Türkei tritt aus Istanbul-Konvention aus

"Für Erdogan sind Menschenrechte Männerrechte"

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Menschen bei einer Demonstration im Istanbuler Stadtteil Kadiköy gegen die Aufkündigung der Istanbul-Konvention.
Demonstration in Istanbul gegen die Aufkündigung der Istanbul-Konvention. Staatspräsident Erdogan gehe es nicht mehr um Rückhalt in der Bevölkerung, sagt Lale Akgün. © picture alliance / dpa / Anne Pollmann
Lale Akgün im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 30.06.2021
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Die Türkei tritt trotz Protesten aus der Istanbul-Konvention aus. Der Vertrag dient der Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Jetzt seien Frauen in der Türkei noch weniger geschützt, befürchtet die SPD-Politikerin Lale Akgün.
Die Türkei tritt trotz Kritik und Warnungen anderer Staaten aus der Istanbul-Konvention aus. Der Vertrag dient der Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt und ist das einzige völkerrechtlich bindende Übereinkommen dieser Art. Insgesamt haben 45 europäische Staaten das Abkommen unterzeichnet.

Der Umbau des türkischen Staates

Die SPD-Politikerin Lale Akgün sagt, dass es dem türkischen Präsidenten Erdogan längst nicht mehr um die Zustimmung der Bevölkerung gehe, da er schon die Macht über Justiz, Polizei und Presse habe. "Es geht nicht mehr darum, konsensfähige gesellschaftliche Urteile zu fällen. Es geht darum, den Staat zu einem islamischen Staat nach dem Vorbild des Osmanischen Reiches umzubauen. Allerdings so, wie es Erdogan und einige seiner Mitstreiter als Fantasie im Kopf haben."
An der Istanbuler Konvention störe Erdogan vor allem "dass Frauen aus dieser vorgeschriebenen Rolle als Frau ausbrechen sollen, dass sie nicht unterdrückt werden sollen", sagt Akgün.
"Einige Anhänger von Erdogan haben ja dieses Gesetz als Dynamit unter die Werte des Islam und der Islamischen Familie bezeichnet. Es darf keine Abweichungen von einer strengen Norm geben, was Frauenrolle und Männerrolle angeht. Die Vorstellung, dass Frauen sich wehren könnten, ist ihm und seinen Anhängern nicht geheuer. Man muss ganz klar sagen: Menschenrechte sind für ihn Männerrechte."

Großer Druck konservativer islamischer Gruppen

Außerdem gehe es Erdogan darum, das "Feindbild des Westens" zu stärken. "Das ist wichtig, weil im Inneren seine Politik inzwischen wenig Erfolge vorzuweisen hat. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, und da müssen eben solche Luftnummern wie 'Erhalt der türkischen Werte' herhalten. Die Konsequenz wird sein, dass Frauen noch weniger geschützt sind, dass sie keinerlei Chancen mehr haben, gerade in den konservativen, kleinstädtischen und ländlichen Bevölkerungsgruppen."
Akgün fordert internationalen Protest. "Erdogan muss politisch isoliert werden, denn ich fürchte, mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention ist das Ende der Fahnenstange nicht erreicht. Der Druck der ultraorthodoxen islamischen Gruppierungen, das Land noch islamischer zu machen, steigt." Im Moment gebe es sogar Stimmen, die sich für die Streichung der Gleichberechtigung von Mann und Frau aus der türkischen Verfassung einsetzten.
(rja)
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