Türken in Deutschland

Schon wieder wählen

Eine Frau mit Kopftuch fotografiert sich selbst am 03.08.2014 vor dem Olympiastadion in Berlin, an dem eine türkische Fahne hängt. Im Olympiastadion ist ein Wahlzentrum für die türkische Präsidentenwahl in Deutschland. Erstmals können türkische Staatsange
Seit 2014 dürfen in Deutschland lebende Türken hier ihre Stimme bei türkischen Wahlen abgeben © Paul Zinken/dpa
Von Kemal Hür · 24.10.2015
Nach nur vier Monaten stehen in der Türkei am 1. November Neuwahlen an. Bereits jetzt können 1,4 Millionen in Deutschland lebende Türken in den Konsulaten ihre Stimme abgeben, allein 140.000 in Berlin. Vermutlich wird dies aber nur jeder Dritte von ihnen tun.
Im Wahllokal Nummer 4 stellen sich die Eheleute Karaduman und ihre zwei Söhne mit ihren türkischen Ausweisen vor. Ein Wahlhelfer überprüft die Personalien, ein zweiter überreicht ihnen die Wahlzettel, die dritte Wahlhelferin streicht die Namen aus dem Wahlregisterauszug. Die Karadumans sind eine alevitische Familie aus einer ostanatolischen Stadt. Die Eltern wählen traditionell die Republikanische Volkspartei, CHP, eine laizistisch-linksnationale Partei. Die beiden Söhne haben sich für die linke prokurdische Demokratische Partei der Völker, HDP, entschieden. Diese familiäre Koalition funktioniere zu Hause sehr gut, sagt der ältere Sohn, Deniz Karaduman.
"Unterschiedliche Gedanken sind ja nichts Schlechtes, eher was Positives, weil man mehrere Sachen in eine Aktion bringen kann. Das ist ja auch zu Hause so. Deswegen haben wir uns auch zu Hause entschieden, unterschiedlich zu wählen. Ich denke mir, dass Anderssein eher positiv ist, dass man unterschiedlich wählt."
Weiße Baucontainer als Wahllokale
Nach der Stimmabgabe stehen die Karadumans noch eine Weile auf dem Hof des türkischen Generalkonsulats und tauschen sich aus. Acht weiße Baucontainer sind hier als Wahllokale aufgestellt. Der Vater möchte wissen, ob alle ihre Kreuze an der richtigen Stelle gemacht haben.
Mutter Ümügül Karaduman sagt, sie habe die Partei mit den sechs Pfeilen gewählt, die CHP; denn sie sei laizistisch. Das sei für sie als Alevitin wichtig. Ihr Mann Hüseyin pflichtet ihr bei.
"Wir Aleviten konnten erst nach der Gründung der türkischen Republik etwas aufatmen. Davor wurden wir im Osmanischen Reich verfolgt. Es gab zwar auch in der modernen Türkei bis heute immer wieder Massaker und Pogrome gegen Aleviten. Aber wir sind für eine säkulare Republik und wählen deswegen die CHP."
Angst vor einer Alleinherrschaft der AKP
Die CHP wurde bei der letzten Parlamentswahl im Juni zur zweitstärksten Partei nach der islamisch-konservativen AKP, die seit 13 Jahren die Türkei allein regiert. Ihre absolute Mehrheit verhinderte die HDP, die Partei der Karaduman-Söhne, die erstmals die 10-Prozent-Hürde übersprungen hat und mit 80 Abgeordneten ins Parlament einzogen ist. Sie hätten wieder die HDP gewählt, damit die islamische AKP des autoritären Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan nicht mehr allein regieren könne, sagt Deniz Karaduman, der die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt.
"Wenn die AKP an die Macht kommt, dann soll sie bitte koalieren. Zwei verschiedene Gedanken bringen einen besseren Nenner als ein Gedanke. Wenn zwei Parteien koalieren, ist es immer besser."
... sagt er und lädt die Familie zum Essen ein:
"Komm, Papa, wir gehen eine Suppe essen."
In versiegelten Säcken werden die Wahlzettel nach Ankara gebracht
Vor den Wahlcontainern warten nur wenige Menschen. An der letzten Wahl hatten sich 32 Prozent der wahlberechtigen 140.000 Berliner beteiligt. Ähnlich hoch dürfte die Wahlbeteiligung auch diesmal ausfallen, sagt Generalkonsul Ahmet Başar Şen als Vorsitzender der Wahlkommission.
"An unseren Urnen und in unserer Kommission sind nach dem türkischen Wahlrecht drei Parteien vertreten, und zwar diejenigen Parteien, die bei den letzten allgemeinen Wahlen die meisten Stimmen bekommen haben. Aber diese ganze Organisation kann auch von allen anderen politischen Parteien durch Beobachter beobachtet und verfolgt werden."
Die Wahlzettel werden jeden Abend unter Beobachtung der Parteivertreter in einem Raum im Konsulatsgebäude deponiert, sagt Şen. Dieser Raum sei mit vier Schlössern gesichert. Jeder Parteivertreter und der Generalkonsul hätten jeweils einen der Schlüssel. So könne der Raum nur geöffnet werden, wenn alle vier Personen anwesend seien. Nach Beendigung der Stimmabgabe würden die Stimmzettel in versiegelten Säcken mit einer Sondermaschine nach Ankara geflogen und dort geöffnet und gezählt. Während dieser gesamten Prozedur seien Vertreter der Parteien stets anwesend, sagt Ahmet Başar Şen und tritt wieder auf den Hof.
"Unter Erdogan hat sich die Türkei wirtschaftlich weiterentwickelt"
Vor Container Nummer 6 kommen zwei Frauen an. Eine der beiden trägt ein buntes Kopftuch und schiebt einen Kinderwagen. Die zweite trägt die Haare offen. Sie gehen nacheinander ins Wahllokal und kommen wieder heraus. Sie haben nicht dieselbe Partei gewählt, sagen sie.
Eine hat die linksnationale CHP, die andere die islamisch-konservative AKP gewählt, erzählen sie. Die CHP-Wählerin findet, die AKP habe während ihrer 13-jährigen Regierungszeit die Meinungsfreiheit und die Bürgerrechte eingeschränkt und müsse abgewählt werden. Ihre Freundin, die ihre Haare islamisch bedeckt, verteidigt die AKP und den Staatspräsidenten Erdoğan. Unter seiner Regierung habe sich die Türkei wirtschaftlich weiterentwickelt, sagt sie. Die beiden Frauen sagen, nach dieser Neuwahl würden diese Parteien wahrscheinlich keine gemeinsame Regierung bilden. Wie es dann weitergehen werde, wissen sie nicht. Aber ihre Freundschaft bliebe davon in jedem Fall unberührt.
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