Über das menschliche Zentralorgan
Fällt die Entscheidung besser aus, je mehr Informationen man zur Verfügung hat? - Das wäre nahe liegend, ist aber nicht immer richtig. Manfred Spitzer, einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands, berichtet in seinem neuen Buch von überraschenden Erkenntnissen über das Zentralorgan des Menschen.
Das neue Buch von Manfred Spitzer ist - wie einige seiner Vorläufer - eine Sammlung kleiner Aufsätze, die der Autor regelmäßig, Heft für Heft, für eine nervenärztliche Fachzeitschrift schreibt. Aber so, dass sie auch der Laie lesen kann, denn dann liest sie auch der Fachmann lieber, wie Spitzer in der Einleitung schreibt. Das erklärt, warum dieses Buch nicht ein Thema behandelt, sondern 22 verschiedene in 22 Kapiteln. Und nur das erste handelt von der Frage nach dem Sinn des Lebens. Auf diese Frage gibt das Buch aber keine Antwort, und insofern ist der Titel willkürlich gewählt.
Spitzer meint, dass Sinn oder sogar Glück eher zu finden sind, wenn Menschen sich selbst besser kennen. Und dabei helfe es, mehr über das Leben zu wissen. Damit sind wir bei seinem Fachgebiet, der Neurowissenschaft. Sie lehrt heute, wie Spitzer in einigen Kapiteln dieses Buches zeigt, dass der größte Teil des geistigen Lebens unbewusst abläuft. Und dass wir nur deswegen glauben, wir hätten das Leben im Griff, weil in der linken Gehirnhälfte, im Sprachzentrum, ständig Geschichten über die Beweggründe des eigenen Handelns erfunden werden, auch wenn man diese nicht kennt.
Das heißt aber nicht, dass wir nicht sinnvoll handeln könnten. Sinnvoll sei zum Beispiel, das zeigen psychologische Untersuchungen zu der Frage, was Menschen glücklich macht, in Erlebnisse zu investieren und nicht in materielle Güter. Denn sie machen einen Menschen aus. Und am meisten glücklich, so Spitzer, machen Erlebnisse, die wir mit anderen teilen.
Auf den Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi geht der Begriff des "Flow” zurück: Flow ist der glückliche Zustand, in dem man ganz in etwas aufgeht, dem man sich widmet. Spitzer schildert, dass Studien von Hirnforschern jetzt zeigen konnten, was im Gehirn beim Erleben des Flow geschieht: Es werden Teile abgeschaltet, die mit der inneren Wahrnehmung eines Menschen seiner selbst in Verbindung stehen. Um also mit den Sinnen in der Wirklichkeit zu sein, muss man sich selbst vergessen.
Das Buch von Spitzer lebt davon, dass der Autor brandneue wissenschaftliche Untersuchungen aus der Neurowissenschaft, aber auch aus anderen Bereichen wie der Sozialpsychologie oder der Tierpsychologie, verständlich zusammenfasst und ihre Bedeutung für das Verständnis des Menschen herausstellt. Die Themen sind bunt gefächert, und manche sind dabei, bei denen sich nicht erschließt, was sie in dieser Sammlung suchen, wie zum Beispiel über "Psychiatrie in Swasiland”. Die meisten Kapitel aber lassen den Leser angeregt und mit teilweise überraschenden Einsichten zurück.
Zum Beispiel referiert der Autor zum Thema, dass Menschen unbewusst denken und entscheiden. Willenskraft, das zeigen Experimente, ist erschöpfbar, und daher ist es gut, wenn man dem Unbewussten vertrauen kann, die richtigen Entscheidungen zu fällen. Spitzer berichtet von einem Experiment US-amerikanischer Wissenschaftler, in dem Versuchspersonen das beste von vier Autos auswählen sollten. Es gab vier Versuchsbedingungen: Entweder erfuhren die Versuchspersonen vier oder zwölf Eigenschaften jedes der vier Autos, und entweder konnten sie über diese Eigenschaften nachdenken oder sie mussten sich eine Zeitlang mit etwas anderem beschäftigen und dann entscheiden.
Am schlechtesten entschieden sich diejenigen, die über zwölf Eigenschaften je Auto nachdenken durften. Denn so viel Information kann das Gehirn bewusst nicht verarbeiten. Am besten entschieden die, die zwölf Informationen erfuhren, aber nicht über sie nachdenken konnten und dann nach einiger Zeit ihre Wahl treffen sollten. Deren Wahl war noch besser als die derjenigen Personen, die über vier Eigenschaften nachdenken konnten - sie trafen die zweitbeste Wahl. Man braucht Informationen, aber gerade wenn Entscheidungen komplex sind, sollte man sie dem Unbewussten überlassen. Allerdings kann es dabei auch unerwünschte Informationen verarbeiten. Was sich die Werbung zunutze macht. Oder Supermärkte bei der Auswahl der Musikberieselung - auch das ein Thema in Spitzers Aufsatzsammlung.
Das Unbewusste lässt sich auch durch eigene Handlungen programmieren, bis hinein in die Produktion von Hormonen. So lautet zum Beispiel eine häufige Entschuldigung für schräge, unangemessene Handlungen von Pubertierenden oder Wechseljahresgeplagten "Es sind die Hormone”. Aber es machen nicht nur die Hormone etwas mit uns, sondern auch wir mit ihnen, schreibt Spitzer. Neue Experimente im Labor zeigen zum Beispiel, dass bei Männern, die mit täuschend echt aussehenden Spielzeugpistolen spielen, der Testosteron-Spiegel enorm ansteigt. In der Folge werden sie aggressiver.
In einem weiteren Kapitel berichtet Spitzer von Untersuchungen an Männern im Kernspintomographen: In deren Gehirn werden Areale, die mit innerer Belohnung zu tun haben, dann aktiv, wenn sie sehen, dass einem unfairen Mitspieler im Experiment zur Strafe Schmerzreize verabreicht werden. Spitzer liebt es, wissenschaftliche Ergebnisse alltagstauglich zuzuspitzen, und folgert kühn: Männer sind rachsüchtiger und schadenfreudiger als ihre Geschlechtsgenossinnen.
"Rein rechnerisch könnte man allein durch Ehrenämter die Streichung einer ganzen Reihe von Langzeitmedikationen ausgleichen,” lautet provokativ die Schlussfolgerung in einem der letzten Kapitel mit der schönen Überschrift "Geben ist seliger denn Nehmen (p < 0,05)”. In der Klammer steht ein Ausdruck aus der Statistik: Die Wahrscheinlichkeit, dass die berichteten Ergebnisse rein zufällig zustande kamen, liegt unter fünf Prozent - in der Statistik spricht man dann von einem signifikanten Effekt. In diesem Fall ist der signifikante Effekt die Auswirkung des Helfens auf die Sterblichkeit bei alten Menschen. Wer als alter Mensch anderen Menschen hilft, ihnen zuhört, ihre Kinder betreut, Besorgungen für sie macht, verlängert seine Lebenserwartung. Der Effekt ist weit größer als der von Aspirin zur Vorbeugung gegen Herzinfarkt, nämlich etwa fünfmal so groß. Hilfe im Haushalt zu bekommen, senkt hingegen die Lebenserwartung.
Diese Forschungen haben zwar nur ein wenig mit dem Sinn des Lebens und nichts mit der Hirnforschung zu tun. Aber das ist das Schöne an Spitzers kleinen Texten: Er bringt Dinge auf den Punkt und fragt, was sie für die Menschen bedeuten. Ohne die sonst so verbreitete Zurückhaltung in ihren Welten verharrender Naturwissenschaftler. Nur: Man muss es mögen, sich durch Texte zu ganz verschiedenen Themen von da nach dort treiben zu lassen. Und sich dann selbst einen Sinn aus allem zu machen.
Rezensiert von Ulfried Geuter
Manfred Spitzer: Vom Sinn des Lebens. Wege statt Werke
Schattauer Verlag, Stuttgart/New York 2007
224 Seiten. 12,90 Euro
Spitzer meint, dass Sinn oder sogar Glück eher zu finden sind, wenn Menschen sich selbst besser kennen. Und dabei helfe es, mehr über das Leben zu wissen. Damit sind wir bei seinem Fachgebiet, der Neurowissenschaft. Sie lehrt heute, wie Spitzer in einigen Kapiteln dieses Buches zeigt, dass der größte Teil des geistigen Lebens unbewusst abläuft. Und dass wir nur deswegen glauben, wir hätten das Leben im Griff, weil in der linken Gehirnhälfte, im Sprachzentrum, ständig Geschichten über die Beweggründe des eigenen Handelns erfunden werden, auch wenn man diese nicht kennt.
Das heißt aber nicht, dass wir nicht sinnvoll handeln könnten. Sinnvoll sei zum Beispiel, das zeigen psychologische Untersuchungen zu der Frage, was Menschen glücklich macht, in Erlebnisse zu investieren und nicht in materielle Güter. Denn sie machen einen Menschen aus. Und am meisten glücklich, so Spitzer, machen Erlebnisse, die wir mit anderen teilen.
Auf den Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi geht der Begriff des "Flow” zurück: Flow ist der glückliche Zustand, in dem man ganz in etwas aufgeht, dem man sich widmet. Spitzer schildert, dass Studien von Hirnforschern jetzt zeigen konnten, was im Gehirn beim Erleben des Flow geschieht: Es werden Teile abgeschaltet, die mit der inneren Wahrnehmung eines Menschen seiner selbst in Verbindung stehen. Um also mit den Sinnen in der Wirklichkeit zu sein, muss man sich selbst vergessen.
Das Buch von Spitzer lebt davon, dass der Autor brandneue wissenschaftliche Untersuchungen aus der Neurowissenschaft, aber auch aus anderen Bereichen wie der Sozialpsychologie oder der Tierpsychologie, verständlich zusammenfasst und ihre Bedeutung für das Verständnis des Menschen herausstellt. Die Themen sind bunt gefächert, und manche sind dabei, bei denen sich nicht erschließt, was sie in dieser Sammlung suchen, wie zum Beispiel über "Psychiatrie in Swasiland”. Die meisten Kapitel aber lassen den Leser angeregt und mit teilweise überraschenden Einsichten zurück.
Zum Beispiel referiert der Autor zum Thema, dass Menschen unbewusst denken und entscheiden. Willenskraft, das zeigen Experimente, ist erschöpfbar, und daher ist es gut, wenn man dem Unbewussten vertrauen kann, die richtigen Entscheidungen zu fällen. Spitzer berichtet von einem Experiment US-amerikanischer Wissenschaftler, in dem Versuchspersonen das beste von vier Autos auswählen sollten. Es gab vier Versuchsbedingungen: Entweder erfuhren die Versuchspersonen vier oder zwölf Eigenschaften jedes der vier Autos, und entweder konnten sie über diese Eigenschaften nachdenken oder sie mussten sich eine Zeitlang mit etwas anderem beschäftigen und dann entscheiden.
Am schlechtesten entschieden sich diejenigen, die über zwölf Eigenschaften je Auto nachdenken durften. Denn so viel Information kann das Gehirn bewusst nicht verarbeiten. Am besten entschieden die, die zwölf Informationen erfuhren, aber nicht über sie nachdenken konnten und dann nach einiger Zeit ihre Wahl treffen sollten. Deren Wahl war noch besser als die derjenigen Personen, die über vier Eigenschaften nachdenken konnten - sie trafen die zweitbeste Wahl. Man braucht Informationen, aber gerade wenn Entscheidungen komplex sind, sollte man sie dem Unbewussten überlassen. Allerdings kann es dabei auch unerwünschte Informationen verarbeiten. Was sich die Werbung zunutze macht. Oder Supermärkte bei der Auswahl der Musikberieselung - auch das ein Thema in Spitzers Aufsatzsammlung.
Das Unbewusste lässt sich auch durch eigene Handlungen programmieren, bis hinein in die Produktion von Hormonen. So lautet zum Beispiel eine häufige Entschuldigung für schräge, unangemessene Handlungen von Pubertierenden oder Wechseljahresgeplagten "Es sind die Hormone”. Aber es machen nicht nur die Hormone etwas mit uns, sondern auch wir mit ihnen, schreibt Spitzer. Neue Experimente im Labor zeigen zum Beispiel, dass bei Männern, die mit täuschend echt aussehenden Spielzeugpistolen spielen, der Testosteron-Spiegel enorm ansteigt. In der Folge werden sie aggressiver.
In einem weiteren Kapitel berichtet Spitzer von Untersuchungen an Männern im Kernspintomographen: In deren Gehirn werden Areale, die mit innerer Belohnung zu tun haben, dann aktiv, wenn sie sehen, dass einem unfairen Mitspieler im Experiment zur Strafe Schmerzreize verabreicht werden. Spitzer liebt es, wissenschaftliche Ergebnisse alltagstauglich zuzuspitzen, und folgert kühn: Männer sind rachsüchtiger und schadenfreudiger als ihre Geschlechtsgenossinnen.
"Rein rechnerisch könnte man allein durch Ehrenämter die Streichung einer ganzen Reihe von Langzeitmedikationen ausgleichen,” lautet provokativ die Schlussfolgerung in einem der letzten Kapitel mit der schönen Überschrift "Geben ist seliger denn Nehmen (p < 0,05)”. In der Klammer steht ein Ausdruck aus der Statistik: Die Wahrscheinlichkeit, dass die berichteten Ergebnisse rein zufällig zustande kamen, liegt unter fünf Prozent - in der Statistik spricht man dann von einem signifikanten Effekt. In diesem Fall ist der signifikante Effekt die Auswirkung des Helfens auf die Sterblichkeit bei alten Menschen. Wer als alter Mensch anderen Menschen hilft, ihnen zuhört, ihre Kinder betreut, Besorgungen für sie macht, verlängert seine Lebenserwartung. Der Effekt ist weit größer als der von Aspirin zur Vorbeugung gegen Herzinfarkt, nämlich etwa fünfmal so groß. Hilfe im Haushalt zu bekommen, senkt hingegen die Lebenserwartung.
Diese Forschungen haben zwar nur ein wenig mit dem Sinn des Lebens und nichts mit der Hirnforschung zu tun. Aber das ist das Schöne an Spitzers kleinen Texten: Er bringt Dinge auf den Punkt und fragt, was sie für die Menschen bedeuten. Ohne die sonst so verbreitete Zurückhaltung in ihren Welten verharrender Naturwissenschaftler. Nur: Man muss es mögen, sich durch Texte zu ganz verschiedenen Themen von da nach dort treiben zu lassen. Und sich dann selbst einen Sinn aus allem zu machen.
Rezensiert von Ulfried Geuter
Manfred Spitzer: Vom Sinn des Lebens. Wege statt Werke
Schattauer Verlag, Stuttgart/New York 2007
224 Seiten. 12,90 Euro