Über den Bankrott der ungarischen Gesellschaft

20.02.2009
Sandor Marai ist der Autor von Erfolgsromanen wie "Die Glut" und des hochinteressanten Lebensrückblicks "Bekenntnisse eines Bürgers". Nun liegen von ihm die ersten Bände einer großen Tagebuchausgabe vor, die Tagebücher der Jahre 1943 bis 1945. Marai blickt auf die Kriegsgeschehnisse, auf die Deportation der Juden und zeichnet den Niedergang der ungarischen Gesellschaft nach.
Furore machten vor einigen Jahren Sandor Marais Tagebücher aus den Jahren 1984 bis 1989. Ein zutiefst desillusionierter Ungar im nordamerikanischen Exil stellt darin der "untergehenden Epoche" des Bürgertums auf unnachahmliche Weise den Totenschein aus, bevor der nach dem Tod seiner Frau Illona Vereinsamte mit dem Revolver für seinen eigenen sorgt. Die Genese dieser individuellen und gesellschaftlichen Heimatlosigkeit zeigen die Tagebücher 1943 bis 1945, mit denen die 16-bändige Ausgabe beginnt. Marai schreibt sich darin buchstäblich aus der Welt und ersehnt abwechselnd Exil oder Tod.

Sandor Marai, mit 43 Jahren durch zahlreiche erfolgreiche Romane und unzählige journalistische Artikel in Ungarn auf dem Höhepunkt seines Ruhms, greift 1943 aus Unzufriedenheit mit seiner nach rechts rückenden Heimat zum Tagebuch; nach der Besetzung durch die Deutschen am 19.3.1944 wird er bis zum Ende des Krieges nichts mehr veröffentlichen. Die Schreibenergie fließt ins Tagebuch, das sich, so lassen es die ersten Sätze anklingen, auf das Wesenhafte und das memento mori besinnen will. Der kränkelnde Marai arbeitet an Manuskripten, er liest Shakespeare, Gide und Kosztolanyi, fühlt sich überdrüssig und heimatlos. Menschen, selbst die als "L." abgekürzte Ehefrau Illona, tauchen erst spät und nur am Rande in den Tagebüchern auf. Neben intensiven Wahrnehmungen von Farben und Gerüchen drängt ein oft narzisstisch wirkender Weltekel auf den ersten 200 Seiten der ohne Datum aneinandergereihten und nachträglich bearbeiteten Aufzeichnungen zu Sentenzen und Aphorismen.

Glücklicherweise bleibt es nicht dabei. Die Welt lässt Marai nicht in Ruhe. Ungarn ist an der Seite Deutschlands im Krieg, es deportiert seine Juden zu Hunderttausenden und wird 1944 von den Deutschen, 1945 von der Sowjetunion besetzt. Das zwingt Marai, der anfangs mit Goethe in Sizilien weilt, in die Gegenwart zurück. Er sieht das "ganze Land im Vorhof der Hölle": Das Bürgertum habe nicht erst im Krieg, sondern schon vor 25 Jahren die Kultur verraten.

Nicht nur einmal sieht Marai Gruppen von Juden, die deportiert werden. Einigen Verfolgten scheint er zu helfen, schweigt aber darüber ebenso wie über seine lebensgefährliche Beteiligung an einer Verschwörung gegen die Deutschen, von der Laszlo Földenyi in seinem Vorwort berichtet. Denn mutig, so der Autor, seien diejenigen, die nicht von ihren Taten sprechen. Viele sind es offenbar nicht: Was Marai beobachtet und in den wenigen Gesprächen mit Bekannten erfährt, lässt ihn eine überaus pessimistische Anthropologie entwerfen. Doch Gefühle zeigt er selten; einmal, als der Hausmeister seiner im Bombenhagel zerstörten Budapester Wohnung stirbt, weil die Güter anderer vor Plünderern hatte retten wollen.

Mit seiner jüdischen Frau zieht Marai aus Budapest aufs Land. Die Rote Armee requiriert ihr Haus. Dem von den Rotarmisten geachteten Schriftsteller bleibt mit den Seinen ein kleines Zimmer, in dem er ohne Hass darüber nachdenkt, was Eigentum für jene Sowjets bedeuten mag, die sein Haus Tag für Tag stärker zerstören. Der Schriftsteller besucht den Schwarzmarkt, kann aber irritierenderweise auch eine neue Wohnung in Budapest kaufen und einrichten.

Als der Krieg verloren geht, wollen alle Ungarn, nicht anders als die Deutschen, Opfer sein: Die faschistischen Pfeilkreuzler hätten "die Marmelade aufgegessen und die Großmutter umgebracht", notiert Marai sarkastisch. Er erinnert an die denunzierten, deportierten, beraubten und ermordeten jüdischen und christlichen Ungarn. Die neue Macht nimmt Marai den Ekel nicht: Unter den Kommunisten sei es nur anders, nicht besser geworden. Was bleibt? Das Schweigen. "Eine interessante Aufgabe; aufregend fast."

Die Tagebücher, nach der Jahrtausendwende schon einmal vom kleinen Oberbaumverlag gekürzt herausgebracht, nun erstmals vollständig und flüssiger übersetzt, dazu mit Anmerkungen versehen, zeichnen in zuweilen großartigen Passagen den Bankrott der ungarischen Gesellschaft und Kultur nach. Der deutsche Leser wird vieles wiedererkennen. Sandor Marais Aufzeichnungen zeigen ihm, dass Ost und West gemeinsame, aber höchst unterschiedlich gebrochene Erinnerungen besitzen.

Rezensiert von Jörg Plath

Sandor Marai: Literat und Europäer, Tagebücher 1, 1943 - 1945
Aus dem Ungarischen von Akos Doma
Mit einem Vorwort von Laszlo Földenyi
Herausgegeben, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Ernö Zeltner
Piper Verlag, München/Zürich 2009
474 Seiten, 39,90 Euro
ders.: Unzeitgemäße Gedanken, Tagebücher 2, 1945
Aus dem Ungarischen von Clemens Prinz
Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Ernö Zeltner
Piper Verlag, München/Zürich 2009
436 Seiten, 39,90 Euro