Über allen Wipfeln ist Benno

Von Elke Kürschner |
Wenn es sein muss, dann geht er auch zweimal täglich den höchsten Harzgipfel hoch und wieder runter. Brocken-Benno ist auf dem Weg zum Gipfel des Harz-Ruhmes, stammt aus Wernigerode, stand im Guinness-Buch der Rekorde und will die 5000. Tour pünktlich absolvieren – vor seinem morgigen 75. Geburtstag. Der Berg ruft und Brocken-Benno läuft los, besteigt den deutschromantischsten Gipfel. Ein leichter Brocken, jedenfalls für ihn, und schön auch.
Wie viele Schritte es bis zum Gipfel sind – das haben wir nicht gefragt. Sicher hat er auch die gezählt.

Brocken-Benno.

„Zumindest bin ich eine Ausnahmeerscheinung, denn es gibt keinen zweiten, der so oft das Gleiche tut. Aber ich sage, so was besonderes is es eigentlich gar nicht.“

Aber die 5000. Besteigung zum 75. Geburtstag muss es schon sein. Sagt er so in 700 Meter Höhe.

„Ich sage mir, andere Menschen müssen jeden Tag den gleichen Weg gehen zur Arbeit. Und ich gehe jeden Tag zum Brocken.“

Also auch morgen, an seinem 75.
Der höchste Berg des deutschen Nordens ist für ihn das höchste der Gefühle.
Und vielleicht auch der Rekord.

Der höchste Berg Norddeutschlands bedeckt sich mit isländischer Witterung – kalte und nasse Winde, Nebel an 306 Tagen im Jahr.

Rasche Wetterumschwünge und nebliger Gipfel – in der Vergangenheit wurde schnell daraus ein geheimnisvoller Ort. Geister hatten hier ein leichtes Spiel. Unwegsame Schluchten und Moore taten ein Übriges in den Köpfen der Altvorderen.

Der Brocken. Der Gipfel liegt oberhalb der Baumgrenze.

Ein Ort der Reflexion. Goethe weitet er 1777 die Brust und die Gefühlsseligkeit:

„Ich stand … grenzenlosen Schnee überschauend auf dem Gipfel des Brocken",“

ein anderer bekannter Brocken-Besteiger steht 50 Jahre später und an einem nebligen Tag oben.

„"Große Steine, müde Beine, Aussicht keine, Heinrich Heine.“

Ein Paar Wanderstiefel hält bei Brocken-Benno so 250 Kilometer. 17 Paar hat er bislang verschlissen, der Mann aus Wernigerode, wo er unterhalb vom Jagdschloss wohnt. Er steht in der Früh auf, räumt im Laden gleich um die Ecke Waren ins Regal, fährt nach dem Frühstück bergauf bis Schierke und stiefelt los.

Eine kleine Wegzehr im Rucksack; Heftchen, Fotos und Karten vom Brocken – und von sich. Kann er alles gut gebrauchen.

„Morgen.“
„Morgen.“
„Ach warn sie schon mal im Fernsehn?“
„Na klar.“
„Guck, ach hier, das ist er. Jaaaa, Gucken wir doch, ja.“
„Ich bin der Brocken-Benno.“
„Ja schön, toll.“
„Und wie oft warn sie oben?“
„Noch gar nicht. Nie – gar nich.“
„Wo kommen sie denn her?“
„Wir kommen aus Hamburg. Eben, wo er das sagte, dass er jeden Tag geht; ich sag, Mensch, das ist er doch.“
„Das Schöne is, dass ich unterwegs immer nette Urlauber treffe, heute treffe ich sie. Und ich höre, Sie sind das erste Mal heute auf dem Weg zum Brocken. Da will ich ihnen gleich mal was erklären.“
„Zur goldnen Hochzeit.“
„Sehn se mal hier. So haben sie heute das Glück, bei dem Wetter den Brocken zu sehn.“
„Oh schön.“
„Sehn se …“

Wanderer können sehr gesprächig sein. Berge wirken irgendwie erhaben, Bergfilme romantisch, Wanderer beeindruckt.

„Sehn se und hier kann ich ihnen noch n paar schöne Bilder zeigen. Das ist ein ganz tolles Buch übrigens, wenn sie das haben wollen, kostet fünf Euro, ich schreib ihnen auch ne Widmung rein.“ „Na, das will ich haben.“

Der Brocken – der deutschromantischste Gipfel im ganzen Land. So wollten ihn viele haben. Viel wurde darüber aus den Augen verloren, verschwand im Nebel des Vergessens.

Der Harz ist ein Mittelgebirge, also ein Grenzzug. Geologisch, geographisch. Er teilt sich in Ober- und Unterharz; er schied Stammesgebiete, erst die der Cherusker und Hermunduren, dann die der Slawen und der Deutschen.

Der erste deutsche König Heinrich der Erste in Quedlinburg soll hier residiert haben. Sein Sohn Otto wurde Kaiser, der Harz rückte in den Mittelpunkt des Reiches.

Die Sprachgrenze zwischen Niederdeutsch und Mitteldeutsch zieht sich quer durchs Gebirge, die alten Grenze zwischen Braunschweig, Hannover und Preußen ebenfalls. Letztere war fast identisch mit der der beiden deutschen Staaten.

Das Brockenplateau ist bald erreicht, die Wanderung erreicht den Höhepunkt – für Brocken-Benno, der noch aus einer Generation stammt, für die Wandern normal ist.

„Es gab also auch vor dem Kriege schon so genannte Rekordwanderer oder begeisterte Brockenwanderer und die besten kamen aus Wernigerode. Das waren einmal Willy Beyer und Willy Fricke. Die haben seinerzeit also 500 Aufstiege beziehungsweise 650 erreicht. Das wurde aber nur so bis 1940 etwa registriert, dann war ja der Krieg, dann gab's da keine Fortsetzung.“

Wenige Meter vor dem Gipfelpunkt strahlt ein Pärchen Brocken-Benno an. Der lächelt etwas verschmitzt, als hätte er sie erwartet:

„Das sind so meine Wanderfreunde, die ich mindestens dreimal in der Woche hier oben treffe, aus Nordhausen.“
Wanderin: „Eigentlich hat er uns angesteckt. Er hat uns erklärt, als wir angefangen haben zu wandern … weiß ich noch wie heute, er sagte, wie oft wir hier oben gewesen sind? Und da hab ich damals gesagt: 16 Mal – und Sie? und und so ging's los – och.“

Manchmal geht es auch weiter – auch ohne Hexen, aber nicht ohne Dichter, denn die machten den Harz bekannt. Goethe zuerst, dann Heine, schließlich der Däne Andersen. Goethe, der – wenn er zu Fuß ging – sich 1777 als Herr Weber und als Maler ausgab, wird besonders gerne zitiert.

„Alle Nebel lagen unten, und oben war herrliche Klarheit, und heute Nacht bis früh war er im Mondschein sichtbar und finster auch in der Morgendämmerung, da ich aufbrach.“

Dieses Stimmungsbild legt sich noch lange auf so manchen Bergbesteiger-Bericht. Goethe spricht von „Vater Brocken“ und Kleist wünscht sich 1809 ganz national-patriotisch die Aufführung seiner „Hermannsschlacht“ auf dem Brockengipfel.

„Ich wollte, ich hätte eine Stimme von Erz, und könnte sie, vom Harz herab, den Deutschen absingen.“

Die Landschaft überdeckt den Flickenteppich deutscher Kleinstaaterei. Aber alle Grenzen kann er denn doch nicht verwischen. Heinrich Heine seziert deutsche Frömmelei und nationale Gefühlsduselei und spottet über den Philistertross.

„Lebet wohl, ihr glatten Säle,
Glatte Herren! Glatte Frauen!
Auf die Berge will ich steigen,
Lachend auf euch niederschauen.“

Mit der „Harzreise“ gelingt ihm 1826 der große Wurf, er gibt der literarischen Reisebeschreibung eine neue Form, bleibt nicht bei beschaulicher Landschaftsschilderung stehen.

„Und wenn solch ein Berg seine Riesenaugen öffnet, mag er wohl noch etwas mehr sehen als wir Zwerge, die wir mit unsern blöden Äuglein auf ihm herumklettern.“

Der dänische Geschichtenerzähler Hans Christian Andersen bringt nicht nur seinen Landsleuten die Gegend näher, als er seinen Bericht veröffentlicht:

„Schattenbilder einer Reise in den Harz, die sächsische Schweiz etc. etc. im Sommer 1831“

Und Goethe? Er ist 26 Jahre alt, als in Deutschland die letzte Hexe verbrannt wird. Zwei Jahre später ist er beruflich in der Gegend, die wie geschaffen ist für schwarze Magie, Geisterbeschwörung und Teufelspakt. Die Namen sind Fingerzeige: Hexentanzplatz, Hexenmoor, Hexenwiese, Hexenteich, Walpurgis, Blocksberg. Und so werkelt er denn fleißig am Mythos vom Hexenflug – in der „Walpurgisszene“, im „Faust“.

„Die Hexen zu dem Brocken ziehn,
die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün.
Dort sammelt sich der große Hauf,
Herr Urian sitzt obenauf.“

Urian, der Teufel. Urian – das war auch der Name, den die Staatssicherheit der DDR der Überwachungsstation für den Funkverkehr mit dem Westen gab.

„Bei vielen Touristen wurde ich ja immer gefragt, wo verlief denn hier nun die Grenze? Ging die übern Brocken oder wo ging das hier lang? Ja und dann habe ich denen das erklären können.“

Am und auf dem Harz prallten die Weltmächte aufeinander, standen sich mit Antennen und Funkmasten gegenüber, belauschten und störten einander. Der Brocken hat Symbolkraft, nur die Symbole wechseln. Am 3. Dezember 1989 wurde er wieder „geöffnet“.

„Da sind ringsrum 48 Platten verlegt mit Entfernungen alle – Hamburg is auch drauf, also die Luftlinie nach Hamburg ist dort kilometermäßig zu ersehen.“

Das Ehepaar kommt aus Hamburg.

„Und dann empfehl ich auch den Rundweg, rund um den Brocken.“
„Ja ja.“
„Auf dem Rundweg stand zu DDR-Zeiten eine Betonmauer.“
„Och nee.“
„Drei Meter sechzig hoch.“
„Gibt's nich.“
„Ja, der Brocken war militärisches Sperrgebiet, kein Mensch kam hoch.“
„Schade, ne.“
„Auch ich nicht.“
„Neenee, is klar.“
„Das war 28 Jahre gesperrt.“

„Vater Brocken“, wie ihn auch Brocken-Benno gerne nennt, liegt fast in der geografischen Mitte Deutschlands. Hier kommt man schnell auf Ost-West-Geschichten zu sprechen. Geschichten, aus denen Geschichte entsteht.

Der Brocken – der deutschromantischste Gipfel im ganzen Land. Viel wurde darüber aus den Augen verloren, verschwand im Nebel des Vergessens. Zum Beispiel, dass der erste deutsche König Heinrich der Erste in Quedlinburg residierte. Sein Sohn Otto wurde Kaiser und der Harz rückte in den Mittelpunkt des Reiches.

Der Brocken wollte entdeckt werden, erobert und vermessen, seine wahre Größe bestimmt sein. So kam Otto von Guericke, um die Höhe des Berges zu bestimmen. Aber, leider, sein Diener war so tapplig gewesen und zerschlug an einem Felsen das Barometer. So ward Karl Friedrich Gauß, der Mathematiker, derjenige, dem das gelang. Und zwar sehr genau, so exakt wie es heute Satelliten bestätigen: 1140,8 Meter.

Dann brachte die Eisenbahn den Touristen den Harz näher, in einer Zeit, da die Alpen unzugänglich waren, die Schwarzwald noch unentdeckt. Als 1800 das Gasthaus auf dem Großen Brocken öffnete, nahm der Brockentourismus rasant zu.

Mehr schöne Aussicht als karge Einsicht war gefragt, der harte Alltag eines Lebens in Armut lockte höchsten Volkskundler an. Eine bucklige Gegend, Heines Aussagen werden schnell überlesen.

„Ich besuchte mehrere dieser wackeren Leute, betrachtete ihre kleine, häusliche Einrichtung … (…) So stillstehend ruhig auch das Leben dieser Leute erscheint, so ist es dennoch ein wahrhaftes, lebendiges Leben.“

Und Goethe, natürlich wieder Goethe? Er datierte kurzerhand und rückblickend den Beginn seiner Farbenlehre dorthin.

„Als aber die Sonne sich endlich ihrem Niedergang näherte und ihr durch die stärkeren Dünste höchst gemäßigter Strahl die ganze mich umgebende Welt mit der schönsten Purpurfarbe überzog, da verwandelte sich die Schattenfarbe in ein Grün, das nach seiner Klarheit einem Meergrün, nach seiner Schönheit einem Smaragdgrün verglichen werden konnte.“

Brocken-Benno ist oben angekommen. Oben, das sind 1140,8 Meter über Normalnull. Rund 500 Höhenmeter hat er in den Knochen.

„Ach, es ist eigentlich ein schöner Tag, ich meine, Wind haben wir eigentlich fast immer hier auf dem Brocken Aber die Sonne scheint, was will man mehr. Es ist ideales Wanderwetter, auch nicht zu heiß. Es macht schon Spaß.“

Offenbar auch denen, die gerade zu Hunderten mit der Brockenbahn den Gipfel „erstürmen“. Gerd Borchert sinniert:

„Rekordwanderer hat man sicherlich viele. Für jedes Hobby muss man ein bisschen verrückt sein. Und einer, der 5000 Mal hoch läuft, ist vielleicht ein bisschen mehr verrückt. Uns sind die Leute lieb, die also die Natur genießen, die sich auch in der Natur wohl fühlen. Und da gibt es also auch viele, die einmal in der Woche oder zweimal in der Woche hier hochkommen und wir kommen mit ihnen gut aus.“

Für Benno Schmidt alias Brocken-Benno zählt jetzt nur noch … der Stempel. Er steuert den kleinen Laden am Hotel an, zückt den Wanderpass – ohne Stempel kein Aufstieg.

„Ich komm heut mal zu dir, Günther.“
„Du kommst heute mal zu mir, ja.“
„Will ich dir guten Tag sagen.“
„Einen wunderschönen guten Tag, ja.“
„Und dann möcht ich mal nen Stempel von dir.“
„Das machen wir.“
„Also dann bis morgen, Günther.“
„Benno, bis morgen, ja.“

Das nimmt Herr Schmidt wörtlich. Morgen, an seinem 75. Geburtstag, will Brocken-Benno aus Wernigerode zum 5000. Mal den Brocken besteigen. Denn das hat er sich ja vorgenommen. Den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde hat ja er schließlich auch geschafft.