Über das Verhältnis von Rechtstaat und Religion
Friedrich Wilhelm Graf gilt als einer der brillantesten Vordenker der Evangelischen Kirchen in Deutschland. Mit seinem Essay "Moses Vermächtnis" will er den Staat wieder in seinen Gottesbezug zurückholen, ohne an Privilegien der christlichen Mehrheiten festzuhalten.
Der neue – keine 100 Seiten starke – Essay über den Sinn göttlicher und menschlicher Gebote und Gesetze erschien mit gutem Timing: zwischen dem bayerischen Streit um den Kruzifix im Klassenzimmer vor dem Verfassungsgericht, dem Eberbacher Verwaltungsgerichtsurteil über das Kopftuch der deutschtürkischen Kinderpflegerin Nuray Ariöz und der Titelgeschichte des SPIEGEL über die Ministerin Ursula von der Leyen, die für mehr Respekt vor den christlichen Grundwerten aufrief, denn: "Die Artikel des Grundgesetzes fassen im Prinzip die Zehn Gebote zusammen."
Das Timing schlug sich nicht nur in guten Verkaufsziffern der Graf-Schrift nieder, sondern auch in einem immer noch weiter wehenden Wind der erstaunten Anerkennung in zahlreichen bundesdeutschen Medien. So selbstkritisch liberal – so meinte man allenthalben – habe Kirche und Theologie seit langem nicht mehr über das Verhältnis von Rechtstaat und Religion geredet (bei Graf dargestellt an Judentum, Christentum und Islam).
Hilfreich dabei: Graf spricht nur ungern von Fundamentalismus und Religion. Zum einen, weil Fundamentalismus kein für den Islam reservierter Begriff sei; zum anderen, weil das Judentum ganz strikt NICHT missioniere. Graf sieht die Gemeinsamkeit in dem, was er "harte Religion" nennt und akzeptiert:
"Harte Religion bindet sehr stark, aber sie bietet, indem sie so starke Bindungskräfte entfaltet, auch sehr viel. Harte Religion erlaubt es, klare Innen/Außen-Unterscheidungen zu formulieren: Wir und die fremden anderen, wir und die böse Welt. Harte Religion bedeutet, in einer unübersichtlichen Welt allzu vieler Sinnangebote eine ganz klare, unbedingt gültige Orientierung zu akzeptieren." (Interview mit DIE WELT am 16 Februar.)
Um solchen harten Religionen das entsprechende Umfeld zu schaffen, bedarf es in einer "pluralistischen, medial vernetzten und insofern globalen Kultur nun einmal demonstrativer Selbstinszenierung" Wobei Graf durchaus keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass er der Härte Grenzen setzt:
"Wahrheitskonflikte kann man nicht mit Gewalt, man muss sie diskursiv austragen."
An drei Phänomenen versucht Graf deutlich zu machen, wo der neue Diskurs über göttliches und menschliches Gesetz einsetzen sollte:
- Beim Nachdenken über die Grenzen und Selbstbegrenzungen der Vernunft sowie bei der erinnerten Erfahrung, wie schnell eine rein rationale Ordnung umschlagen kann in ihr Gegenteil.
- Bei der Revision der aus der Aufklärung stammenden Überzeugung, Religion sei Privatsache. Im Gegenteil seien religiöse Unterschiede "im öffentlichen Raum auszufechten".
- Bei der Erinnerung an die Aufgaben zum Beispiel beider großer Kirchen: Empfindsamkeit zu schaffen gegenüber Unterschieden; religiöse Kommunikation zu entwickeln; moralische Bindungskräfte zu vertiefen.
Die sechs Kapitel des schmalen Essays spielen an eine gottesdienstliche Liturgie an: Introitus – Methodencredo – Gesetzeslesung – Zehn Gebote – Verfassungspredigt – Segen! Wobei das Kapitel Zehn Gebote fast 30 Seiten in Anspruch nimmt – eine theologiegeschichtliche, kulturgeschichtliche und religionswissenschaftliche Tour d’ horizon über das Gesetzesverständnis zu alttestamentlicher Zeit über das "christliche" Mittelalter bis zur "säkularen" Gegenwart.
Wobei sich herausstellt, dass Grafs protestantischer Gott und seine Gebote durchaus pluralismusfähig sind, solange sie unter dem Vorbehalt ständiger kultureller Revision, Ausdeutung und Ausdifferenzierung stehen. Die nach zeitgenössischem Verständnis wichtigste: Gesetze sind dann "göttlich", wenn sie den Menschen vor dem Menschen wirksam schützen!
"Gottes Gesetz gibt es nur im Plural. Es begründet in der religionspluralistischen Gesellschaft kein einheitliches Ethos, sondern eine hohe Pluralität konkurrierender religionsmoralischer Einstellungen."
Grafs Kernsatz dazu (Seite 91):
"Niemand, auch eine starke religiöse Autorität nicht, vermag zu sagen, ob sein Gottesgesetz die Richtschnur sein wird, nach der im letzten Gericht geurteilt wird. Wie alle von Menschen gemachten Gesetze steht auch jede menschliche Deutung von Gottes Gesetz unter dem heilsamen eschatologischen Vorbehalt, dass Gott wohl besser als die Gläubigen weiß, was er Mose zu sagen hatte."
Durchaus nicht neu und trotzdem durchaus verblüffend: Graf zeigt, wie unser angeblich wertneutraler Staat durchaus – aber verschämt! – seines religiösen Grundes bewusst ist. Das Grundgesetz und andere Verfassungen berufen sich VOR GOTT und den Menschen auf ihre humanitäre – also "vor-rechtliche - Berufung. Zu den aktuellen Debatten über Zivilgesellschaft, Kommunitarismus, Sozialkapital, Gemeinwohl, Gemeinsinn, Bürgersinn und der Aufgaben des citoyen werden ständig solche vor-rechtlichen Voraussetzungen beschworen, auf denen die politische Kultur des freiheitlichen Verfassungsstaates beruhe.
Und Graf zitiert dazu ganz in seinem eigenen Sinne den katholischen Sozialethiker Ernst-Wolfgang Böckenförde, der schon Mitte der 70er Jahre formulierte:
""Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann". "
Insgesamt ein gelehrtes sprachlich überzeugendes und verblüffendes Stück Sachliteratur, das den Staat wieder in seinen Gottesbezug zurückholt, ohne an irgendwelchen Privilegien der christlichen Mehrheiten festhalten zu wollen.
Friedrich Wilhelm Graf: Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze
Verlag C.H. Beck München 2006
99 Seiten mit 22 Abbildungen, 12 Euro
Das Timing schlug sich nicht nur in guten Verkaufsziffern der Graf-Schrift nieder, sondern auch in einem immer noch weiter wehenden Wind der erstaunten Anerkennung in zahlreichen bundesdeutschen Medien. So selbstkritisch liberal – so meinte man allenthalben – habe Kirche und Theologie seit langem nicht mehr über das Verhältnis von Rechtstaat und Religion geredet (bei Graf dargestellt an Judentum, Christentum und Islam).
Hilfreich dabei: Graf spricht nur ungern von Fundamentalismus und Religion. Zum einen, weil Fundamentalismus kein für den Islam reservierter Begriff sei; zum anderen, weil das Judentum ganz strikt NICHT missioniere. Graf sieht die Gemeinsamkeit in dem, was er "harte Religion" nennt und akzeptiert:
"Harte Religion bindet sehr stark, aber sie bietet, indem sie so starke Bindungskräfte entfaltet, auch sehr viel. Harte Religion erlaubt es, klare Innen/Außen-Unterscheidungen zu formulieren: Wir und die fremden anderen, wir und die böse Welt. Harte Religion bedeutet, in einer unübersichtlichen Welt allzu vieler Sinnangebote eine ganz klare, unbedingt gültige Orientierung zu akzeptieren." (Interview mit DIE WELT am 16 Februar.)
Um solchen harten Religionen das entsprechende Umfeld zu schaffen, bedarf es in einer "pluralistischen, medial vernetzten und insofern globalen Kultur nun einmal demonstrativer Selbstinszenierung" Wobei Graf durchaus keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass er der Härte Grenzen setzt:
"Wahrheitskonflikte kann man nicht mit Gewalt, man muss sie diskursiv austragen."
An drei Phänomenen versucht Graf deutlich zu machen, wo der neue Diskurs über göttliches und menschliches Gesetz einsetzen sollte:
- Beim Nachdenken über die Grenzen und Selbstbegrenzungen der Vernunft sowie bei der erinnerten Erfahrung, wie schnell eine rein rationale Ordnung umschlagen kann in ihr Gegenteil.
- Bei der Revision der aus der Aufklärung stammenden Überzeugung, Religion sei Privatsache. Im Gegenteil seien religiöse Unterschiede "im öffentlichen Raum auszufechten".
- Bei der Erinnerung an die Aufgaben zum Beispiel beider großer Kirchen: Empfindsamkeit zu schaffen gegenüber Unterschieden; religiöse Kommunikation zu entwickeln; moralische Bindungskräfte zu vertiefen.
Die sechs Kapitel des schmalen Essays spielen an eine gottesdienstliche Liturgie an: Introitus – Methodencredo – Gesetzeslesung – Zehn Gebote – Verfassungspredigt – Segen! Wobei das Kapitel Zehn Gebote fast 30 Seiten in Anspruch nimmt – eine theologiegeschichtliche, kulturgeschichtliche und religionswissenschaftliche Tour d’ horizon über das Gesetzesverständnis zu alttestamentlicher Zeit über das "christliche" Mittelalter bis zur "säkularen" Gegenwart.
Wobei sich herausstellt, dass Grafs protestantischer Gott und seine Gebote durchaus pluralismusfähig sind, solange sie unter dem Vorbehalt ständiger kultureller Revision, Ausdeutung und Ausdifferenzierung stehen. Die nach zeitgenössischem Verständnis wichtigste: Gesetze sind dann "göttlich", wenn sie den Menschen vor dem Menschen wirksam schützen!
"Gottes Gesetz gibt es nur im Plural. Es begründet in der religionspluralistischen Gesellschaft kein einheitliches Ethos, sondern eine hohe Pluralität konkurrierender religionsmoralischer Einstellungen."
Grafs Kernsatz dazu (Seite 91):
"Niemand, auch eine starke religiöse Autorität nicht, vermag zu sagen, ob sein Gottesgesetz die Richtschnur sein wird, nach der im letzten Gericht geurteilt wird. Wie alle von Menschen gemachten Gesetze steht auch jede menschliche Deutung von Gottes Gesetz unter dem heilsamen eschatologischen Vorbehalt, dass Gott wohl besser als die Gläubigen weiß, was er Mose zu sagen hatte."
Durchaus nicht neu und trotzdem durchaus verblüffend: Graf zeigt, wie unser angeblich wertneutraler Staat durchaus – aber verschämt! – seines religiösen Grundes bewusst ist. Das Grundgesetz und andere Verfassungen berufen sich VOR GOTT und den Menschen auf ihre humanitäre – also "vor-rechtliche - Berufung. Zu den aktuellen Debatten über Zivilgesellschaft, Kommunitarismus, Sozialkapital, Gemeinwohl, Gemeinsinn, Bürgersinn und der Aufgaben des citoyen werden ständig solche vor-rechtlichen Voraussetzungen beschworen, auf denen die politische Kultur des freiheitlichen Verfassungsstaates beruhe.
Und Graf zitiert dazu ganz in seinem eigenen Sinne den katholischen Sozialethiker Ernst-Wolfgang Böckenförde, der schon Mitte der 70er Jahre formulierte:
""Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann". "
Insgesamt ein gelehrtes sprachlich überzeugendes und verblüffendes Stück Sachliteratur, das den Staat wieder in seinen Gottesbezug zurückholt, ohne an irgendwelchen Privilegien der christlichen Mehrheiten festhalten zu wollen.
Friedrich Wilhelm Graf: Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze
Verlag C.H. Beck München 2006
99 Seiten mit 22 Abbildungen, 12 Euro