Udo Pollmers Mahlzeit

Wodurch ganze Geierarten wirklich ausgerottet werden

Ein Geier sitzt neben dem Gerippe einer Kuh.
Bereits 1,5 mg Diclofenac genügen, um einen Geier zu töten. © picture alliance/WILDLIFE
Von Udo Pollmer · 24.08.2018
In Indien und in Afrika sterben ganze Geierarten. Naturschützer machen dafür vor allem das Schmerzmittel Diclofenac verantwortlich. Das aber ist nur die halbe Wahrheit, weiß Udo Pollmer.
Naturschützer beklagen "eine Tiertragödie größten Ausmaßes". Gleich auf zwei Kontinenten hat ein dramatisches Sterben viele Geierarten an den Rand des Abgrunds gebracht. Verantwortlich dafür seien Tiermedikamente. Stimmt im Prinzip.
Das Sterben begann in Indien in den Türmen des Schweigens. Dort pflegen die Parsen, Angehörige einer indischen Religion, ihre Toten den Geiern zum Fressen anzubieten. Da so ein Vogel pro Minute ein ganzes Kilo Fleisch herunter zu schlingen vermag, bleibt in kürzester Zeit nur noch das Skelett übrig. Für einen Parsen ist das die einzig würdige Form der Bestattung. Doch damit war eines Tages Schluss. Der Grund: Die Verstorbenen hatten vor ihrem Tod Diclofenac erhalten, ein billiges wie wirksames Schmerzmittel. Bereits 1,5 mg Diclo genügen, um einen Geier zu töten. Die Leber eines Schmerzpatienten reicht für mehrere Vögel.
Nun vermag dieser lokale Brauch nicht ihr Verschwinden vom indischen Subkontinent zu erklären. Außerhalb des Gebietes der Parsen brachten wenige Jahre später die Glaubensvorstellungen der Hindus den Geiern den Tod. Hindus verehren Rinder. Jede streunende heilige Kuh gehört irgendjemanden, der sie bei Bedarf vor seinen Pflug oder Karren spannt. Die Tiere sind ein Kapital, das man solange wie möglich arbeiten lässt. Also bekommen sie, wenn sie nicht mehr laufen können, aufgrund der guten Wirkung beim Menschen, ebenfalls reichlich Diclofenac. Töten dürfen die Besitzer die leidenden Tiere nicht. Nachdem sie jämmerlich krepiert sind, entsorgen die Geier ihre Kadaver. Nun haben die heiligen Kuhkadaver ihrerseits die Geier entsorgt.

Heilige Kühe werden zu Schlachtvieh

Die Folgen sind verheerend – die verwesenden Tiere liegen in der Sonne, verpesten die Luft, nähren die Ratten und Straßenköter. Diese verbreiten die Tollwut. Indien musste handeln.
Man entschloss sich, das Schlachtverbot zu lockern. Solange die Tiere noch gesund sind, liefern sie gutes Fleisch. Dann lohnt es sich auch, die jungen Kälber heranwachsen zu lassen. Bisher ließ der Halter, um die Milchproduktion anzuregen, das Kälbchen im Einklang mit der Religion vor den Augen des Muttertieres langsam verhungern. So erhielt er mehr Milch für die eigenen Kinder. Zudem hat mit der Motorisierung das Rind als Zugtier allmählich ausgedient, so wie bei uns die Pferde.
Nachdem die Heiligsprechung der Kühe durch ihren Verzehr abgelöst wurde, so wie es auch die uralten vedischen Schriften gestatteten, begann Indiens Aufstieg zum größten Rindfleischexporteur der Welt. Der Export bringt Wohlstand ins Land. Den Geiern werden dadurch immer weniger ausgemergelte heilige Gift-Kühe zum Fraß vorgeworfen.

Farmer vergiften Löwen

In Afrika, so wurde von Naturschützern gemutmaßt, sei das Geiersterben ebenfalls auf Diclo, diesmal unbekannter Herkunft, zurückzuführen. Doch dort ist die Ursache vor allem ein Insektizid namens Carbofuran. Das billige Uraltmittel gefährdet Säugetiere wie Vögel gleichermaßen. Die Geier sterben natürlich nicht am Versprühen des Insektengiftes auf Maisfeldern, sondern durch Löwenbekämpfung. Dank neuer Naturreservate erhielten die Raubkatzen in Kenia neuen Lebensraum. Doch statt die flinken Antilopen zu jagen, schleichen sie nachts lieber zu den Herden der Hirten. Diese zäunen ihr Vieh zwar mit Dornengestrüpp ein, aber die Räuber wissen sich zu helfen. Sie umkreisen den Zaun und fauchen, bis innen Panik ausbricht. Dann gibt’s ein Festmahl für das ganze Rudel.
Um ihre Herden zu schützen, bestreuen die Tierhalter tags darauf die Überreste der gerissenen Rinder mit Carbofuran*. Kehren die Löwen später zu ihren Rissen zurück, um ihre Mahlzeit fortzusetzen, krepieren sie. Nun bietet sich den Geiern ein reich gedeckter Tisch mit toten Löwen - und sie verenden ebenfalls.
Man kann es sich aussuchen, ob man Tod der Geier den "Giften" anlastet oder dem "Glauben", egal ob es sich um alte östliche Religionen handelt oder um neue Naturreligionen aus dem Westen. Sie verstellen den Blick für die ökologischen Zusammenhänge, insbesondere für die Ernährung von Mensch und Tier. Mahlzeit!

*) Nachträgliche Anmerkung: Das Problem "Carbofuran" zum Vergiften von Geiern ist nicht auf kenianische Hirten beschränkt. Auch Wilderer besprühen damit die Kadaver, nachdem sie den Teil des Tieres abtransportiert haben, den sie begehrten. Weil die Geier sofort über einem toten Tier kreisen, verraten sie die Wilderer. Je weniger Geier, desto ungefährdeter können sie ihren illegalen Geschäften nachgehen.
Ein wichtiger Grund für die Wilderei ist der Mangel an Fleisch sowie die horrenden Preise für "traditionelle Medizin", die aus Wildtieren gewonnen wird. Mit einer schnell wachsenden Bevölkerung, die sich nicht selbst ernähren kann, wird der Konflikt zwischen Tier und Mensch immer schärfer. Ausgetragen wird er auf dem Rücken der Subsistenzbauern, denen das Wild die Ernten zerstört. Ein Maisfeld bietet einer Elefantenherde einen reich gedeckten Tisch. Die Eigentümer sind den Wilderern dankbar, die ihnen die bedrohlichen "Ernteschädlinge" vom Leibe halten. (UP)


Literatur:
Oaks JL et al: Diclofenac residues as the cause of vulture population decline in Pakistan. Nature 2004; 427: 630-633
Baumgart W: Das durch Diclofenac verursachte Geiersterben in Indien. Deutsches Tierärzteblatt 2017; 65: 306-312
Royte E: Vultures are revolting. Here’s why we need to save them. National Geographic 2016; H.1
Ogada DL et al: Dropping dead: causes and consequences of vulture population declines worldwide. Annals oft he N.Y. Academy of Sciences 2011; 1249: 57-71
Harris M: Good to Eat: Riddles of Food and Culture. Waveland Press 1985
Jaeggi P: Die heilige Kuh: Eine kleine indische Kulturgeschichte. Paulusverlag, Freiburg (CH) 2009
Ehlers H: Vulture populations are in crisis. This is why you should care. The World Economic Forum, 28. July 2016
Mushakavanhu T: Why elephant poaching is bringing the vulture to the brink of extinction. The World Economics Forum, 26. June 2015
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