Über das Wesen einer offenen Gesellschaft

Offen heißt, offen für alle Menschen

04:25 Minuten
Der Philosoph Sir Karl Popper (1902 - 1994) posiert am 31. August 1992 in seinem Haus in Croydon, London, England. Er hält sich beide Hände an die Stirn und blickt fragend.
Bekannt wurde der Ausdruck "Offene Gesellschaft" durch das Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" des Philosophen Karl Popper. © Getty Images / Hulton Archive / David Levenson
Überlegungen von Viola Nordsieck · 13.05.2020
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Was bedeutet gerade in dieser Zeit eine offene Gesellschaft, fragt sich Viola Nordsieck. Wer es wirklich ernst damit meine, müsse auf die Gemeinschaft vertrauen und Sicherheit für alle Menschen gewährleisten, meint die Journalistin.
Geschäfte und Schulen öffnen wieder, vielleicht bald auch die Restaurants. Bald werden sicher auch wieder Demonstrationen stattfinden. Der Shutdown, der ja eigentlich gar keiner war, geht zu Ende. Haben wir sie jetzt wieder, die "offene Gesellschaft", hatten wir sie je?

Über die Zweckrationalität hinaus denken

Die "offene Gesellschaft" gilt vielen heute einfach als eine, in der alle tun und lassen, denken und sagen können, was sie möchten. Dabei hatte der Ausdruck ursprünglich eine präzisere Bedeutung. Um genau zu sein, sogar zwei unterschiedliche Bedeutungen.
Bekannt wurde der Ausdruck durch das Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" des Philosophen Karl Popper, der es 1945 publizierte als neoliberale Intervention gegen Kommunismus und Faschismus. Den Ausdruck "offene Gesellschaft" hat er von einem Philosophen übernommen, der, wie Popper sagte, absolut alles anders denke als er selbst: Henri Bergson. In dem damals viel gelesenen Buch "Die beiden Quellen der Moral und der Religion" (1932) entwarf der französische Philosoph das Bild von der offenen und der geschlossenen Gesellschaft.
Seine offene Gesellschaft hat keine ökonomische Zweckrationalität im Zentrum, sondern besteht aus Akteuren, die auch emotionale und soziale Bedürfnisse haben und in der Lage sind, diese zu erkennen. Demgegenüber würden sich die zweckrationalen Entscheidungen eines homo oeconomicus letztlich immer als kurzsichtig und selbstzentriert erweisen. Die Verantwortung für das Gemeinwesen dürften deshalb nicht die Einzelnen selbst tragen, sondern sie müsste kollektiv übernommen werden. In allen Werken Bergsons betont er die Wichtigkeit eines Denkens über Zweckrationalität hinaus. Konkret hieße das heute: soziale Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit, und ein Mitdenken für alle, die Teil der Gesellschaft sind.

Es braucht Vertrauen in die Gemeinschaft

Bergson beschreibt die individuelle Haltung als eine Art emotionaler Grundausrichtung, die in wechselnden Stufen offen oder geschlossen sein kann und sich im Handeln, Fühlen und Denken der Menschen ausdrückt. Ist diese Haltung eher eine geschlossene, dann wird sich die Aufmerksamkeit und die Liebe der Menschen auf einen engen Kreis beschränken, etwa die eigene Kernfamilie. Eine offenere Haltung zeigt sich darin, dass Ambiguität nicht als bedrohlich, sondern als interessant wahrgenommen wird. In Ergänzung zu Bergson können wir sagen: Eine prekäre, ständig bedrohte Existenz wird einer offenen Haltung nicht förderlich sein.
In welchem Maß eine Gesellschaft offen ist, zeigt sich nicht nur an ihrer Verfasstheit, sondern vor allem an den Erfahrungen, die Menschen machen. Es braucht Vertrauen in die Gemeinschaft, damit Menschen den Mut haben, offen zu sein. Solange Menschen etwa rassistisch ausgeschlossen werden oder in Lagern zurück und dem Tod überlassen werden, solange darüber nachgedacht wird, ob es verschmerzbar ist, dass Menschen mit Vorerkrankungen sterben, mit denen sich noch viele Jahre gut leben ließe: so lange werden Menschen der Gesellschaft nicht vertrauen – so lange ist sie eben keine offene. Denn alle wissen, dass im Zweifel auf sich selbst zurückgeworfen sind, dass sie es nur schaffen können, wenn sie selbst zu den Starken gehören.

Sicherheit für alle Menschen

Bergson betont, dass es die offene Gesellschaft nicht gibt: beide Tendenzen sind immer vorhanden. Das Ideal einer offenen Gesellschaft aber wäre so gestaltet, dass alle Menschen sich sicher fühlen könnten. Wer immer also dieses Ideal bemüht, sollte sich über die Ambiguität des Begriffes klar sein und deutlich machen, ob es um eine neoliberale Fiktion von Ideologiefreiheit geht oder um eine Entwicklung hin zu einer offenen Haltung, die auf die Gemeinschaft vertraut.

Viola Nordsieck ist freie Journalistin und angehende Lehrerin. Ihre Promotion in Philosophie befasste sich u. a. mit dem französischen Philosophen Henri Bergson und erschien unter dem Titel "Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung" bei Karl Alber. Ihr nächstes Buch erscheint 2020 beim Neofelis Verlag, ein Kollektivprojekt mit dem Titel "Kultur und Politik des prekären Lebens".

Viola Nordsieck. Schwarzweißfoto einer jungen Frau mit halblangen, dunklen Haaren.
© Thomas Hausstein
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