Türkische Jugend unter Druck

Jobs und Freiheit verzweifelt gesucht

22:05 Minuten
Ein junger Mann fährt Rollerblades. Im Hintergrund stehen Pavillons an einer Strandpromenade.
Ein eigenständiges, modernes Leben wünschen sich viele junge Menschen in der Türkei. © picture alliance / ZUMA Press Wire / Uygar Ozel
Von Karin Senz, Figen Polat und Mehmet Uksul · 22.09.2021
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In der Türkei leben viele junge Menschen. Der Altersdurchschnitt liegt bei 30. Die meisten träumen von einem Leben im Ausland, jenseits der wirtschaftlichen Probleme ihrer Heimat, der Arbeitslosigkeit und des strengen Familienkorsetts.
Günes spült eine Teekanne nach der anderen. Sie arbeitet in der Küche eines Cafes in Diyarbakir, eine Stadt im Südosten der Türkei. Die 22-Jährige fühlt sich wohl in ihrer dunklen, kleinen Ecke zwischen Teegläsern, Kühlschrank und Waschbecken: "Ich bin gut in der Küche. Hier ist es zwar eng, aber ich dreh mich nur um mich selbst."

Jobben und englisch lernen gleichzeitig

Sie hat den Blick raus ins Café. Das ist in einem der historischen Innenhöfe von Diyarbakir, in denen auch im heißen Sommer noch ein angenehm kühles Klima herrscht. Sie hat auch mal draußen als Bedienung gearbeitet, erzählt Günes, aber das war nicht ihr Ding, so zwischen all den Leuten. Die junge Frau hatte das Gefühl, die Blicke der Gäste verfolgten sie. In ihrem kleinen Reich hängen überall Zettel.
"Manchmal ist es abends ruhig. Dann schreibe ich mir einige englische Wörter auf und klebe die Zettel hierhin. Ich sage mir, ich muss mindestens täglich vier bis fünf Wörter lernen. Und wenn es mir abends langweilig wird, schaue ich dann ab und zu auf die Zettel mit den Wörtern."
Eine junge Frau mit blondem Pferdeschwanz und T-Shirt steht in einer Küche an der Spüle und arbeitet.
Von der Küche in die Welt: Die 22-jährige Kurdin Günes aus Diyarbakir will einmal viel reisen.© Karin Senz, ARD-Studio Istanbul
Sie will nicht nur Englisch lernen, sondern ganz viele Sprachen, um um die Welt reisen zu können, erzählt Günes. Dabei leuchten ihre Augen für einen Moment. Für einen richtigen Sprachkurs fehlt ihr nach zehn Stunden Arbeit einfach die Energie - und auch das Geld.

"Das Geld, das du verdienst, gehört nicht dir"

Denn was sie im Cafe verdient, muss sie bei den Eltern abliefern. "Solange du bei Vater und Mutter lebst, gehört das Geld, das du verdienst, nicht dir. Zum Beispiel, wenn du anfängst zu arbeiten, nehmen sie dann mit deinem Job als Sicherheit einen Kredit auf und kaufen eine Wohnung.
Wir haben zum Beispiel eine neue Wohnung gekauft mit 200.000 Lira Schulden. Wie kann so etwas sein! Cagla, meine Schwester, arbeitet auch. Auch sie unterstützt die Familie. Mein Vater arbeitet nicht. Meine Mutter hat gestern gesagt: Was würden wir machen, wenn es Günes und Cagla nicht gäbe."
Günes ist Kurdin, wie die meisten in Diyarbakir. Sie sagt, die Familie steht hier über allem, die Strukturen sind viel enger als beispielsweise in der Westtürkei. Sie trägt ein türkisfarbenes Poloshirt, wie alle im Cafe, und eine schwarze enge Hose. Die langen Haare mit den blonden Strähnen hat sie zum Knoten gebunden.

Hotel Mama statt WG

Für ein paar Minuten hat sie sich an einen Tisch gesetzt. In anderen Ländern wohnen Frauen in ihrem Alter unter solchen Bedingungen schon alleine oder in einer WG. Für sie undenkbar: "Es würden Sprüche kommen wie: Was denken denn die Leute? Du setzt Deinen Ruf aufs Spiel. Was ist denn passiert, dass sie dieses Mädchen haben gehen lassen? Sie denken gar nicht darüber nach, dass wir auch Rechte haben könnten. Wenn hier zum Beispiel ein Kind mit seiner Familie Streit hat, ist immer das Kind schuld. Denn du musst tun, was Vater und Mutter sagen. Weil sie ja nur dein Bestes wollen."
Eine ältere kräftige Frau im schwarzen Tschador begutachtet die Produkte an einem Marktstand.
Markt in Diyarbakir im Südosten der Türkei: In der Region steht die Familie über allem.© Karin Senz, ARD-Studio Istanbul
Die Istanbuler Sozialforscherin Seren Korkmaz hat sich viel mit jungen Menschen in der Türkei beschäftigt. Sie sagt, der Drang, diesem familiären Korsett zu entkommen, ist bei vielen jungen Frauen und auch Männern groß: "In meinen Interviews mit jungen Menschen habe ich den Trend beobachtet, dass sie heiraten wollen. Sie denken ernsthaft darüber nach, durch eine Heirat ein selbstständiges Leben mit eigener Wohnung führen zu können."

Zu jung für eine eigene Familie

Für Günes, die junge Küchenkraft aus dem Cafe in Diyarbakir, kommt das nicht infrage. In Günes Träumen scheint ein Freund keinen Platz zu haben. Sie spricht nicht über Beziehung. Nur so viel: Für eine eigene Familie fühlt sie sich zu jung.
Die Türkei ist erst im Juli aus der internationalen Istanbul Konvention ausgestiegen. Sie sollte Frauen auch in der Türkei vor Gewalt durch Männer auch aus der eigenen Familie schützen und sie gleichstellen. Man hätte daran festhalten müssen, sagt sie vorsichtig.
Ein junger Mann in Jeans, schwarzem T-Shirt und Mundschutz steht vor einem Regal mit Gewürzen und einem Verkäufer.
Enger Familienzusammenhalt: der 24-jährige Kurde Rasit im Gewürz- und Lebensmittelladen seiner Eltern in Diyarbakir.© Karin Senz, ARD-Studio Istanbul
Ein paar Gassen weiter im Bazar-Viertel von Diyarbakir hat die Familie von Rasit ihren Gewürz- und Lebensmittelladen. Auf dem Boden stehen große Säcke mit getrockneten Aprikosen, Nüssen, Sonnenblumenkernen und Reis.
Zimt, Kreuzkümmel und der kräftig rote Pul Biber sind in großen Dosen im Regal. Daneben baumeln getrocknete Auberginen- und Paprika-Hüllen aufgefädelt an einer Schnur und fertig, um gefüllt zu werden. Es riecht herrlich.

Einmal ist er dieser Enge entkommen

Rasit bedient gerade eine Frau, die sich nicht entscheiden kann, welchen Käse sie denn nehmen soll. Sein Vater, sein Onkel und seine Geschwister, alle helfen im Laden mit.
Auch seine Familie ist kurdisch. Auch sie will alle Mitglieder in der Nähe haben, erzählt der 24-Jährige. Einmal ist er dieser Enge entkommen. Vor der Coronapandemie hat er in Antalya in einem Hotel gearbeitet.
"Da habe ich Menschen aus anderen Ländern kennengelernt und einiges über deren Lebensverhältnisse und deren Kultur erfahren. Ich bin mit ihnen rumgezogen, mit Leuten aus der Ukraine, aus Russland, aus der Schweiz oder aus Deutschland. Ich habe Freundschaften geschlossen, auch mit vielen Türken. Ich wollte ständig dazulernen. Alles war fremd und neu."
Das Hotel hat wegen des Coronalockdowns zugemacht, und er musste nach Diyarbakir zurück. Seine Pause verbringt Rasit in einer Bibliothek ganz in der Nähe, in einem kühlen Kellergewölbe. Da kann er ungestört erzählen.
Ein junger Mann mit schwarzem T-Shirt sitzt vor vollen Bücherregalen.
Die wirtschaftlichen Umstände erschweren das Leben auch für Jugendliche in der Türkei: Rasit in einer Bibliothek in Diyarbakir.© Karin Senz, ARD-Studio Istanbul
Er hat in Antalya nicht nur Freunde gefunden, sondern auch eine Liebe, eine junge Kurdin, die in der Schweiz lebt. Zwischen ihrem letzten und dem nächsten Treffen werden 18 Monate liegen, erzählt er traurig.
Er muss warten, bis sie in die Türkei kommt, für eine Reise in die Schweiz fehlt ihm das Geld. Seine Familie zahlt ihm nicht viel Lohn, sondern spart das Geld für seine Hochzeit.
"Wenn man hier bei der Familie um die Hand einer Frau anhält, dann muss man ihr Gold kaufen und ein Haus und so weiter. Man muss also sehr viel Geld investieren. Das zu verwirklichen, wird unter den gegebenen wirtschaftlichen Umständen des Landes immer schwieriger."

"Der Staat ist verantwortlich"

Die Lebenslust, die die Zeit in Antalya in ihm geweckt hat, scheint verflogen. Rasit hat tiefschwarze kurze Haare und einen gepflegten Bart. Er trägt ein schwarzes T-Shirt mit großer Markenaufschrift drauf, dazu eine ausgewaschene Jeans mit modischen Löchern drin. Er erzählt ohne große Emotionen, fast monoton.
Er fühlt sich gefangen in diesem Leben, im Laden seiner Familie: "Wer dafür verantwortlich ist? Wenn wir eine gute Wirtschaftslage hätten, eine Zukunftsperspektive. Viele kriegen hier Mindestlohn. Der Staat ist dafür verantwortlich, wenn man nicht verreisen, andere Länder, andere Kulturen kennenlernen kann."

Die Armee als Chance für Veränderung

Auch er träumt wie Günes vom Reisen und von einem guten Job als Arzt oder Soldat. Er hat sich bei der Armee beworben und wartet auf Antwort. Rasit sieht darin seine Chance, rauszukommen aus Diyarbakir und Zeit für seine Freundin zu haben.
"Da gibt es Jahresurlaub, alle sechs Monate einmal 25 Tage. 50 Tage Urlaub im Jahr. Da kann man wie ein normaler Mensch eine Auszeit nehmen."
Für ihn fühlt sich sein Leben nicht normal an, nicht im Vergleich zum Westen der Türkei, wo es beispielsweise besser bezahlte Jobs gibt, meint er.

"In der Türkei ist eine gute Ausbildung sehr wichtig"

Göktürk und Batuhan führen aus Rasits Sicht dieses moderne Leben, von dem er träumt. Beide haben studiert und sind jetzt Ingenieure beim Istanbuler Automobilzulieferer Parsan.
"In der Türkei ist eine gute Ausbildung sehr wichtig. Wenn du die nicht hast, ist es wirklich richtig schwer, einen Job zu finden. Und nicht nur das. Die Unis, an denen wir studiert haben, das sind echte Top-Unis. Und, in der Türkei haben zwar viele Englisch gelernt, aber sie sprechen es nicht sehr gut. Und so etwas kann natürlich auch ein entscheidender Faktor für die Unternehmen hier sein."
Göktürk ist 31. Er war, wie viele in der Türkei, an einer Privatuni. Sofort nach der Universität hat er Arbeit gefunden.
Allerdings verlangen viele türkische Unternehmen, dass ihre Mitarbeiter rund um die Uhr, sieben Tage die Woche zur Verfügung stehen. So war das auch in seinem ersten Job, erzählt er.

Wohnung kaufen oder Urlaub machen ist schwierig

Jetzt haben sie eine 45-Stunden-Woche und die Wochenenden in der Regel frei. Die beiden jungen Männer sitzen in einem modernen Büro. Das Gebäude ist neu. Parsan ist ein türkisches Vorzeigeunternehmen. Batuhan ist seit drei Jahren dort.
"Ich verdiene 7000 Lira. Aber wenn ich darüber nachdenke, eine Wohnung zu kaufen oder in Europa Urlaub zu machen, ist das wirklich schwer wegen des Wechselkurses."
7000 Lira, das sind aktuell nur noch rund 700 Euro im Monat. Die türkische Währung hat in den letzten Jahren massiv an Wert verloren. Die Inflation liegt aktuell bei knapp 20 Prozent.
Der 30-Jährige denkt noch nicht ans Heiraten, will sich erst auf seine Karriere konzentrieren sagt er: "Meine Familie kann mich da unterstützen. Sie sagen immer, wir richten deine Hochzeit aus und helfen dir bei einer Wohnung. Wenn ich das allein stemmen müsste, könnte ich das auch schaffen, aber auf keinem hohen Niveau, eher auf mittlerem oder sogar auf noch niedrigerem Niveau."

Hohe Ausgaben wegen des Wechselkurses

Auch Batuhan ist also noch von der Familie abhängig. Sein Kollege Göktürk arbeitet schon seit sechs Jahren bei dem Istanbuler Automobilzulieferer. Er ist verheiratet und verdient umgerechnet etwa 1000 Euro.
"In der Türkei ist das nicht so viel, wenn du mich fragst. Denn die Ausgaben sind extrem hoch wegen des Wechselkurses. Wenn du dir jetzt ein Auto oder eine Wohnung kaufen willst, ist das unmöglich. Ich hatte Glück, ich habe mein Auto vor vier Jahren gekauft und es eben erst ganz abbezahlt. Aber ich kann nicht mal dran denken, mir jetzt ein anderes zu kaufen."

70 Prozent der Jugendlichen wollen ins Ausland

70 Prozent der jungen Menschen in der Türkei wollen ins Ausland, haben die Studien von Seren Korkmaz ergeben. Viele verdienen in der Türkei nur Mindestlohn. Der liegt bei knapp 300 Euro.
Andere haben nur Gelegenheits- oder Saisonjobs im Tourismus. Und fast jeder vierte Jugendliche ist arbeitslos.
"Die jungen Menschen sind arbeitslos und schauen deswegen mit Sorgen in die Zukunft. Und sie haben nicht nur ökonomische Bedenken, sondern auch politische. Das heißt, wir haben es mit jungen Menschen mit ungewisser Zukunft zu tun, die besorgt und deshalb sehr gestresst sind."
Ein junger Mann mit Bärtchen und dunklen kurzen Haaren sitzt im T-Shirt am Fenster.
Man kann es sich nicht leisten, nicht über Politik zu reden: Doruk studiert an der Istanbuler Bosporus Universität.© Karin Senz, ARD-Studio Istanbul
Der Istanbuler Student Doruk ist politisch – und wie. Das überrascht ihn manchmal selbst, wenn er sich beispielsweise abends mit Freunden trifft.
"Ganz egal, worüber wir anfangs geredet haben, nach drei bis vier Minuten wurde es politisch, und es ging immer um unser Land. Man kann dem nicht entkommen. Und das verursacht Stress, wenn auch nur unterbewusst, weil man sich den Luxus einfach nicht leisten kann, nicht über Politik zu reden."

"Die Universitäten gehören uns"

Er studiert an der renommierten Bosporus Universität in Istanbul. Die kommt Anfang des Jahres in die Schlagzeilen wegen Protesten gegen den neuen Rektor Melih Bulu.
"Die Universitäten gehören uns. Wir wollen keinen Treuhänder. Melih Bulu ist nicht unser Rektor", skandieren die Studenten. Der türkische Präsident Erdogan persönlich hat Bulu dem Kollegium und den Studenten vor die Nase gesetzt. Die empfinden das als Angriff auf die als sehr liberal geltende Uni. Bisher wurde der Rektor immer aus den eigenen Reihen gewählt. Es gibt zig Festnahmen. Manche Studenten sitzen wochenlang im Gefängnis.
Einigen, die bei den Protesten mitmachen, hat die Regierung ihr Stipendium aberkannt. Doruks Job bei den Widerständlern an der Universität ist es, Ersatzgelder einzutreiben.
"Wir haben Gruppen von früheren Uniabsolventen, die 20, 30 Jahre älter als wir sind und Geld haben. Die helfen uns. Und mit einer der Gruppen haben wir Stipendien für diese Studenten organisieren können. Die kriegen jetzt Geld. Und wir wollen das professionalisieren, indem wir mit der Stadtverwaltung reden und Nichtregierungsorganisationen und anderen, die solchen Studenten helfen wollen."

Proteste gegen Erdogan haben Tradition

Angst, dass ihm sein Engagement Nachteile bereiten könnte, hat er nicht: "Wenn sie mir schaden, dann werden wir eine Lösung finden. Ich habe zum Beispiel einen Assistentenjob an der Uni. Klar, sie können mich kündigen. Aber ich bin mir sicher, wenn sie das machen, kriegen sie politische Probleme. Und wenn die Medien darüber berichten oder andere deshalb Ärger machen, werde ich schnell einen anderen Job finden. Es wäre also mehr ihr Problem als meines."
Doruk sieht deutlich jünger aus als 35. Die Gezi-Park-Proteste haben ihn politisiert, erzählt er, da war er auch schon dabei. Damals ging es auch gegen Erdogan, ähnlich wie jetzt an der Bosporus-Universität. Es sei nur eine Minderheit, die nicht auf ihrer Seite steht, sagt Doruk. Auch Studentinnen mit Kopftuch engagieren sich.
"Das sind die, die am verwundbarsten in unserem Widerstand sind. Denn die Regierung will zeigen, dass sie die einzig wirklich Religiösen sind. Aber wenn da welche unter uns sind, die sich religiös nennen und sagen: Das, was ihr da macht, das widerspricht dem Koran, dann greifen sie sie noch viel stärker an als uns, zumindest in den Sozialen Medien und über ihre Publikationsorgane."

Die Gezi-Park-Proteste haben alles verändert

Mitte Juli entlässt Präsident Erdogan den ungeliebten Rektor und ersetzt ihn durch seinen Stellvertreter. Die engagierten Studenten sehen sich noch nicht am Ziel.
Der Protest geht weiter. Ob sie damit jemals erfolgreich sein werden: das Kollegium der Istanbuler Bosporus Universität also wieder seinen Rektor wählen darf? Für Doruk zählt etwas anderes.
"Ich mag den zielgerichteten Unterton dieser Frage nicht. Man kann das auch bei den Gezi-Park-Protesten fragen: Waren die erfolgreich? Na ja, die Regierung hat sich nicht geändert. Aber es hat die politische Perspektive einer ganzen Generation verändert. Die Leute, die bei solchen Protesten mitmachen, die werden später Bankmanager oder bekommen andere Posten. Da werden sie dann mit diesen Erfragungen arbeiten. Und wenn man es so sieht, dann finde ich, die Widerstandsbewegung hat schon gewonnen."

Jugendliche interessieren sich nicht für etablierte Parteien

Doruk liebt die politische Diskussion. In eine Partei einzutreten, kommt für ihn aber aktuell nicht infrage. Die Sozialforscherin Seren Korkmaz sagt, die etablierten Parteien sprächen die jungen Leute einfach nicht an.
"Sie informieren und engagieren sich eher in Nichtregierungsorganisationen, bilden ihre eigenen zivilen Bewegungen. Das ist uns vor allem in den letzten zwei Jahren aufgefallen. Ansonsten sympathisieren junge Leute mit ein paar jungen Politikern wie dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Auch die neue DEVA-Partei bekommt Aufmerksamkeit, gerade im Südosten des Landes."
Nach Angaben der Istanbuler Sozialforscherin hat die Jugend des Landes das Potenzial, die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 zu entscheiden. Darum werben sie um sie, Erdogans Regierungspartei AKP beispielsweise mit einem Video mit dem Titel: "Kimsin" – "Wer bist Du?".
Das Video geht weit in die osmanische Geschichte zurück, zeigt Kriege und Märtyrer. Einen jungen AKPler aus Diyarbakir fasziniert vor allem diese Stelle – für sein Land zu sterben. Er ist gerade mal 21.
Es kommen aber auch bekannte Sportler und Wissenschaftler vor. Am Ende fügt sich ein Mosaik aus all den Persönlichkeiten zu einem Bild zusammen: das von Recep Tayyip Erdogan.
"Du bist Erdogan", sagt die Stimme und spricht dem 18-jährigen Mehmet aus der Seele: "Ich habe keine Träume, sondern ich habe Ziele. Ich will vor allem Staatspräsident der Türkei werden. Ich glaube daran, dass ich das schaffen kann. Selbstverständlich ist das schwierig, denn wir aus dem Osten haben im Gegensatz zu denen aus dem Westen meist weniger vorzuweisen. Obwohl, man sollte da keinen Vergleich ziehen. Aber es ist Realität: Der Osten des Landes ist unterentwickelter als der Westen."
Ein junger Mann mit Dreitagebart und dunklem Wuschelkopf sitzt im weißen Hemd auf einem Bürostuhl.
Der 18-jährige Mehmet ist Mitglied in der Partei von Präsident Erdogan und will Staatspräsident der Türkei werden.© Karin Senz, ARD-Studio Istanbul
Mehmet ist AKP-Mitglied in Diyarbakir, wie seine ganze Familie. Hier hat allerdings die pro-kurdische HDP eine große Anhängerschaft. Das ist nicht leicht, erzählt er.
"In dem Umfeld, in das ich hineingeboren wurde, wurde ich leider immer diskriminiert und beleidigt. Jeden Tag hat es Streit gegeben. Zum Beispiel beim Fußball im Ort – und wir Türken lieben den Straßenfußball –, da haben sie mich nie mitspielen lassen. Wenn ich wo reingekommen bin, haben sie gesagt, schau, da kommt der Erdogan-Sohn, der AKPler."
Er hat sich nicht beirren lassen, sagt er. Mehmet hat sich eine große Tolle aus seinen schwarzen Haaren frisiert, was sein kantiges Gesicht noch mehr betont. Er trägt ein helles Hemd zur schwarzen Hose und weiße Turnschuhe, sauber geputzt.

"Man muss sein Leben doch frei gestalten können"

Nurseher ist erst vor zwei Wochen in die AKP eingetreten. Die 20-Jährige hat fast immer, wenn sie erzählt, ein warmes Lächeln im Gesicht. Das ist umhüllt von einem weißen Kopftuch. In die republikanisch-sozialdemokratische CHP würde sie nicht eintreten.
Sie hat schlechte Erfahrungen gemacht, als sie sich schon als Kind fürs Kopftuch entschieden hat, erzählt sie und verbindet das mit der CHP: "Als ich damals so in die Schule gegangen bin, bin ich abgewiesen worden. Ich wurde diskriminiert. Es gab eine Zeit unter der CHP, da konnten verhüllte Frauen keine Schule oder Universität betreten. Man muss doch sein Leben frei gestalten können. Wer will, trägt Minirock, und wer nicht will, Hose oder einen langen Rock."
Auch sie ist Kurdin. Die pro-kurdische HDP ist ihr aber zu sehr auf die Ethnie ausgelegt, meint sie. Ihr Traum ist, Pilotin zu werden. Aber das lässt sich schwer mit ihrem Wunsch nach einer Familie vereinen, meint sie.
Darum plant die 20-Jährige jetzt erst einmal, Technical Engineering zu studieren und vielleicht eine Weile im Silicon Valley in den USA zu arbeiten. Danach könnten dann Kinder kommen.

"Es ist die Frau, die das Heim gründet"

Eine Elternzeit, wie in Deutschland, gibt es in der Türkei nicht, und kommt bei Mehmet auch nicht gut an. Das heißt aber nicht, dass er sich nicht für mehr Frauenrechte stark macht.
Frauen müssten viel besser vor Gewalt durch Männer geschützt werden. Strafen seien oft zu niedrig. "Eine Istanbul Konvention braucht es dafür aber nicht", sagt er. Die komme von Ländern unter dem Deckmantel der LGBTI-Szene, um den Islam zu vernichten: "Es ist die Frau, nicht der Mann, die das Heim gründet. Meine Mutter, meine ältere Schwester oder jemand anderes brauchen keine Istanbul-Konvention, um auf der Straße ungestört herumlaufen zu können. Wir müssen sie sowieso schützen. Staatspräsident Erdogan und andere Politiker betonen immer wieder die Bedeutung der Frau."

Endlich weg von der Familie

Günes, die Küchenkraft aus dem Cafe in Diyarbakir, macht nicht den Eindruck, als würde sie sich genügend geschützt fühlen. Sie hat sich wieder vom Tisch in ihr kleines Reich verzogen. Da kann sie zwar den Gastbereich sehen. Dort nimmt sie aber keiner wirklich war.
Sie hat an der Universität studiert, musste aber, weil sie eine Frist verpasst hat, gehen. Jetzt setzt sie auf eine Ausbildung bei der Polizei. Die wäre wohl nicht in Diyarbakir, so käme sie also endlich weg von der Familie. Dass sie dann vielleicht auch gegen protestierende Studenten wie Doruk vorgehen müsste, darüber hat sie sich bis jetzt keine Gedanken gemacht: "Ich würde meiner Pflicht erfüllen. Ich würde tun, was ich tun muss."
Sie schnappt sich zwei kleine Tabletts und platziert Tassen mit türkischem Kaffee, daneben eine kleine Kugel – selbstgemacht, erzählt sie stolz, aus Nüssen, Karotten, Feigen und anderen Zutaten. Die Bestellung geht raus, und Günes spült die nächsten Teekannen.
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