Ein Fest für die Soziologen
Sie knipsen ihren Bikini-Bauch oder stecken den Kopf in den Kühlschrank. Menschen tun seltsame Dinge, um im Web mit anderen in Kontakt zu kommen. Dahinter stecke eine Sehnsucht nach Freiheit, meint der Schriftsteller Peter Glaser.
Kopfmenschen nennen ein Internet-Phänomen, das sich überraschend rasant verbreitet, ein Mem. Bei dem aktuellen Mem, das gerade unter dem Namen bikinibridge durchs Netz rast, sind explizit keine Köpfe zu sehen. Es ist ein Bauchphänomen. Der Slangbegriff bikinibridge bezeichnet den von einem Bikinihöschen überspannten Bereich zwischen den beiden Hüftknochen einer Frau, der den Bauch nicht berührt. Unter dem Hashtag #bikinibridge überfluten nun seit dem 5. Januar Fotos das Netz, die dieses Stück Bekleidungsarchitektur dokumentieren.
An diesem Tag begann auf der für sowas berüchtigten Website 4chan die „Operation Bikini Bridge“. Ihr Ziel: das bikinibridge-Mem als das „nächste dicke Ding“ zu promoten, es aber zugleich auch als „ungesunde Obsession“ anzuprangern. Supermodel Heidi Klum hat Fotos von sich bikiniüberbrückt veröffentlicht. Die Fotos sind Selfies, in diesem Fall kopflose Selbstporträts, und damit wiederum Teil eines übergeordneten Großtrends im Netz.
Wer sich wundert, dass das Ganze zwar mitten im Winter startet, aber ausschließlich sonnenölschimmernde, gebräunte Mädchen am Strand zu sehen sind, muss wissen, dass die ersten Blogs mit bikinibridge-Fotos bereits 2009 eröffneten, aber offenbar erst jetzt der Moment gekommen ist, an dem die Bilder in die Aufmerksamkeit der Netzweltöffentlichkeit hinausexplodieren. Was geht da vor sich? Warum machen Mädchen sowas? Vielleicht wollen sie darüber lachen, wenn Soziologen sofort wie aufgezogen von Magersucht reden, sobald man ihnen eine solche kesse Vorlage präsentiert. Wahrscheinlicher ist, dass es die Möglichkeit der Teilnahme an solchen Phänomenen ist, wodurch das Internet uns das Gefühl von Freiheit gibt.
Digitale Schlaraffenländer
Und es sind nicht nur Mädchen mit Badeanzüglichkeiten. Der New Yorker Künstler David Horvitz etwa startete 2009 das Internet-Mem „Heads in Freezers”. Wer mitmachen wollte, brauchte nur seinen Kopf in einen Kühlschrank zu stecken, ein Foto davon zu machen, es mit der Zahl 241 543 903 zu versehen und ins Internet zu stellen. Wer bei Google 241 543 903 eingibt, darf staunen.
„Sharism” nennt sich der netzgetriebene Gesellschaftswandel und das bemerkenswert gesteigerte Bedürfnis, Dinge mit anderen zu teilen – englisch: to share. Abermillionen Teilnehmer verwandeln mit ihren freiwilligen Beiträgen auch gemeinsinnige Internet-Projekte wie die Wikipedia oder Linux in digitale Schlaraffenländer. Die vormals passiven Medienkonsumenten sind durch das Netz aktiv geworden wie Ameisen, oft uneigennützig, ebenso oft unberechenbar und erstaunlich enthusiastisch.
Warum?
Weil es möglich ist.
Weil einem der Computer – anders als der Fernseher – die Möglichkeit gibt, unmittelbar etwas zu tun. War das Internet in den Neunzigerjahren zu so etwas wie der längsten Schaufensterfront des Planeten kristallisiert, so haben sich zu Beginn des neuen Jahrtausends zunehmend dialogische Angebote hinzugesellt, vor allem Blogs und Kontaktnetze wie Facebook und Twitter. Im Internet lassen sich jetzt mit derselben Freude Dinge produzieren und mit anderen teilen, mit der man zuvor konsumiert hat.
Das Netz ist eine weltumspannende Ermöglichungsmaschine. Zum Glück auch für ganz andere Sachen. Am 21. Dezember letzten Jahres starteten die beiden Journalisten Rico Grimm und Detlef Gürtler mit Hilfe der Crowdfundig-Plattform indiegogo den Versuch, dem 19-jährigen Syrer Odday Alatiki, der in einem Flüchtlingslager in Jordanien lebt, ein Informatikstudium in Deutschland zu ermöglichen.
Um ein Studentenvisum zu bekommen, musste der junge Mann 8.040 Euro auf einem Sperrkonto nachweisen können. Innerhalb von nicht einmal drei Wochen hatten ein paar Hundert Unterstützer 12.396 Euro zusammengelegt. Auch eine Art, Brücken zu bauen.
Peter Glaser, Schriftsteller, schreibt über sich: "1957 als Bleistift in Graz geboren. Lebt als Schreibprogramm in Berlin." Glaser ist Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Bachmann-Preisträger und begleitet seit drei Jahrzehnten die Entwicklung der digitalen Welt. Seinen Blog nennt er Glaserei.

Peter Glaser© privat