Typisch australisch

Von Margarethe Blümel · 12.07.2012
Ein Städtchen, wie es in Australien viele gibt: Taralga. Die meisten Einwohner leben dort seit ihrer Geburt. Viel Zerstreuung gibt es nicht, gute Jobs fehlen. Doch im Januar lockt das Taralga Rodeo Tausende von Touristen an.
Taralga zur morgendlichen Rush Hour. Die lokale Vogelwelt hat es sich auf Dächern, Strommasten und Zäunen gemütlich gemacht und besingt den neuen Tag, während die Backsteinhäuser an der Haupt- und Durchgangsstraße den Schlaf über ihre grauen Wellblechdächer gezogen haben und ein oder zwei Autos in nur unregelmäßigen Abständen am Ortseingangsschild vorbei Richtung Kreisstadt fahren. Die Insassen, die wahrscheinlich ihre Arbeitsstelle im 50 Kilometer weit entfernten Goulburn ansteuern, haben das Ortsschild schon zu oft gesehen, um noch Notiz davon zu nehmen: Taralga, gegründet im Jahre 1843. Vierhundertvier Einwohner. Eine ordentliche Stadt.

Die kleine Ortschaft, die sich selbst als Städtchen auf dem Land bezeichnet, liegt drei Autostunden weit von Sydney entfernt im Südosten Australiens. Es gibt viele solcher Orte in Australien – sie sind durch eine passable Straße mit einer größeren Stadt verbunden und gerade noch nicht so abgelegen, dass sie unter den Begriff Outback fallen würden. Und sie sind trotz ihrer Winzigkeit weitgehend autark. So hat Taralga unter anderem eine Grundschule. Außerdem fügt Taralgas Postbeamtin Pat Williams hinzu:

"Einen Laden für landwirtschaftliche Produkte, eine Metzgerei, die allerdings nur Freitagnachmittags geöffnet ist, einen Zeitschriftenladen, zwei Gaststätten, einen kleinen Supermarkt, ein Geschäft, das Kunsthandwerk vertreibt."

Und, nicht zu vergessen, Pats Arbeitsplatz. An dem nun, zum ersten Mal an diesem Morgen, das Telefon klingelt.

Ein ganz gewöhnlicher Vormittag im Postamt von Taralga. Pat Williams arbeitet seit 37 Jahren hier, inzwischen nur noch als Vertretung, weil sie offiziell längst in Rente ist. Aber sie hat – im wahrsten Sinne des Wortes – alle Hände voll zu tun. Den Hörer in der Linken, nutzt sie die freie rechte Hand, um für die 90-jährige Dorothy Sanders die gewünschte Adresse aufs Kuvert zu schreiben.

Kurz darauf betritt Kay die Schalterhalle und gibt den Familienhund in Obhut. Ihre Mutter sei jeden Augenblick da, um den Hund abzuholen. Sie selbst müsse jetzt zur Schule. Wenig später kommt Sue Shirt zur Tür herein. Sie hatte gestern einen Arzttermin und schüttet Pat ihr Herz aus.

"Geld, Geld, Geld, nach etwas anderem fragen sie nicht! Du siehst die Ärzte doch nicht einmal! Es ist furchtbar – in deren Augen ist man nichts als eine Nummer!"

Das Postamt von Taralga ist der Knotenpunkt des Örtchens. Hier werden nicht nur Päckchen oder Briefe abgegeben, Postfächer geleert und Geldsendungen auf den Weg gebracht. Darüber hinaus betrachten die Bewohner von Taralga den kleinen, lichten Bau als die wichtigste Begegnungsstätte ihres Ortes.

Pat Williams wundert sich darüber, dass ihre Kollegen im fernen Deutschland mit ihren Kundinnen und Kunden eher selten Tee trinken. Und, schlimmer noch, dass es nicht selbstverständlich ist, im Bedarfsfall Briefe zu beschriften oder dem Kunden eine wichtige Sendung auch einmal nach Dienstschluss auszuhändigen. Pat kennt jeden in Taralga – seinen Namen, seine Automarke, seine Adresse, sein Alter und seinen Beruf:

"Wir haben zum Beispiel drei Klempner, einen Bauunternehmer und einen Elektriker in unseren Reihen. Zwei Friseusen, die auch Herren die Haare schneiden. Es gibt eine ganze Reihe Landwirte, aber die meisten von ihnen kommen nur über die Runden, weil ihre Ehefrauen mitarbeiten – als Lehrerin zum Beispiel oder als Aushilfskraft in einem Supermarkt."

Kleine Orte wie Taralga hängen trotz des Bestrebens nach Unabhängigkeit zwangsläufig an der Nabelschnur der nächsten größeren Stadt. Für viele Bewohner Taralgas bedeutet das, täglich in die 50 Kilometer entfernte Kreisstadt Goulburn zu fahren oder, noch eine Autostunde weiter, gleich nach Canberra. Goulburn lockt mit Jobs in der Schafzucht und im großen Schlachthof. In der Hauptstadt Canberra gibt es Arbeitsplätze im Servicebereich, beim Sicherheitsdienst, in den Schulen und an den Universitäten.

Die Zeiten, in denen sich Taralgas Einwohner noch von ihrem Land ernähren konnten, sind seit langem vorbei:

"Zunächst waren es Aborigines, die hierherkamen und die sich dann erst mal auf die Jagd begaben. Allerdings hielten sie sich nicht das ganze Jahr über in Taralga auf, vor allem wohl, weil es hier, am Fuße der Great Dividing Range, während des Winters ausgesprochen kalt werden kann. Um 1818 herum kamen dann die ersten Weißen in die Region."

40 Jahre später brach der Goldrausch über Taralga herein. Als einige Zeit danach nichts mehr vom goldenen Segen übrig war, zogen die meisten weiter. Wer blieb, baute ein Haus und trotzte dem Boden das Nötigste ab. Eine ganze Weile lang konnten sich die zeitweilig bis zu 800 Einwohner des Landstrichs von dem ernähren, was der Boden hergab. Sie bauten Weizen an und hielten Schafe und Rinder.

Doch mittlerweile haben mehrere Dürren Taralga ihren Stempel aufgedrückt: Die Wiesen sind von fahlem Grün. In den kargen, hart geprüften Böden krallen sich hier und da ein paar für die Gegend typische Eukalyptusbäume. Unter ihrem Dach suchen im Sommer die Schafe Zuflucht, wenn die Sonne mittags auch das letzte Wölkchen beiseite geschoben hat und nichts und niemand mehr sich dieser sengenden Gewalt aussetzen mag. Auch die genügsamen Rinder, die gewohnt sind, sich mit dem Stoppelgras zu bescheiden, flüchten dann unter die Bäume. Während sich ihre Besitzer in einen der beiden Pubs Taralgas zurückziehen.

Vor allem freitags und samstags ist es im Top Pub und im Bottom Pub regelmäßig brechend voll. Reihen um Reihen von Fahrzeugen sind vor den Etablissements geparkt. Schließlich wollen die Besucher später irgendwie nach Hause kommen.

Das sind die Zeiten, während derer der im Ort lebende Polizist den Dienstwagen im Hinterhof parkt und sein Türschild auf "I'm out" (Bin nicht zu Hause) dreht, um dann seinen Kollegen aus der Kreisstadt das Feld zu überlassen:

"Er sorgt also dafür, dass der Patrouillenwagen für die Alkoholkontrollen zu uns herauskommt."

Die Goulburner Kollegen schließlich legen sich dann an einem strategisch günstigen Punkt hinter der nächsten Kurve auf die Lauer. Doch abgesehen von solchen Eskapaden hat die Polizei in Taralga kaum etwas zu tun. Das hängt vielleicht mit der Homogenität der Bevölkerung zusammen. Die meisten der Familien leben seit langem hier. Es ist selten, dass Fremde in Taralga Fuß zu fassen suchen. Wie in vielen anderen Kleinstädten des Landes wird das Wort Nachbarschaftshilfe groß geschrieben. Als vor ein paar Jahren die vorerst letzte Dürre über den Landstrich hereinbrach, griffen einige der in der Stadt arbeitenden Bewohner tief in die Tasche, um den am schlimmsten betroffenen Farmern auszuhelfen. Wieder andere stellten den Landwirten Säcke mit Viehfutter vor die Tür. Über all das wurde nicht all zuviel geredet. Außer natürlich im Postamt, wo die Not der Nachbarn ein lange Zeit bestehendes Hauptthema ablöste… die Frechheit eines Mitbürgers:

"Dieser Mann stieg andauernd in irgendein fremdes Auto, einfach, weil er keine Lust hatte, zu Fuß nach Hause zu gehen. Wenn also die Leute, wie hier üblich, ihren Wagen unverschlossen auf der Hauptstraße geparkt hatten, saß er bei ihrer Rückkehr schon da und sagte, dass sie ihn doch, bitte sehr, mitnehmen und zu Hause abliefern sollten. Und, ach so, ja, vielen Dank auch! Er war nicht aus dem Auto zu bewegen, ehe man ihn nicht vor seiner Haustür abgesetzt hatte! Nun ja – selbst hier bei uns zahlt es sich aus, den Wagen abzuschließen, wenn man ihn auf der Straße abstellt!"

Mindestens einmal im Monat geht jeder in Taralga in eines der drei Gotteshäuser. Wer sich dann aus irgendwelchen Gründen nicht mehr dort sehen lässt, riskiert, darauf freundlich und milde besorgt angesprochen zu werden. Was das angeht, sind nur die Jugendlichen ausgenommen. Vielleicht, weil sie schon ein paar Unbilden in ihrem jungen Leben hinnehmen müssen, die mit der Lage des Örtchens zusammenhängen: Obwohl die Regierung allen Australiern seit Jahren eine konstante Internetverbindung via Breitbandnetz verspricht, ist der Internetzugang in den meisten Kleinstädten alles andere als zuverlässig. Da die jungen Leute in der Regel noch kein Auto haben, bleibt ihnen als Ablenkung einzig der Sportclub.

Die beruflichen Aussichten sind für die Jugendlichen in Taralga ebenfalls nicht rosig. Auch in Australien schreitet die Automatisierung fort. Auf Goulburns Schlachthof sind deshalb schon einige Stellen gestrichen worden. In der Schafszucht, der Domäne Goulburns, sieht es ähnlich aus. Die begehrten Jobs im Kohlebergbau – kurze Anlernzeit, schnelles und gutes Geld – sind kaum erreichbar.

Angesichts solcher Aussichten fiebern vor allem auch die Jugendlichen jedes Jahr einem Ereignis entgegen, das am letzten Wochenende des Januars stattfindet. Dann nämlich, wenn sich das Städtchen den Schlaf aus den Augen gerieben hat, um das Taralga Rodeo zu begehen.

Mindestens 4000 Besucher fallen dann in Taralga ein. Städter aus Goulburn und aus Canberra, die Landluft schnuppern wollen. Unspektakulär in Jeans und Baumwollhemden gekleidete Frauen aus dem ländlichen Umfeld und ihre männlichen Pendants in Shorts oder in Jeans, mit von Wind und Wetter gegerbten Gesichtern, die Füße von schwarzen oder dunkelbraunen Halbstiefeln bedeckt, den unvermeidlichen breitrandigen Hut tief in die Stirn gezogen.

Einige der Rodeobesucher kommen aus Hunderte von Kilometern weit entfernten Flecken zum Taralga Rodeo. Die Gespräche ebben kaum je ab – auch jetzt nicht, während im Ring ein junger Reiter gewandt, tollkühn und mit allem Starrsinn dieser Welt gewappnet im Sattel zu bleiben versucht.

Mary Mooney gehört seit mehr als 40 Jahren zu den Hauptorganisatoren von Taralgas Großereignis:

"Unsere Art Rodeo ist hochinteressant, nicht zuletzt, weil es so etwas nur hier in Australien gibt. Es hat sich hier entwickelt, weil die Weiden, auf denen die Farmer ihre Tiere hielten, kein abgeteiltes Areal hatten. Und manchmal galt es, einzelne Tiere abzusondern. Daraus entstand zunächst ein Wettbewerb zwischen zwei Pferden und schließlich wetteiferten sogar die Farmer miteinander. Dann der Wettstreit der Hunde. Dabei mustern die Tiere, genau wie während ihrer Arbeit auf der Farm, einzelne Schafe aus, um sie am Ende in ein kleines Gehege zu treiben – so, als warte der Scherer dort auf sie, um sogleich mit seinem Tagwerk zu beginnen."

Drei Tage dauert das Taralga Rodeo, wo sich die Teilnehmer auf niederträchtig bockenden Pferden oder rasend durch die Arena stampfenden Stieren zu halten suchen, wo Hunde überaus geschickt aus einer Schafsherde ein ganz bestimmtes Tier raussuchen, wo beim Wettbewerb um die beste und schnellste Schur die Scheren singen. Während dieser Zeit muss sogar die stets zuvorkommende Postbeamtin manchen Gesprächspartner auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten:

"Well… See yous all later! Bye-bye!"
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