, Marketingleiter bei Globetrotter, weiß um die Anziehungskraft, die von solchen Reiseerzählungen ausgeht: "Für uns sind es Bilder, die ein starkes Verlangen wecken, selber etwas zu erleben. Bei uns steht nicht zwingend jemand im Fokus, der wahnsinnig gut aussieht und perfekt gekleidet ist, sondern jemand, der gerade etwas Außergewöhnliches erlebt."
Mit Fotokursen und Vorträgen von Reisenden schließt der Konzern an den Boom von Reisedokumentationen und Blogs an, den ein Film wie "Weit" ausgelöst hat. Auch wenn es vor allem Bloggerinnen und Blogger sind, die von Produktplatzierungen profitieren: Für die Literaturwissenschaftlerin Anna Sennefelder geht die Vermarktungslogik von Reisefilmen über solche Kooperationen hinaus. Sie beginnt bereits mit der Medialisierung der eigenen Reiseerfahrung:
"Das ultimative Ziel der Vermarktung, das ich vielen schon unterstellen würde, ist einfach das, was das medienkonvergente Zeitalter ausmacht. Dass immer schon mitschwingt: Kann ich daraus nicht irgendwie Kapital schlagen? Zumindest Aufmerksamkeitskapital, aber auch Ökonomisches."

Selbstinszenierung als Selbstverwirklichung

Sennefelder bezieht sich in ihrer Forschung auf den Philosophen Gernot Böhme. Böhme argumentiert, dass wir im globalen Norden in eine neue Phase des Kapitalismus eingetreten sind. Es geht weniger darum, Dinge zu besitzen, sondern darum, sich selbst zu inszenieren. Die Ausstattung des eigenen Lebens durch Erlebnisse – das ist es, was Konsum heute bestimmt. Demnach haben Reisefilme das, was Böhme einen Inszenierungswert nennt. Die dokumentierte Reise wird zum Mittel der Aufmerksamkeitserzeugung. Sennefelder sieht darin ein ideologisches Paradox:

"Mein Kernvorwurf lautet, dass man hier von einem performativen Selbstwiderspruch ausgehen kann. Oder dass man diesen zumindest unterstellen kann. Denn der Anspruch, der in diesen Reiseerzählungen transportiert wird, ist ja der, dass man weggeht vom entfremdenden kapitalistischen System und zu sich selbst und zu einem neuen, besseren Selbstverhältnis findet. Aber zumindest die große Mehrheit dieser Wegreisenden kommt genau dort wieder an, wo sie losgegangen ist: Man vermarktet und inszeniert seine eigene intimste Reiseerfahrung unglaublich geschickt und nahezu perfekt auf Nachfrage hin orientiert, indem man Blogs schreibt, Websites und Magazine veröffentlicht, Filme dreht und Crowdfunding macht."

Die Vermarktung läuft auf vollen Touren

Tatsächlich vermarkten viele der Filmemacherinnen und Filmemacher ihre Reisen noch weiter und verkaufen zum Beispiel Magazine mit praktischen Tipps zum Langzeitreisen. Lena Wendt und Ulrich Stirnat von "Reiss aus" planen außerdem, Seminare zur Selbstfindung anzubieten. Aufmerksamkeit mögen diese Formate erzeugen, reich werden die Filmemacher davon in den allermeisten Fällen nicht. Oft teilen sie ihre Einnahmen auch mit Menschen, die sie auf ihren Reisen kennen gelernt haben.
So sammeln die Macher von "Reiss aus" auf ihrer Kinotour Spenden für verschiedene Projekte, zum Beispiel für eine Schule in Mauretanien. Und der Erlös aus dem Soundtrack von "Blown away" geht an die beteiligten Musikerinnen und Musiker. Und überhaupt, so sagen es viele der Filmemacherinnen, gehe es ihnen nicht um Geld oder Aufmerksamkeit für sich, sondern um ihre Botschaft: Findet euch selbst! Geht reisen!

"Ich würde sagen, dass ist sehr sinnvoll, Reisen an sich, weil man da bestimmt wertvolle Erfahrungen machen kann. Aber die Frage ist, warum muss man sie unbedingt kommerzialisieren und in Umlauf bringen", fragt sich die Literaturwissenschaftlerin Anna Sennefelder.

"Ich brauche meine Kamera nicht mehr"

So wie ihr, die das Reisen vom Schreibtisch aus analysiert, geht es auch dem Filmemacher Anselm Pahnke. Nachdem er einmal quer durch Afrika geradelt ist und das alles mit der Kamera festgehalten hat, ist er noch zwei Jahre weitergereist. Gefilmt hat er diese Reise nicht mehr. Das Filmen, hat er gemerkt, macht das Erleben für ihn kaputt:

"Ich bin bei mir angekommen, möchte weiterreisen und aus meiner kleinen Welt die große Welt entdecken. Mehr von der Willkürlichkeit des Lebens spüren. Aber filmen will ich nicht mehr. Weil ich meine Kamera nicht mehr brauche."

Regie: Clarisse Cossais
Technik: Hermann Leppich
Sprecherin: Bettina Kurth
Redaktion: Carsten Burtke

(Eine Wiederholung vom 10. Dezember 2019, online leicht überarbeitet)
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