Türkisches Wahlverhalten in Deutschland

Hoffen auf mehr Distanz zu Erdogan

Porträt von Necla Kelek
Die Soziologin und Autorin Necla Kelek © imago / Sven Simon
Necla Kelec im Gespräch mit Sabine Adler  · 23.06.2018
Die deutsch-türkische Soziologin und Autorin Necla Kelek hofft darauf, dass die türkischen Wähler in Deutschland diesmal nicht wieder die Herrschaft Recep Tayyip Erdogans unterstützen.
Bei der Wahl in der Türkei am morgigen Sonntag hofft die deutsch-türkische Soziologin und Frauenrechtlerin Necla Kelek darauf, dass die Stimmen aus der türkischen Diaspora in Deutschland nicht so ein Gewicht haben werden. "Ich hoffe sehr, dieses Mal wird das nicht so extrem ausfallen", sagte Kelek im Deutschlandfunk Kultur. "Ich habe das Gefühl, dass sich bei sehr vielen türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern was verändert hat." Präsident Recep Tayyip Erdogan habe von Anfang an auf die europäischen Türken gesetzt und habe die Türkischstämmigen in Europa für seine Zwecke benutzt. Kelek erinnerte an Erdogans Satz: "Jeder Türke, der im Ausland lebt, ist ein Botschafter der Türkei." Sie hoffe, dass die Distanz dieses Mal größer sein werde und sich viele ihrer Landsleute in Deutschland nicht mehr so leicht einspannen lassen.

Entscheidende Abstimmung

Die Türkei hält vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ab, bei denen die Weichen für ein neues Präsidialsystem gestellt werden könnten, in dem es keinen Ministerpräsidenten mehr geben soll und nur eine deutlich schwächere Rolle für das Parlament vorgesehen ist. Befürchtet wird, dass sich die Türkei damit noch weiter vom Westen und seinen Bündnispartnern in der NATO entfernt, dass sie auf dem Weg in Richtung Autokratie, gar Diktatur weiter voranschreitet.
Die Türken in Deutschland durften bereits wählen, die Briefwahl ist abgeschlossen. Beim Verfassungsreferendum vor rund einem Jahr haben sie mehrheitlich Präsident Erdogan unterstützt. Wird das dieses Mal auch der Fall sein? Ist für türkische Wähler die Demokratie kein Wert, den sie verteidigen wollen? Tragen Demokratie-Krisen in Ländern wie den USA oder Deutschland dazu bei?

Das Interview im Wortlaut:

Sabine Adler: Willkommen bei Tacheles im Deutschlandfunk Kultur, willkommen Necla Kelek.
Necla Kelek: Hallo.
Adler: Eine seit Jahren streitbare Stimme für Integration in Deutschland. Necla Kelek wurde in Istanbul geboren, ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und Publizistin. Frau Kelek, Sie besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft seit 20 Jahren. Haben Sie zwei Präsidenten?
Kelek: Nein, ich habe eine deutsche Staatsbürgerschaft. Deutschland ist meine Heimat. Aber ich habe zwei Heimaten. Die Türkei ist nach wie vor meine Heimat. Ich habe mich immer so gesehen, dass ich nicht eine Türkin weniger, aber eine Deutsche mehr bin.
Adler: Wie hat das auf Sie gewirkt, dass ausgerechnet so prominente Fußballer wie Ilkay Gündogan und Mesut Özil, dass nun ausgerechnet solche prominenten Deutschtürken von zwei Präsidenten sprechen?
Staatspräsident der Türkei, steht zusammen mit den Premier League Fußballspielern Ilkay Gündogan (l), Mesut Özil (2.v.l.) und Cenk Tosun (r).
Staatspräsident der Türkei traf mit den Fußballspielern Ilkay Gündogan (l), Mesut Özil (2.v.l.) und Cenk Tosun (r) zusammen© dpa-Bildfunk / AP / Pool Presdential Press Service
Kelek: Mich hat das sehr verstört. Ich bin auch überzeugt, dass die Stimmung – ich weiß nicht, ob ich das so emotional oder so persönlich sehe, aber ich habe das Gefühl, dass sie sogar die Meisterschaft damit auch gestört und verstört haben, dass man nicht mehr so mit Inbrunst, wie ich das all die Jahre getan habe, nicht mehr tue, wenn so jemand so offensichtlich einer so freundlichen Kanzlerin die Hand gibt und gleichzeitig aber ein ganz anderes Konzept oder ein anderes Modell in seinem Kopf hat und einem Präsidenten wie Herrn Erdogan die Hand gibt, sogar sein Trikot überreicht. Das verstört.
Ich glaube, das hat der Meisterschaft insgesamt sogar, der deutschen Meisterschaft sowieso, aber der Meisterschaft insgesamt geschadet.

Wählen in Deutschland

Adler: Frau Kelek, für die in Deutschland lebenden Türken ist die Wahl ja quasi schon vorbei. 700.000 Menschen haben sich an dieser Wahl beteiligen können per Briefwahl. Insgesamt waren 1,4 Millionen wahlberechtigt. Haben Sie sich auch beteiligt? Haben Sie gewählt?
Kelek: Nein, ich kann ja nicht wählen. Ich habe ja nur einen deutschen Pass. Ich hätte das auch nicht gewollt. Ich wähle hier seit zwanzig Jahren. Die Möglichkeit habe ich ja. Ich habe mich immer so verstanden, dass ich mich für ein Land entschieden habe und mit allen Mitteln, was dieses Land mir gibt, auch die Möglichkeit habe, mich einzumischen in die gesellschaftlichen Möglichkeiten, sich daran zu beteiligen – weil, so verstehe ich auch Demokratie –, meine Mittel, die demokratischen Mittel zu nutzen, meine Stimme zu erheben, meine Position zu vertreten. Dies tue ich sehr gern.
Und am meisten habe ich, glaube ich, das genutzt, um auch in Richtung meiner Landsleute immer wieder die Stimme zu erheben und zu sagen: Entscheidet euch da, wo ihr lebt, dort, demokratisch. Mischt euch ein. Das ist für einen selbst gesund, aber auch für die nächste Generation. In der Familie ist es doch sehr wichtig, dass ich weiß, wo ich hingehöre.
Wahlberechtigte stehen vor dem Gelände des türkischen Generalkonsulats in Berlin für die Stimmabgabe zur Parlamentswahl 2018 an.
Wahlberechtigte vor dem Gelände des türkischen Generalkonsulats in Berlin © dpa / picture alliance / Britta Pedersen
Adler: Also hätten die Deutschtürken Ihrer Meinung nach lieber nicht wählen sollen, wenn Sie jetzt eine Empfehlung an sie hätten aussprechen sollen?
Kelek: Gut. Die türkischen Bürger und Bürgerinnen, die einen türkischen Pass haben, die haben natürlich diese Möglichkeit. Aber wir leben schon seit fünfzig Jahren hier. Und sie haben bis jetzt nicht die Möglichkeit genutzt, auch hier den deutschen Pass zu erwerben. Manche tun das ja absichtlich, dass sie sagen: Ich bin ein Türke, ich bleibe mein Leben lang ein Türke. Da gibt es auch einen Spruch wie: Ich lebe sehr gerne in Deutschland, aber werde, wenn es sein muss, für die Türkei sterben.
Also, sich wirklich zu bemühen, das erleben wir ja besonders innerhalb der türkischen Community, diese Entscheidung, einen deutschen Pass zu besitzen, als wäre das, gegen die Türkei zu sein, also nicht sich als Staatsbürger, Staatsbürgerin zu sehen, sondern immer noch nationalistisch sich zu betrachten, das tut uns insgesamt in diesem Land nicht gut, besonders in der Debatte Integration.

Stimmen für die Diktatur

Adler: Bleiben wir nochmal bei dem Wahlverhalten. Wir haben das im vorigen Jahr im April gesehen, als das Verfassungsreferendum anstand, dass es ausgerechnet die Türken in der Diaspora waren, insgesamt sind das ja drei Millionen Menschen, ungefähr die Hälfte davon in Deutschland, dass die das Zünglein an der Waage durchaus auch mit waren und mehrheitlich dem Präsidenten Erdogan ihre Stimme in diesem Projekt gegeben haben, das heißt, wissend für einen Demokratieabbau gestimmt haben.
Sie haben mal diesen wunderbaren Satz geprägt, wenn ich Sie da mal zitieren darf: "Deutschtürken leben in einer Demokratie und haben für eine Diktatur gestimmt." – Können wir dasselbe morgen wieder erwarten?
Kelek: Ich hoffe sehr, dieses Mal wird das nicht so extrem ausfallen. Ich habe das Gefühl, dass sich bei sehr vielen türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern was verändert hat, auch sogar in Deutschland, dass endlich die bürgerlichen Türkischstämmigen auch sich bewegt haben, auch zur Wahl gehen, auch versuchen mit sich einzumischen, was ja vorher eher zurückhaltend war.
Und der Erdogan hat ja von Anfang an auf die europäischen Türken gesetzt. Das war ja auffällig. Er wollte eine Europapolitik in der Türkei machen, aber immer mit dem Satz: Wir gehen als Gläubige nach Deutschland. – Und dafür hat er besonders in Europa lebende Türkischstämmige benutzt. Es gibt auch einen besonderen Satz von ihm: "Jeder Türke, der im Ausland lebt, ist ein Botschafter der Türkei." Und so hat er auch hier Wahlwerbung machen können, dürfen. Bis letztes Jahr konnte das ja jahrelang geschehen. Und die Türen standen ja jedem Türken offen. Ganz besonders hat die AKP diese Möglichkeit genutzt. Und das tun sie immer noch. Sie hoffen.
Ich glaube, insgesamt in den sechzig Ländern macht es fünf Prozent der Wählerschaft aus, die in der Türkei einen Einfluss haben könnte. Darauf setzt er. Weil, auch beim Referendum war es ja schon sehr knapp. Und ich bin immer noch überzeugt, dass nicht mit legalen Mitteln das gelaufen ist, wenn es so knapp ist.
Dieses Mal hoffe ich, dass die Distanz größer wird und dadurch vielleicht auch das nicht beeinflusst werden kann.

Demokratie wird umgedeutet

Adler: Um eins klarzustellen: Wahlwerbung durfte Präsident Erdogan nicht mehr im vorigen Jahr machen, aber, wie, Frau Kelek, Sie ja richtig sagten, viele Jahre zuvor. Also, im vorigen Jahr nicht mehr, in diesem Jahr auch nicht mehr. Das hat ja die deutsch-türkischen Beziehungen doch sehr, sehr stark belastet, als Erdogan, wir erinnern uns an das Toben und an die Vorwürfe, die Nazivorwürfe gegen Deutschland, als die Wahlwerbung verboten worden ist.
Ich möchte gerne auf eine Geschichte zu sprechen kommen, die ein bisschen erklärungsbedürftig ist. Sie haben diesen Satz gesagt, in einer Demokratie leben, für eine Diktatur stimmen. Erklären Sie das mal? Warum machen Ihre Landsleute das?
Kelek: Sie leben nicht demokratisch. Sie leben in einer Demokratie, aber nicht demokratisch. Sie nutzen die demokratischen Mittel, weil, innerhalb ihrer Community hier in Deutschland leben sie auch in einer Diktatur.
Diktatur muss man in einem islamischen Land anders erklären. Die Familienstrukturen sind hierarchisch, patriarchalisch. Und das wird eben muslimisch, islamisch legitimiert. Das wird hier als Religionsfreiheit genutzt und gelebt. Das heißt, die Religionsfreiheit, was ja auch Recht auf Religion eigentlich bedeutet, wird auch umgedeutet im Grunde. Demokratie wird umgedeutet für meine hierarchisch, patriarchalische Lebensform, die ich mir einfordere als Recht.
Ein Regenbogen leuchtet am 16.01.2018 in Kehl (Baden-Württemberg) über dem Minarett der DITIB-Moschee.
Regenbogen über Minarett© dpa / Patrick Seeger
Gleichzeitig verpacke ich das als Recht auf meine Religion, was ja auch in Deutschland selbstverständlich ist als ein demokratisches Land, also Religionsfreiheit. Genau das hat Erdogan und auch die AKPler in der Türkei genutzt.
Er ist ja angetreten als jemand von den Ärmeren, also den Slums, wo er gesagt hat: Ich setze auf Religionsfreiheit in der Türkei. Das war ihm zu wenig von der CHP und anderen Oppositionsparteien. Wir Gläubigen sind dann stark, wenn wir auf Allah setzen. Und ich bin euer Vater. Also, erst ist er als Bruder aufgetreten. Dann wollte er Vater der Türken werden und hat Religionsfreiheit als Mittel gesetzt.
Und über die DITIB und das Diyanet…
Adler: Das muss man bitte erklären…
Kelek: Das ist die Religionsbehörde der Türkei, was eigentlich als säkular gedacht war, also für eine richtige Ausbildung der Imame zu sorgen unter säkularen Bedingen und in staatsrechtlichen Bedingungen, ist umgemünzt worden zu ganz normalem Vorbeter, der halt AKP hier vertritt. Aber auch in der Türkei sind die Imame nicht säkular. Eigentlich heißt das eine Aufsichtsbehörde, ist aber eigentlich ein längerer Arm der Partei, der auf Religion setzt.
Was für mich sehr wichtig wäre, eine Partei, die auf Religion setzt, ist sofort mit Unterdrückung der Frauen verbunden. Der Islam ist prädestiniert dafür, weil, auch wenn ich arm bin, aber ich bekomme legitimierte Macht über meine Frau. Und das macht die Männer wieder stark. Da tun sie sich wieder zusammen. Und dieses Gefühl, wir sind stark, wir Männer, wir haben wieder unsere Frauen in unserer Hand – also, eine moderne Muslimin ist die, die sich verschleiert, ihrem Mann wieder beisteht. Und gleichzeitig war das nicht das Alleinige, was er versprochen hat: Mit dem Glauben räumen wir auf.
Also, die Städte wurden aufgeräumt. Blumen wurden gepflanzt mit diesen Männern und Frauen, die halt an Allah glaubten. Also, er schenkte ihnen Blumen und wirtschaftlichen Aufschwung diesseits und Versprechen, im Himmel Paradies, wenn ihr an mich glaubt und eure Stimme gebt. Und das hat funktioniert.
Türkische Frauen demonstrieren im November 2016 gegen einen umstrittenen Gesetzentwurf in Istanbul.
Türkische Frauen demonstrieren im November 2016 gegen einen umstrittenen Gesetzentwurf in Istanbul.© imago/ZUMA Press
Adler: Frau Kelek, jetzt weiß man auch, dass in der zuvor laizistischen Türkei es ja ganz anders war, beginnend mit Atatürk, dass da eine ganz andere Bewegung Staatsdoktrin war, nämlich die strikte Trennung von Religion und Kirche und es doch auch als eine Religionsfeindlichkeit wahrgenommen wurde von eben sehr gläubigen Menschen. Schlägt das Pendel jetzt sozusagen unter Erdogan volle Wucht zurück?
Kelek: So möchte ich das eigentlich gar nicht sehen. Also, der Erdogan hat Religion als Politik eingesetzt. Und damit geht immer einher, dass die Rechte der Frauen erst einkassiert werden. Das ist in allen Religionen der Welt so. In Weltreligionen haben die Frauen keine Gleichberechtigung.
Wenn wir die bürgerlichen Parteien uns ansehen, was die CHP auch war, hat auf Gleichberechtigung gesetzt und auf Religion, aber als Spiritualität, also als Freiheit für den Einzelnen. Also, das ist schon bürgerliches Recht, ein Recht auf Religion zu haben, was ja erstmal positiv ist. Und im Moment haben wir ja genau diese Auseinandersetzung in der Türkei, dass viele dann doch gemerkt haben, wir haben zwar wirtschaftlichen Aufschwung und ich habe meine Frau jetzt besser im Griff, in Gewalt, aber jetzt geht das nicht mehr so richtig auf.
Er hat ja wirtschaftlichen Aufschwung versprochen. Das geht alles wieder kaputt. Alles, was er aufgebaut hat, was ja auf mehr auf Pump ja aufgebaut war, zum Beispiel auch auf Bauwesen, Straßenwesen, das ist ja keine Industrie, wo produziert wird, also in produzierende Wirtschaft investiert wurde, sondern eher auf Bauwesen, was ja den Menschen, besonders der ärmeren Slum-Bevölkerung in den Städten ja sehr zugute kam und was die Opposition zum Beispiel vernachlässigt hatte, das hat er alles in Griff genommen. Jetzt ist aber Stagnation.
Auch die Lira steht heute 1:6. Das ist eine Katastrophe.

Die PKK setzt auf die kudische Diktatur

Adler: Frau Kelek, es gibt einen anderen Konflikt, der auch in Deutschland ausgetragen wird, nämlich die verbotene PKK ist in Deutschland aktiv. Und das, was man jetzt hier sieht, ist Erdogan auf der einen Seite, der eine große Anhängerschar hat, aber eben auch noch die PKK, auch dieses Mittel immer von Erdogan, Druck auf Deutschland, auf die Bundesregierung auszuüben, da doch gegen die PKK stärker vorzugehen.
Wie erklären Sie sich das als Soziologin, dass solche Konflikte aus der Heimat hier in Deutschland, wo man ein ganz anderes Leben führt, wo man damit doch eigentlich bestenfalls beobachtenderweise zu tun hat, dass die hier ausgetragen werden?
Kelek: Auch das ist ein Punkt, wo eine bestimmte ethnische Gruppe die Demokratie für sich selbst nutzt, um auch eine Diktatur aufzubauen. Weil, die PKK setzt auf Diktatur, auf kurdische Diktatur. Die PKK ist gnadenlos gegenüber der eigenen Bevölkerung, gegen die eigene kurdische Bevölkerung. Ich habe in Deutschland studiert und als Studentin erlebt, welche Brutalität an den Universitäten gegen die Nicht-PKK-Anhänger war, sogar bis zu Mord begangen wurde, und ich mich von allen diesen Vereinen, Parteien, auch den kommunistischen Parteien, die ja auch hier alle tobten an der Universität, habe ich mich damals zurückgezogen, weil ich keine Demokratie oder Mitspracherechte überhaupt in diesen Vereinen gespürt oder gemerkt habe. Es war immer diktatorisch von oben runter diktiert.
 Kurden tanzen am 31.07.2016 am Hauptbahnhof in Köln (Nordrhein-Westfalen) mit einer Öcalan Fahne.
Immer wieder tauchen bei Kurden-Demonstrationen Sympathiebekundungen der PKK auf © dpa/picture-alliance/Guido Kirchner
Dass die PKK hier so selbstverständlich immer noch demonstrieren darf, immer noch aktiv sein darf und dass die säkularen Kurden so wenig dagegen tun, außer es gibt auch zum Beispiel Ali Ertan Toprak, der auch dagegen spricht. Es gibt einige, die öffentlich sich dagegen bekennen. Aber wir haben in den linken Parteien zum Beispiel Mitglieder, die immer so alles so untern Teppich kehren und so tun, als hätten die Kurden ein Recht, eine PKK zu haben, weil sie ja so ein unterdrücktes Volk seien. Also, es wird dann immer wieder verklärt, was eigentlich undemokratisch ist.
Ich finde, dass in Deutschland diese Art von Auseinandersetzung, was eigentlich in die Länder gehört, nicht stattfinden sollte.

Hoffnung vor dem Wahltag

Adler: Mit der morgigen Wahl könnte sich die Türkei weiter und schneller in Richtung Diktatur bewegen. Hat das auch eventuell damit zu tun, dass die Demokratien in den USA, Stichwort Präsident Trump, aber auch in Deutschland, Stichwort Unionskrise, in Europa auch nochmal Unionskrise, aber Europäische Union gemeint, dass die Attraktivität der Demokratie für die Türken einfach nicht groß genug ist?
Kelek: Ich sehe das nicht so. Also, die Wahl ist noch nicht verloren, wenn ich das so subjektiv sagen darf, weil, mein Wunsch ist es ja nicht, dass der Erdogan und seine AKP so viel Macht bekommen. Wir haben einen Oppositionellen im Moment in der Türkei, den Muharrem Ince, der eine großartige Wahl macht und anscheinend auch großen Zuspruch bekommen hat. Und wir haben auch mit Meral Aksener zwar eine aus der rechts-nationalistische Partei kommende Frau, aber sie ist auch gegen Erdogan. In der Opposition bewegt sich was. Und die tun sich zusammen.
Und es könnte sein, wenn es zur Stichwahl kommt, dass sogar gegen Erdogan gestimmt wird, auch wenn die Oppositionen untereinander sich nicht ganz einig sind. Da hätte vielleicht die Demokratie doch eine Chance. Und wenn nicht, habe ich immer noch heute ein besseres Gefühl zu den Säkularen in der Türkei und vielen Anhänger der AKP, die enttäuscht sind, heute viel mehr da sind als vor einem Jahr.
Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verfolgen fahnenschwingend eine seiner Wahlkampfreden. 
Wahlkampf der AKP zu den vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei© dpa / Oliver Weiken
Auch wenn er knapp gewinnen sollte, entspannt sich die Situation in der Türkei. Die Menschen fühlen sich nicht mehr von der AKP gejagt, verfolgt. Also, die Säkularen sind noch nie so stark gewesen wie heute.
Das höre ich von meinen Verwandten, von Freunden, auch von Parteien, die ganz klar sagen: Das muss endlich aufhören.
Adler: Und wenn wir das nochmal auf die Frage zurückführen: Also, könnte ich jetzt aus Ihrer Antwort entnehmen, die Demokratie ist doch attraktiv für die Türken?
Kelek: Die Demokratie für die Säkularen war immer attraktiv, nur die Ärmeren, die von dieser Opposition oder von der CHP, das muss man ja auch kritisch sagen, sich vernachlässigt und vergessen fühlten, besonders Ostanatolien, Zentralanatolien, die Landbevölkerung, sie sind ja vernachlässigt worden von den Städtern, eine Lücke, die ja Erdogan auch genutzt hat. Die haben im Moment nicht das Gefühl, dass sie durch Erdogan weiter gewinnen. Also, das kann auch hier anders sein.
Obwohl, wir haben in Deutschland eine andere Situation. Von der deutschen Bevölkerung, von der deutschen Gesellschaft, werden ja die gläubigen Muslime ja eher unterstützt als die Säkularen. Das ist ja das Fatale. Sie unterstützen im Grunde…, also jede Partei, die hier diese Verbände hier hofiert, hofiert im Grunde AKP. Da können wir anscheinend, wir Säkulare, uns nicht richtig ausdrücken, was das bedeutet, für die Türkei bedeutet, aber auch für uns, für unser Leben hier in Deutschland in der Demokratie, was das bedeutet. Wir können das nicht verklickern. Das ist anscheinend auch unsere Unfähigkeit, das zu tun. Ich weiß es nicht.

Stimmungswechsel

Adler: Frau Kelek, könnte es damit zusammenhängen, dass eben über DITIB zum Beispiel die gläubigen Türken organisiert sind und die Säkularen sind nicht organisiert? Sie haben keine Vertretung.
Kelek: Ja, die Fehler der Säkularen ist es, dass sie sich eben hier nicht stark gemacht haben für eine demokratische Integration in die deutsche Gesellschaft, sondern sie haben auch im Hinterstübchen gehofft, mit diesen strengen Verbänden doch gegen die Deutschen – wir sind doch hier als Ausländer, Diskriminierung, Rassismus – also, diese Kiste sind sie gefahren. Und es ändert sich jetzt.
Wir haben in der Öffentlichkeit Stimmen, die klar auch gegen die Verbände endlich auftreten. Wir haben einen Cem Özdemir, der das erste Mal richtig öffentlich von den Verbänden als "Partei" gesprochen hat und nicht mehr von Muslimvereinen. Wir haben nicht nur die DITIB. Wir haben auch die von Milli Görüş und von Süleymaniye. Wir haben ja unendlich verschiedene Formen von Moscheerichtungen. Die werden alle immer noch hofiert.
Adler: Es gibt aber in den Niederlanden durchaus eine Migrantenpartei, sag ich jetzt mal ganz allgemein. Die ist natürlich dominiert von türkischen Bürgern. Sie haben sich immer sehr stark in die deutsche Gesellschaft eingebracht und türkischstämmige Politiker, wie Cem Özedmir zum Beispiel, sind in deutschen Parteien. War das vielleicht ein Fehler? Hätte es einer Migrantenpartei bedurft? Oder – und jetzt kommen wir mal auf die Situation heute zu sprechen – wäre das eigentlich richtig, jetzt eine im Zuge der vielen kommenden Flüchtlinge, eine solche Partei hier zu schaffen?
Kelek: Auf keinen Fall! Das würde mich sehr beängstigen. Wir sind Staatsbürgerinnen und Staatsbürger dieses Landes. Und wer sich für ein Land entscheidet, ob ich hierher geflüchtet bin oder über ein Anwerbeabkommen gekommen bin, entscheidet sich für das Land und versucht, ein Teil dieses Landes zu werden, weil, das ist für die nächste Generation, für die eigene Familie doch auch so wichtig. Wir können doch nicht gespaltene Persönlichkeiten werden, dass wir von unserem Herkunftsland uns nicht lösen können und vor allen Dingen ständig beeinflusst werden. Das können ja die verschiedenen Parteien ja wieder weiter tun.
Die BIG-Partei haben wir hier. Das ist ein langer Arm der AKP. Und sie betreiben hier, als wären sie Deutsche, aber sie betreiben Werbung für AKP. Das spaltet uns. Wir können hier nicht ankommen, wenn wir von Parteien so geführt werden und beeinflusst werden.

Eskalation in der Krise

Adler: Jetzt würde ich gerne auf die Unionskrise zu sprechen kommen. Diese Wahl findet statt an einem Tag, an dem sich europäische Länder, EU-Mitgliedsländer treffen zu einem Flüchtlingsgipfel, zu Zeiten, in denen die Unionsparteien CDU-CSU tief zerstritten sind. All das hat zumindest den Auslöser der Flüchtlingspolitik.
Was macht das eigentlich mit den Türkischstämmigen hier, wenn man sieht, dass dieses Problem derartig eskaliert, dass es sogar eine Regierung zerlegen konnte?
Kelek: Ich gehe sogar soweit, dass gerade die Verbände oder türkische Nationalisten gerade die bürgerlichen Parteien, die deutschen Parteien doch für sich selbst nutzen und diese Krise auch herbeigerufen haben. Wenn sie nämlich ein Echo da rein rufen und die Parteien kommen immer nur mit Verständnis, also, immer verstehen, erklären, mitfühlen, haben sie gegenüber der anderen Bevölkerung hier, die das ja auch beobachten, auch die deutsche Bevölkerung, immer das Gefühl gegeben, diese Parteien sind ja für die Migranten, aber nicht mehr für uns. Das spiegelt sich doch jetzt wider.
Horst Seehofer, CSU-Vorsitzender und Bundesminister für Inneres, Heimat und Bau, läuft auf seinem Weg zu einer Pressekonferenz, die in Anschluss an die Sitzung des CSU-Vorstands stattfindet, an einem Fernseher vorbei, auf dem die Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) übertragen wird.
Seehofer und Merkel im Dauerclinch über die Migrationspolitik © dpa-Bildfunk / Peter Kneffel
Eine Angela Merkel, eine CDU sagt immer noch: Ich bin für die Flüchtlinge. Ich bin für Minderheitenschutz. Und wo ist die mehrheitliche Bevölkerung? Wer schützt sie? Jetzt tritt eine Partei wie CSU auf und sagt: Jetzt ist damit Schluss. Wir müssen auch an unsere eigene Bevölkerung denken, die total überreizt und überfordert ist mit dieser Entscheidung einer CDU. Und natürlich, auch die SPD und die Grünen, die wollen ja immer nur das Gute für die ganze Welt, aber die Bevölkerung fragt sich: Und wer wünscht sich was für uns?
Also, an so Banalem wird das formuliert und eskaliert jetzt zu einer Krise.
Adler Ist das richtig, dass es jetzt endlich zu dieser Krise kommt, dass dieser Streit endlich ausgetragen wird?
Kelek: Ich finde, dass gerade die Partei, die CDU mit Angela Merkel, die diese Flüchtlingspolitik so forciert hat, endlich reflektieren muss und auch der Bevölkerung erklären muss, warum sie sich so entschieden hat. Und das tut sie nicht. Und das irritiert sehr, sehr viele Menschen – mich als Türkischstämmige genauso.
Adler: Was erwarten Sie von ihr?
Kelek: Ich erwarte, dass sie auch an ihre eigene Bevölkerung denkt. Aber diese eigene Bevölkerung gibt es nicht. Das soll ja aufgelöst werden mit dieser Parole der offenen Gesellschaft. Ich glaube, dass diese Menschen, die in diesen Parteien, bürgerlichen Parteien sind, träumen von einer offenen Gesellschaft, bunt ohne Ende, Afrika, Orient, Indien kommt ja nicht, aber Hauptsache, wir sind bunt. Und da fühlt sich doch…, weil es diese eigene Bevölkerung nicht mehr geben soll. Es sollen ja keine nationalen, kulturellen Gesellschaften mehr geben. Es soll alles gemischt werden, auf der ganzen Welt soll sich ja alles mischen.

Suche nach deutscher Identität

Adler: Frau Kelek, darf ich da einhaken? Sie klingen für mich jetzt so, als gehörten Sie zu denen, die sagen: Die Regierung vergisst uns über ihrer Flüchtlingspolitik.
Kelek: Ich glaube, die Regierung vergisst, was das bedeutet, auch eine Nation zu sein, ohne überheblich zu sein. Also, wo ist die Identität? Wo können die, die geflüchtet sind jetzt nach Deutschland, sich zum Beispiel integrieren? Wo finden sie die deutsche Identität? Wenn das alles verleugnet wird, wenn das alles ganz klammheimlich gesagt wird, ja: Wir hatten auch mal Lieder. Also, was alles so in der Bevölkerung so passiert. Ich bin ja so auf vielen Veranstaltungen, wo ich das auch immer höre. Also, wenn ich keine gesunde Identität habe mit der langen, langen Vergangenheit, die auch sehr positiv war, wo ist Goethe, wo ist Kant, wo ist Schiller…
Warum wird das nicht vermittelt an die neu Angekommenen mit einer nicht Überheblichkeit, aber mit einer Selbstverständlichkeit, dass diese Gesellschaft ja auch von dieser Idee, Philosophie und Dichtertum ja auch getragen wird. Das wird alles nicht hervor gekehrt, Bescheidenheit ist auch gut. Aber das irritiert die Flüchtlinge, die Migranten, die dann ihre eigenen Süppchen kochen.
Ich möchte aber hier ausdrücklich sagen, dass ich mich von der AfD distanziere, die genau diese Irritierungen in den deutschen Menschen, jetzt so emotional ausschlachtet und ausnutzt und dann mit Parolen nach vorne geht. Also, das macht mir genauso viel Angst.
Adler: Ein ganz wichtiger Punkt in diesem Unionsstreit ist das tiefe Missverständnis darüber, ob Deutschland die Grenzen zumacht und ob Deutschland einen Alleingang wagt. Die Kanzlerin will das nicht. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder möchte das. Er hat das Ende des Multilateralismus in Europa erklärt.
Was für ein Europa kriegen wir, wenn Deutschland tatsächlich diesen Weg gehen würde, wenn sich die CSU in diesem Streit durchsetzen würde?
Kelek: Ich glaube, weder die CDU noch die Mehrheit der Bevölkerung möchten sich abschotten. Asyl ist ein Menschenrecht. Asylrecht zu gewähren, ist ein Menschenrecht. Jeder ist davon überzeugt. Ich kenne niemanden, der sagt, Asyl darf nicht sein.
Aber wenn Asylmissbrauch auf der Tagesordnung steht, und die Menschen lesen das ja auch in den Zeitungen, und darüber darf dann aber nicht gesprochen werden, der ist ja trotzdem arm, der Mensch, der gekommen ist. Und wir sehen ja, dass viele ja auch die Demokratie ausnutzen oder gar kein Interesse an einer offenen Gesellschaft haben oder dass sie das wertschätzen, dass sie aufgenommen worden sind, dass sie sofort, wenn sie hier sind, aber auch hier über diese Verbände, die wir haben, Anklang finden, wieder in Diktaturen zu verschwinden, also in Communities zu verschwinden, wenn das so missbraucht wird oder genutzt wird, dann kann das nicht funktionieren.

Einzelne sind überfordert

Adler: Es gibt ein Feld der Zusammenarbeit mit der Türkei – so schwer und belastet wie das Verhältnis ja im Moment gerade ist – , das ist der sogenannte Flüchtlingsdeal. Das ist die Hilfe des türkischen Präsidenten dabei, die Flüchtlinge nicht einfach nach Europa durchlaufen zu lassen.
Kann man also mit jemandem wie Erdogan doch arbeiten? Und muss oder könnte der Kanzlerin daran gelegen sein, dass er tatsächlich wiedergewählt wird bei dieser Wahl?
Kelek: Man kann mit Erdogan nicht arbeiten. Er hat doch eine ganz andere Agenda. Er möchte die Welt am liebsten islamisieren mit seiner Vorstellung von Religion, die er sich vorgenommen hat, und denkt, die Menschen sind immer noch emotional so schwach, wenn ich ihnen Allah verspreche, dann kommen sie zu mir. Aber die Europäer sind doch viel weiter. Wir leben in einer säkularen Welt. Wir glauben an Verstand und Vernunft. Und ich glaube, wir brauchen keinen Erdogan, sondern eine vernünftige Asylpolitik hier, wo die Menschen, die keinen Asylanspruch haben, müssen zurück.
Menschen, die hierhergekommen sind, besonders die jungen Männer, die hierher vorgeschickt worden sind, wir erklären das ja, versuchen das doch über die Presse immer wieder auch darüber zu berichten. Warum die Politik das nicht hören will? Weil sie eben auf diese offene Gesellschaft setzen und sagen: Jeder junge Mann ist doch auch ein Gewinn für uns, wie die Grünen zum Beispiel das immer wieder auch propagieren.
Das ist nicht in Ordnung. Wer Asyl nicht berechtigt ist und sogar darüber hinaus mit der offenen Gesellschaft nicht klar kommt, ist überfordert, absolut überfordert. Dieser junge Mann, der so viel Verantwortung trägt für die Großfamilie in seinem Heimatland, ist überfordert. Der muss sofort zu seiner Großfamilie zurück, weil er hier nicht klarkommt. Er schadet sich selbst. Er schadet uns und der Gesellschaft. Also muss er doch beschützend zurückgebracht werden.
Nein, darüber darf man wieder nicht sprechen. Es heißt, wir haben ja Integrationskurse. Wir haben doch Integrationspolitik, wo wir auch ihn retten können. Es gibt Menschen, die können wir nicht retten, weil sie ganz anders sozialisiert und weil sie damit überfordert sind.
Ich glaube, das würde schon reichen. Da bräuchten wir weder die CSU-Politik, die so jetzt nach vorne geht und sagt, wir müssen uns ganz abschotten. Wenn wir einfach das Rechtssystem, die bürgerlichen Parteien in die Hand nehmen würden und ernst nehmen würden, bräuchten wir diese Extremen nicht.
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