Türkei im Ausnahmezustand

"Man merkt, dass die Leute verunsichert sind"

Ein türkischer Soldat mit einer Landesflagge nördlich von Azaz in der türkisch-syrischen Grenzregion.
Ein türkischer Soldat mit einer Landesflagge nördlich von Azaz in der türkisch-syrischen Grenzregion. © AFP / Maan al-SHANAN
Zafer Şenocak im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 14.02.2018
Die türkische Regierung macht immer mehr Druck - allerdings sei sie nicht komplett erfolgreich damit, kritische Stimmen mundtot zu machen, sagt der Journalist Zafer Şenocak. Den Leuten in der Türkei gehe es vor allem um ihren Wohlstand. Ist der in Gefahr, dann wären auch die Tage Erdogans gezählt.
Ein Jahr ist vergangen, seit der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel in der Türkei verhaftet wurde. Wann er freigelassen wird, steht in den Sternen. "Es ist ein Skandal - ein Skandal, der sich ja mehrfach ereignet hat in der Türkei in den letzten anderthalb Jahren", sagt unser heutiger Studiogast, Zafer Şenocak, der gerade von einem längeren Türkei-Aufenthalt zurückgekehrt ist.
Yücels Inhaftierung sei ein äußeres Zeichen für eine zerrissene Türkei im Ausnahmezustand. Die Regierung produziere immer mehr Druck und Spaltung:
"ich weiß nicht, wo das noch hinführen soll".
Der Versuch der türkischen Regierung mit der Inhaftierung zahlreicher, vor allem auch türkischer Journalisten, die Presse im eigenen Land mundtot zu machen, sei "nicht sehr erfolgreich". Es gebe immer noch "sehr viel mutige Stimmen, die tatsächlich Opposition leisten und die tatsächlich auch ihre Stimme erheben".

"Extreme Mobilisierung der Türkei"

Zur Stimmung in der Türkei sagt Şenocak:
"Man merkt, dass die Menschen verunsichert sind – etwas läuft nicht richtig".
Der Syrien-Einsatz, das Verhältnis zu Russland, die Spannungen mit den Nato-Partnern, die scharfe Kritik für die Inhaftierungen von Journalisten wie Mesale Tolu oder Deniz Yücel – all das scheint zu einer "extremen Mobilisierung" der Türkei geführt zu haben, sagt der Publizist. Es herrsche das Gefühl vor, die Türkei werde von allen Seiten angegriffen.
"Und solange dieses Gefühl vorherrscht, wird Herr Erdogan an der Macht bleiben."
Die Türkei habe sich in den zurückliegenden Jahren stärker positioniert – es gehe nicht mehr darum, zu wollen, was der Westen will. Diese "alte türkische Formel" funktioniere nicht mehr.
Der Publizist Zafer Şenocak
Der Publizist Zafer Şenocak© Deutschlandradio / Torben Waleczek

Erdogan will es sich nicht mit dem Westen verscherzen

Şenocak weiter: Die Türkei sehe sich als "Prügelknabe des Westens" – das stimme so natürlich nicht. Für den Journalisten ist dies nur ein Symptom für eine um sich greifende "Selbstverunsicherung", die auch andere Staaten befalle. Und das sei etwas, das ihm Sorgen bereite.
Denn im Prinzip sei die Türkei eine freie, offene Gesellschaft.
"Die Grundstimmung in der Türkei war immer antiautoritär. Es ist ein sehr chaotisches Land – ein anarchisches Land eigentlich. Den Leuten geht es in erster Linie um Wohlstand. Es geht ihnen nicht um große Weltpolitik und Weltstrategien. Und sobald dieser Wohlstand gefährdet ist, werden auch die Tage dieser Regierung gezählt sein."
Das sei der Regierung Erdogan selbst klar – deshalb suche sie wieder die Nähe zu Deutschland, denn: "Die Türkei vereinsamt." Russland sei kein sehr verlässlicher Partner – die türkische Regierung wolle es sich deshalb mit dem Westen nicht verscherzen.
(mkn)
Die komplette Sendung mit Zafer Şenocak hören Sie hier:
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Zafer Şenocak ist Autor und Publizist. Er wurde 1961 in Ankara geboren, seit 1970 lebt er in Deutschland. Şenocak studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache. Er schreibt regelmäßig für die "tageszeitung" in Berlin und andere Publikationen. Zuletzt erschien sein Buch "In deinen Worten: Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters".

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