Udo Pollmers Mahlzeit

Wer hat das Vitamin C erfunden?

Zehn Vitamin-C-Kapseln in zwei Reihen in einer Blisterpackung
Eine Blisterpackung mit Vitamin-C-Kapseln © Imago / Westend 61
Von Udo Pollmer · 29.06.2018
Vor 80 Jahren fasste das Schweizer Unternehmen Roche einen Entschluss: Vitamin C sollte vermarktet werden. Die Hausärzte lachten die Pharmavertreter nur aus. Doch das Unternehmen fand einen Weg, dem Vitamin zu seinem Siegeszug zu verhelfen, erklärt Udo Pollmer.
Aktuell warnen die Verbraucherzentralen vor Nahrungsergänzung für Kinder. Gut die Hälfte der Proben überschritten die vom Bundesinstitut für Risikobewertung vorgeschlagenen Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe oder schöpften sie aus, obwohl diese Höchstmengen erst ab einem Alter von 15 Jahren gelten.
Das Schlucken von Vitaminen hat die beschwerlichen Wallfahrten zu den Reliquien abgelöst, die einst von Kranken in der Hoffnung auf Heilung aufgesucht wurden. Heute versprechen Vitamincocktails Erlösung, wo früher die Anbetung eines Tischtuchs erforderlich war. Im Kloster Andechs wird zu diesem Zwecke ein Stück vom Tuch des letzten Abendmahls aufbewahrt. Schwangere pilgerten ins französische Charroux, weil die dort abgebliebene Vorhaut Christi eine glückliche Geburt versprach. Ein weiteres Exemplar lockte die Gläubigen in die Laterankirche in Rom. Insgesamt wurden sogar 13 Vorhäute Christi, Sancta Praeputia verehrt – exakt so viele, wie es jetzt Vitamine gibt, von denen die Gemeinde selbige Wunder erwartet.

Wie ein Pharmaunternehmen die Hausärzte überzeugte

Den Paradigmenwechsel hat das Schweizer Unternehmen Roche vor gut 80 Jahren eingeleitet, als es nach Wegen suchte, die Ascorbinsäure zu vermarkten. Vitamin C hatte sich bei Skorbut als wirksam erwiesen, einem alten Seefahrerleiden. Doch das war längst verschwunden und neue Anwendungen nicht erkennbar. Also wurde die Propagandaabteilung beauftragt, die "praktischen Ärzte zu Vitamingläubigen bzw. Vitaminverschreibern zu machen". Das erwies schwerer als gedacht, die Pharmavertreter wurden von den Hausärzten nur ausgelacht.
Also kitzelte man sie an einem sensiblen Organ, dem Geldbeutel. Dazu brauchte man eine neue Indikation. Roche erfand die "okkulte Hypovitaminose". Neben dem akuten Mangel gäbe es auch "versteckte" Mangelzustände und es sei Aufgabe der Ärzte, deren "Gefährlichkeit und Heimtücke" aufzudecken. Für den "Hypovitaminose-Fischzug", so der Firmenjargon, brauchte man "etwas Hokuspokus". Man bot einen Test an: Entfärbte der Urin einen Blaufarbstoff, dann war genug Vitamin C im Körper, falls nicht, dann seien Tabletten erforderlich. Die Entfärbung trat allerdings erst bei einer massiven Überdosis ein, so dass das Vitamin unverändert mit dem Urin wieder rausplätscherte.
Das Konzept hinter der sog. "okkulten Hypovitaminose" funktioniert so: Wer mit seinem Pkw mit vollem Tank startet, hat nach ein paar Kilometern etwas weniger Kraftstoff im Tank. Und schon beginnt der "okkulte" Benzinmangel im Auto. Der Fahrer muss nun alle paar Kilometer so viel tanken, bis es kräftig überläuft. Heute spricht man von subklinischem Mangel, weil das Wort "okkult" einen verräterischen Beigeschmack hat.

Fachblatt: Zusammenhang zwischen Vitaminmangel und Intelligenz

Richtig in Fahrt kam die Kampagne, als Ernährungsgurus ihre Chance entdeckten und klagten "Trotz … den Vitaminpräparaten unserer pharmazeutischen Industrie sind die Krankheitsschäden im Schweizervolke infolge Bevorzugung vitaminarmer … Nahrung in aufsehenerregendem Maße vorhanden." – das war 1939.
Im Fachblatt Science beklagte 1942 ein Vitaminforscher die "geistige Stumpfheit bei Schulkindern" durch okkulten Vitaminmangel. Dieser führe zum "Betrügen, Lügen, Stehlen oder anderweitigen Verstößen gegen die menschliche Ordnung". "Da eine reichliche Versorgung mit Vitaminen die Intelligenz des Menschen zu erhöhen vermag, besteht demnach die Aussicht, auf diese Weise die Moral zu fördern." Speziell den Betreibern von Arbeitslagern gewährte Roche Sonderkonditionen.

1954 explodierte Ascorbinsäure-Anlage

Nach dem Krieg krönte die Firma ihre Hypovitaminose-Fischzüge mit einem Produkt, das Till Eulenspiegel nicht besser hätte ersinnen können: Vitaminisierte Nylonstrümpfe für die mode- und gesundheitsbewusste Frau.
Am 14. Mai 1954 kam es zu einem tragischen Unfall: Die Ascorbinsäure-Anlage flog in die Luft und riss fünf Arbeiter in den Tod. Bis heute ist die Vitamin-Explosion das schwerste Unglück bei Roche in Basel. Das Unternehmen aber ließ sich nicht entmutigen und entwickelte Jahre später einen neuen Sprengstoff aus Kunstdünger, etwas Backpulver und viel supergesundem Vitamin C. Mahlzeit!
Literatur:
Bächi B: Konsum und Kontrolle: Wie Vitamin C zu einem Allheilmittel werden konnte Therapeutische Umschau 2015; 72: 463-468
Bächi B: Vitamin C für alle! Pharmazeutische Produktion, Vermarktung und Gesundheitspolitik (1933-1953). Chronos, Zürich 2009
Verbraucherzentrale: Nahrungsergänzungsmittel für Kinder sind meist zu hoch dosiert. Pressemeldung vom 15. Mai 2018
Herrmann H: Lexikon der kuriosesten Reliquien. Rütten & Loening, Berlin 2003
Jetzler A, Niederberger W: Zur Methodik der Ascorbinsäure-Bestimmung im Urin. Klinische Wochenschrift 1936; 20: 710–711
Wlliams RJ: Vitamins in the future. Science 1942; 95: 340-344
Hoffmann-La Roche AG: Preparation of explosives containing degradation products of ascorbic or isoascorbic acid. US-Patent 4.964.929; 23. Oct. 1990
Wehrli PA, Space MJ: Golden Powder: A new explosive/propellant based on ascorbic acid. 13th Symposium on Explosives and Pyrotechnics. Hyatt on Hilton Head Island, SC, 2-4. Dec. 1986
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