Tschetschenen in Europa

Ausschreitungen nähren Sorge vor Parallelgesellschaften

08:44 Minuten
Auf einem Parkplatz stehen zwei Autos wovon eines brennt, umhüllt von Rauchwolken.
Im Juni eskalierte eine Straßenschlacht in Dijon so sehr, dass Frankreichs Innenministerium Spezialeinheiten geschickt hat. © AFP / Philippe Desmazes
Von Gesine Dornblüth · 03.08.2020
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An den gewaltsamen Auseinandersetzungen in der französischen Stadt Dijon und einer Massenschlägerei im brandenburgischen Rheinsberg waren wohl überwiegend Tschetschenen beteiligt. Das ruft Vorurteile gegenüber der Gemeinschaft wach.
Ein Hochhausviertel im Norden Berlins. Die Sofas sind mit Stickdecken geschützt, ein Gebetsteppich ist aufgerollt, in den Ecken stehen Kunstblumen. Es ist warm, doch Achmed Dokudajew trägt eine Lammfellmütze, den traditionellen Kopfschmuck tschetschenischer Männer.
Seine Schwiegertochter Salina serviert Suppe, verschwindet dann schnell wieder in der Küche. Die junge Frau trägt ein Tuch im Haar und ein langes Hauskleid. Die Ärmel reichen bis über die Ellenbogen. Mit am Tisch sitzen darf sie nicht. Salina kam mit sieben Jahren nach Berlin.
Achmed Dokudajew ist Mitte siebzig. In Tschetschenien war er Lehrer und hat die Unabhängigkeitsbewegung unterstützt. Sie forderte eine Loslösung von Russland. Vor zwölf Jahren floh er vor politischer Verfolgung nach Deutschland. Zwischen 200.000 und 300.000 Tschetschenen leben Schätzungen zufolge in der EU, etwa 40.000 davon in Deutschland. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn Tschetschenen werden in den offiziellen Statistiken als russische Staatsbürger geführt.

Seit einigen Jahren ist Dokudajew gewählter Vorsitzender eines Europäischen Ältestenrates. Er kümmert sich um die Probleme der Tschetschenen im Exil, schlichtet bei Konflikten, möglichst, ohne die Polizei hinzuziehen. Dahinter steht auch der Wunsch, dass Konflikte nicht öffentlich werden, um dem Image der Gemeinschaft nicht zu schaden.

Keine Widerworte gegen den Vater

Die Ältesten genießen bei den Tschetschenen hohe Autorität. Es ist eine von vielen Regeln, die seit Jahrhunderten mündlich überliefert werden, und die Dokudajew auch im Exil erhalten möchte. Eine andere Regel lautet: "Der Vater ist bei uns alles. Mit der Mutter kann man diskutieren, die Mutter ist die Mutter. Aber wenn der Vater etwas sagt, dann darfst du in keinem Fall widersprechen. Sein Wort ist Gesetz."
Achmed Dokudajew meint, Tschetschenen sollten am besten untereinander heiraten. Es sei auch ein Problem, wenn Frauen oder Mädchen allein ausgehen oder sich modern kleiden wollen.
Zugleich bläut er seinen drei Söhnen ein, nicht gegen deutsches Recht zu verstoßen: "Ich sage ihnen jede Woche: Ich bin euer Vater, ich schwöre, wenn ihr gegen ein deutsches Gesetz verstoßt, wenn euretwegen irgendein Problem entsteht, werde ich euch das nie verzeihen. Wir wurden aufgenommen. Uns wird geholfen. Lernt! Eignet euch Wissen an! Tut Gutes! Aber verstoßt nicht gegen Gesetze!"

Konflikte werden untereinander ausgemacht

Doch mitunter widersprechen die tschetschenischen Traditionen den deutschen Gesetzen. Da ist nicht nur die Blutrache, sondern auch der Ehrbegriff, der für die gesamte Gemeinschaft gilt, nach dem Motto "Einer für alle, alle für einen." Wegen dieses Solidaritätsgefühls kam es zu den Ausschreitungen im französischen Dijon, deshalb reisten Tschetschenen kürzlich nach Rheinsberg. Sie sind es gewohnt, Konflikte untereinander auszumachen. Und Achmed Dokudajew gesteht: Wenn er jünger wäre, wäre er auch nach Dijon gefahren.
Dazu kommt, dass viele Tschetschenen der Polizei misstrauen, weil sie in ihrer Heimat Tschetschenien von Polizisten vor allem Gewalt erfahren haben, erläutert die Soziologin Marit Cremer. Sie befasst sich seit vielen Jahren mit der tschetschenischen Diaspora in Deutschland.
"Die meisten sind ja nach Deutschland gekommen als Kriegsflüchtlinge", sagt Cremer. "Das heißt, sie haben schreckliche Dinge erlebt, die beiden Tschetschenienkriege aus den 90ern und dann bis in die 2000er-Jahre. Das heißt auch, viele sind massiv traumatisiert worden. Dann haben sie oftmals nicht gelernt, Konflikte gewaltfrei zu bearbeiten."

Affinität zu Kampfsport und Waffen

Das beklagen auch die deutschen Behörden. Nach Einschätzung der Berliner Innenbehörde haben tschetschenische Gruppierungen in den letzten Jahren ihren Einfluss in der Organisierten Kriminalität "merklich ausgeweitet", und zwar dank, so wörtlich, "extremer Gewaltanwendung".
Das Bundesamt für Verfassungsschutz spricht zudem von einem hohen Gefährdungspotenzial durch Islamisten aus dem Nordkaukasus. Die Behörde teilte Deutschlandfunk Kultur mit, eine vergleichsweise hohe Anzahl der Nordkaukasier verfüge über Kampferfahrung und falle durch eine Affinität zu Kampfsport und Waffen auf.
Marit Cremer bestätigt das, warnt aber davor, von wenigen auf die gesamte tschetschenische Gemeinschaft zu schließen. "Es gibt auch viele Kleinkriminelle, wie in anderen Bevölkerungsgruppen auch, und es gibt die vielen unauffälligen Tschetschenen und Tschetscheninnen, die gar nicht wahrgenommen werden."
Marit Cremer beobachtet, dass viele junge Tschetschenen in Deutschland bereits jetzt die Traditionen ihrer Vorfahren hinterfragen oder sogar ablehnen. "Warum Mädchen nicht Fahrrad fahren sollen, erschließt sich ihnen nicht, oder viele andere Sachen. Überhaupt die Rolle der Frau erschließt sich ihnen nicht und sie akzeptieren sie auch nicht. Die sagen: 'Ja, wozu ist denn das da?' Und die geben sich eben nicht mehr mit der Antwort zufrieden 'Das war schon immer so bei uns, und 'Wir machen das so, weil wir Tschetschenen sind.' Das wird nicht mehr so akzeptiert und auch nicht mehr so gelebt."

Hilfe bei der Integration

Einer von denen, die einen Mittelweg suchen, ist Zelimkhan Dokudajew, der älteste Sohn von Achmed Dokudajew. Er ist Ende 20, arbeitet in einer Baufirma und kommt oft zu Besuch. Wie sein Vater engagiert er sich im Ältestenrat.
Er setzt sich nicht, solange sein Vater es ihm nicht bedeutet. Es sei "nicht üblich", erläutert er später. So steht er zurückhaltend mit leicht gesenktem Blick in der Ecke. Erst als der Vater ihm ein Zeichen gibt, erzählt er von sich. Er wäre gern Zahnarzt geworden, konnte wegen des Krieges aber nicht mal die Schule beenden.
Vor Kurzem hat er einen Verein gegründet, das "Deutsch-Nordkaukasische Sozial-Kulturzentrum Berlin-Brandenburg".
"Unser Verein natürlich, unser Ziel, unser Interesse: den tschetschenischen Ruf verbessern."
Bisher gibt es vor allem Tschetschenisch- und Tanzunterricht. 80 Prozent der tschetschenischen Kinder könnten ihre Muttersprache nicht, sagt Zelimkhan Dokudajew. Es sei aber wichtig, die eigene Kultur und die Traditionen zu kennen, um sich in Deutschland zu integrieren.
Zugleich räumt er ein, dass sich die tschetschenische Community in den letzten Jahren zu sehr abgeschottet habe. Deshalb sucht er den Kontakt zu deutschen Behörden, auch zur Polizei, will Hilfe bei der Integration. "Allein schaffen wir das nicht. Die Probleme zum Beispiel: Es gibt Jugendprobleme. Die jungen Leute haben keinen vernünftigen Ort, einen Verein oder einen Club oder einen Platz, wo man sich treffen kann, wo sie Karten spielen oder Billard spielen oder zusammen Tee trinken können. Immer sind sie auf der Straße. Und in der Straße passieren immer schlechte Sachen. Wir wollen die jungen Leute langsam reinnehmen."
Marit Cremer plädiert dafür, Tschetschenen besser über die demokratischen Institutionen in Deutschland aufzuklären. "Über die unabhängige Justiz, wie funktioniert Politik, und über Aufklärung auch Vertrauen schaffen. Das ist, glaube ich, der wesentliche Schritt, den man tun muss. Es geht nicht darum zu sagen, ihr müsst eure Traditionen vergessen. Aber es gibt keine Tradition, die Menschenrechtsverletzungen legitimieren können. Das ist absolut inakzeptabel, dass man Traditionen vorschiebt, um zum Beispiel die Rechte von Frauen einzuschränken, und das müssen eben alle, die in dieser Gesellschaft leben, auch akzeptieren."
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