Türkisches Verfassungsreferendum in Deutschland

Das Abstimmungsverhalten ist keine Integrationsfrage

Der türkische Präsident Erdogan winkt seinen Anhängern in Istanbul zu.
Wille zur Macht: Der türkische Präsident Erdogan wirbt vor Anhägern für das geplante Verfassungsreferendum © AP / Yasin Bulbu l/ Presidential Press Service
Roy Karadag im Gespräch mit Nana Brink · 27.03.2017
In Deutschland lebende Türken können ab heute über die von Präsident Erdogan vorgeschlagene Verfassungsänderung abstimmen. Das Thema spaltet die deutsch-türkische Community, sagt der Politikwissenschaftler Roy Karadag. Auswirkungen auf die Integration sieht er aber nicht.
Der türkische Präsident Erdogan will mehr Macht - per Verfassungsreferendum sollen ihm seine Landsleute diesen Wunsch gewähren. Auch die in Deutschland lebenden Türken können abstimmen, und zwar ab heute. Es geht um rund 1,4 Millionen Wahlberechtigte in Deutschland.
Roy Karadag, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, spricht von einer "Ja-Nein-Freund-Feind-Entscheidung". Er warnt aber zugleich vor voreiligen Schlüssen - nicht jeder, der mit ja stimme, sei ein "ultimativer Erdogan-Bekenner", betonte Karadag im Deutschlandradio Kultur.

Menschen in der Diaspora denken oft konservativer

Wie die Deutsch-Türken abstimmen werden, darüber lässt sich nur spekulieren. Es gebe keine belastbaren Umfragen, sagte Karadag. In der Regel dächte die Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken oft eher konservativ. Das sei angesichts der Diaspora-Situation aber nichts Besonderes.
Sicher ist: Das Referendum beschäftigt die deutsch-türkische Community - und spaltet sie. Hat das Auswirkungen auf die Integration? Nein, meint Karadag: "Es ist keine Integrationsfrage, ob jemand liberal oder antiliberal eingestellt ist." Es gebe ja auch viele Deutsche, die sehr gut integriert und trotzdem antidemokratisch eingestellt seien. (ahe)

Das Interview im Wortlaut:

Nana Brink: Seit heute können die hier lebenden Türken über das Verfassungsreferendum in der Türkei abstimmen. Dort steht es ja erst am 16. April zur Abstimmung. Und seit Wochen heizt ja der türkische Präsident mit seinen zum Teil abenteuerlichen Nazivergleichen die Diskussion auch um jenes Verfassungsreferendum hier in der Türkei an. Heute, wie gesagt, können sie abstimmen, bis zum 9. April in bundesweit 13 Wahllokalen.
Roy Karadag ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen. Schönen guten Morgen!
Roy Karadag: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Dass dieses Referendum die hier lebenden Türken beschäftigt, das liegt ja eigentlich auf der Hand, auch uns, aber spaltet es sie auch?

Man muss dafür oder dagegen sein

Karadag: Das spaltet sie sicher. Dadurch, dass man wirklich nur mit Ja oder Nein stimmen kann, in so einer zentralen Entscheidung kann man nicht mehr in Nuancen argumentieren, weil man nicht mehr 60 Prozent für das Referendum sein kann oder nur 40 Prozent für Erdogan sein kann, sondern man muss wirklich hundert Prozent dafür oder dagegen sein. Das ist eben das, was spaltet, weil man eben so eine Ja-Nein- und Freund-Feind-Entscheidung hervorruft.
Brink: Die er ja auch ganz bewusst so auf die Spitze getrieben hat, also Präsident Erdogan. Wie schätzen Sie denn überhaupt die Haltung der deutsch-türkischen Community ein, oder derjenigen, die dann ja auch wählen können. Das sind ja immerhin ganz erheblich viele.

Die deutsch-türkische Community ist sehr bunt

Karadag: Eigentlich gibt es da sicherlich Nuancen. Es ist nicht jeder, der mit ja stimmt, ein ultimativer Erdogan-Bekenner oder eine Bekennerin. Da kommt vieles zusammen: Es kommen die eigenen Migrations- und Rassismuserfahrungen in Deutschland zusammen, es kommt die eigene sozioökonomische Lage in Deutschland zum Tragen. Es kommen Hoffnungen und nicht erfüllte Hoffnungen zum Tragen, und dann eben auch die eigene Politisierung. Die deutsch-türkische Community ist sehr bunt. Es gibt Einwanderer, die in den 60ern und 70ern herkamen, es gibt welche, die aus den 80ern kommen, den 90ern. Es gibt also welche, die aus wirtschaftlichen Gründen kamen, welche, die aus politischen Gründen, aus kulturellen und religiösen kamen, es gibt Leute, die aus privaten Gründen nach Deutschland kamen, einige, die zufällig hergekommen und hier geblieben sind. Und die haben natürlich alle verschiedene Politisierungen durchgemacht. Und das wird jetzt eben in diese Ja-Nein-Frage gepresst und lässt keine Nuancen mehr zu. Das ist das Tragische an dem Ganzen.
Brink: Nun gibt es ja viele Stimmen, die sagen, dass die, die abstimmen können, eigentlich auch die sind, die konservativer sind. Das ist auch ein Grund, wird immer wieder als Argument angeführt, warum die AKP und auch Präsident Erdogan ja so scharf darauf waren, hier und auch in den Niederlanden Wahlkampf zu machen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ein Spiel mit ganz viel Ungewissheit

Karadag: Das ergibt sich aus den bisherigen Abstimmungen, die hier in Deutschland auch erfolgt sind, dass hier bei einer – man muss aber einhalten, bei einer relativ geringen Beteiligung von um die 35 bis 40 Prozent, und da sind dann 60 Prozent AKP-Stimmen dabei gewesen. Man weiß nicht, ob diese jetzige Politisierung und dieser Aktivismus, den wir ja sehen in den sozialen Medien und auf den Straßen, ob der diese 60 Prozent noch hervorbringt oder ob er vielleicht dann doch mehr an Neinstimmen kreiert.
Andererseits kann es aber auch sein, dass diese Polarisierung, die Erdogan hervorruft, dass die dann eben vielleicht doch zu einer stabilen AKP-Mehrheit führen wird. Man weiß es einfach nicht, weil es keine Umfragen gibt unter Deutschtürken hier, jedenfalls keine belastbaren. Und deswegen ist es eben ein Spiel mit ganz viel Ungewissheit. Aber, ja, in der Regel sind Deutschtürken generell konservativer eingestellt als die Türken in der Türkei. In der Diaspora ist das aber auch nichts Unnormales, dass man da eher an einer kollektiven ethnonationalen Identität und ihrer Weitergabe interessiert ist, und deswegen konserviert man eben vielmehr die eigene Kultur und Identität, als das in der Türkei der Fall ist.
Brink: Was bedeutet das dann für das Leben hier der deutsch-türkischen Community? Was löst diese Diskussion um das Referendum dann aus?

Diskussion zu einem besonderen Zeitpunkt

Karadag: Diese Diskussion findet ja zu einem besonderen Zeitpunkt statt, nämlich nach diesem Putschversuch vom letzten Sommer, der ja selbst wiederum die türkische Gemeinschaft gespalten hat, und das Sprechen, das öffentliche Sprechen über den Putsch und die Hintergründe natürlich sehr stark verunmöglicht, weil damit ja sehr viel Zwang und Angstmache daherkommt. Man kann sich ja in gewissen Kreisen nicht mehr offen regierungskritisch positionieren gegenüber der AKP und gegenüber Erdogan, weil man ja Angst haben muss, dass man verpfiffen, verraten wird et cetera, und dass es mit enormen juristischen und persönlichen Konsequenzen kommt.
Deswegen ist dies Sprechen generell schon eingeschränkt in dieser Zeit, in der dieser Wahlkampf stattfindet. Und jetzt kommt eben dazu, dass man seine Position auch gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft verteidigen muss. Und es sieht dann einfach nicht gut aus, wenn man als jemand dasteht, der dort eine Einmannherrschaft legitimiert, mit der eigenen Stimme das quasi aktiv unterstützt. Das ist eine Position, die man hier einfach nicht mehr demokratisch und demokratietheoretisch verteidigen kann. Man kann sie sicherheitspolitisch verteidigen und identitätspolitisch, aber man kann sie nicht mehr demokratietheoretisch verteidigen. Das ist das Heikle.
Brink: Dafür spricht ja auch, dass gerade viele hier lebende Türken auch sagen, dieser ganze Prozess, der gefährdet eigentlich auch die Integration der hier lebenden Türken.
Karadag: Das Argument kommt oft vor. Ich finde, da sollte man trennen. Es ist keine Integrationsfrage, ob jemand liberal oder antiliberal eingestellt ist. Es gibt genügend Menschen aus anderen ethnischen Communities und genügend Deutsche aus der Mehrheitsgesellschaft, die sehr gut integriert sind und trotzdem antiliberal, antidemokratisch eingestellt sind. Ich finde, man sollte das trennen, weil das das zukünftige Leben viel stärker verunmöglicht als eine ganz normale politische Entscheidung …
Brink: Also dann denken Sie auch, dass die Diskussion dann nach dem Referendum nicht aufhören wird? Ist es erst der Anfang? Wohin wird das führen? Was ist Ihre Einschätzung? Was macht das mit uns?

Eine starke Polarisierung

Karadag: Es wird zumindest bei den Deutschtürken für eine so starke Polarisierung sorgen, dass unklar ist, ob man in den türkischen oder deutsch-türkischen Organisationen noch ähnlich gemeinsame Positionen findet und die eigenen Ziele auch verteidigt in der deutschen Zivilgesellschaft, oder ob nicht andere Organisationen hervortreten, die auch mit viel mehr Unterstützung durch die deutsche Zivilgesellschaft da sind, die die jetzigen Organisationen der Deutschtürken in Gefahr bringen. Man sieht den Streit in der deutsch-türkischen Gemeinde, Sofuoglu ist da relativ moderat und hat sich anti-Erdogan positioniert. Aber es gibt genügend andere, die ihm das übel nehmen, und dann ist die Frage, was passiert mit diesen Organisationen, wenn die so gespalten sind, und wird es dann nicht neue geben, die aktivistischer sind und die auch anerkannter sind.
Brink: Herzlichen Dank, Roy Karadag, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Uni in Bremen. Schönen Dank für diese Einschätzungen. Ab heute können die hier lebenden Türken über das Verfassungsreferendum abstimmen, noch bis zum 9. April in 13 Wahllokalen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema