Tschechien

Suchen ohne Google

Tschechische Portale haben bei den Nutzern dort die Oberhand.
Tschechische Portale haben bei den Nutzern dort die Oberhand. © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Von Kilian Kirchgessner · 12.11.2014
Großkonzerne wie Google und Amazon sind Marktführer in der digitalen Welt - aber nicht in Tschechien. Dort vertrauen die Menschen eigenen Diensten wie der Suchmaschine Seznam. Warum? Einer der Gründe liegt in der Geschichte.
Eine trubelige Kreuzung in Prag. hier, ein paar 100 Meter entfernt vom touristischen Zentrum, pulsiert das Leben der Einheimischen. Keine der Barockfassaden stehen hier, für die Prag berühmt ist, sondern Glas- und Stahlgebäude, Büros und Einkaufszentren, Kinos und Kneipen reihen sich hier aneinander. Mittendrin im Trubel hat die Firma Seznam ihren Sitz, die ihre Suchmaschine speziell für den tschechischen Markt anbietet. Seznam-Chef Pavel Zima stellt voller Genugtuung fest, dass er mit seinen Leuten den Suchmaschinen-Gigant Google aus dem Feld schlägt:
"Nur in vier Ländern auf der Welt ist Google nicht Marktführer: In Russland, Japan und China - und eben in Tschechien. Wir sind davon das einzige Land mit lateinischen Buchstaben. Wir geben uns viel Mühe, unser Produkt so tschechisch wie möglich zu machen."
Pavel Zima ist selbst Ingenieur, ein stiller Mann; bei öffentlichen Auftritten wirkt er kontrolliert, fast schüchtern. Von den Star-Allüren der Computer-Pioniere aus dem Silicon Valley ist er weit entfernt – wenn er frei hat, liegt er unter den Oldtimern, die in der Firmengarage stehen, und schraubt an den Motorblöcken herum. Das ist die einzige Extravaganz, die er sich leistet.
Es ist ein Hochsicherheitstrakt, den der Suchmaschinen-Betreiber Seznam in Prag errichtet hat – ein Neubau mit viel Glas und strengen Eingangskontrollen. Jakub Sumavsky, der bei Seznam für das Marketing zuständig ist, führt durch eine Türe hinaus auf eine Dachterrasse. Er bleibt kurz stehen; Kickertisch und Liegebänke gibt es hier für die Mitarbeiter, dahinter geht der Ausblick über die Dächer von Prag.
"Das Viertel Andel, in dem wir jetzt sind, war früher das Prager Industriezentrum. Da vorne, wo Sie jetzt das Einkaufszentrum sehen, war früher eine Waggonfabrik. Na ja, man könnte sagen: Heute ist hier unser tschechisches Silicon Valley. Da vorne ist ein Start-up-Zentrum, dort ist die Prager Zentrale von Google, ein paar Häuser weiter ist Skype und dort hinten ein Zentrum für Kreative in der Digitalbranche. Und da direkt nebenan ist Mafra, einer unserer großen Konkurrenten auf dem Feld der digitalen Inhalte."
Harter Konkurrenzkampf in der High-Tech-Idylle
Was von der Dachterrasse aus nach High-Tech-Idylle aussieht, ist in Wirklichkeit ein harter Konkurrenzkampf. Google veröffentlicht zwar keine Zahlen, aber Branchenkenner gehen davon aus, dass der Abstand zwischen den Suchmaschinen immer kleiner wird – vor allem deshalb, weil auf vielen Smartphones und Tablet-Computern Google schon voreingestellt ist. Eine Etage tiefer runzelt Pavel Zima in seinem Büro die Stirn, wenn er darauf angesprochen wird.
"Wenn Sie den Blickwinkel von Google einnehmen – für die ist der tschechische Markt ganz unbedeutend, eigentlich. Aber dann sehen Sie, dass Google mehr seiner Dienste ins Tschechische übersetzt hat als ins Polnische oder in die skandinavischen Sprachen. Sie sehen, dass die Suche im polnischen oder auch im türkischen Google viel schlechter funktioniert als im tschechischen Google. Tschechien ist außerdem der zweite Markt auf der ganzen Welt, in dem Google Fernsehreklame geschaltet hat. Diesen Aufwand betreiben die nur, weil ihnen hier die Fahne auf der Landkarte fehlt. Für die tschechischen Nutzer ist die Rivalität zwischen Google und uns das beste, was ihnen passieren kann. Für uns ist es ungemein teuer, aber für die Nutzer ist es super."
Dass der amerikanische Gigant einen immensen Aufwand betreibt, um den kleinen tschechischen Markt zu erobern, ist auf den ersten Blick erkennbar. Firmen-Chef Pavel Zima hat es zum letzten Mal gespürt, als er beim Wandern im Ausland auf seinem Smartphone den Weg suchte:
"Ich war zum Urlaub in Österreich, da gibt es kein Street View und auch die Satellitenbilder sind so schlecht, dass man nichts darauf erkennt. So etwas dient nicht einmal zur Orientierung, das taugt einfach nichts."

Eingang zum Büro des Suchmaschinenportals Seznam.
Eingang zum Büro des Suchmaschinenportals Seznam.© Deutschlandradio / Kilian Kirchgessner
In Tschechien dagegen ist Street View besser ausgestattet als quasi überall sonst in Europa. Street View – in diesem Programm lassen sich Straßenzüge im Internet durchwandern; der Nutzer sieht dabei die Umgebung so, als ginge er gerade tatsächlich durch die Straße. Für diesen Dienst fahren Kameraautos durch die Städte und fotografieren die Straßen Meter für Meter. In Deutschland funktioniert dieser Dienst nur in den größeren Städten. In Tschechien allerdings hat Google das ganze Land flächendeckend fotografiert, selbst die letzte Landstraße in der abgelegensten Region können die Nutzer vom heimischen Rechner aus entlangwandern. Pavel Zima hält mit seiner Firma Seznam dagegen – er hat sich auf die Leidenschaft der Tschechen fürs Wandern und Radfahren besonnen und richtet seinen Kartendienst darauf aus. Am Konferenztisch zieht er sein Handy aus der Tasche und zeigt auf den Bildschirm.
"Schauen Sie hier, das ist unser eigener Kartendienst, die App von mapy.cz. Der erste Vorteil: Wenn man ihn vom Handy aus nutzt wie ich, kann man die gesamten Daten herunterladen und muss nicht online sein, um ihn zu nutzen. Schauen Sie hier, die rote Markierung, das ist ein Wanderweg. Wenn Sie jetzt so näher herangehen, sehen Sie alle Details: Das hier sind die Höhenlinien wie auf einer Wanderkarte, da sind die Sehenswürdigkeiten und die Ausflugslokale eingetragen – alles das, was eben auf einer Wanderkarte so sein soll. Das ist der detaillierteste und aktuellste Kartensatz, der in Tschechien erhältlich ist. Wir haben eigens eine kartografische Firma gekauft, damit wir an die Daten drankommen. Das ist genau der Unterschied zwischen uns und Google: Wollen Sie auf den globalen Maßstab setzen – oder sich auf diesen einen konkreten Markt spezialisieren?"
Den Blick auf das Lokale hat Seznam perfektioniert: Während der globale Konkurrent Google seine Dienste irgendwo im Silicon Valley entwickelt, eröffnet Seznam quer durch Tschechien kleine Niederlassungen. Nicht nur in Prag will der Internetkonzern sitzen, sondern im ganzen Land – nah an den Kunden. Fast die Hälfte der 1.000 Mitarbeiter sitzt in den Filialen vor Ort. Auch kleine Firmen können so plötzlich im Internet Werbung schalten, sie können sich ins Seznam-eigene Online-Branchenbuch eintragen und werden bei alledem so eng betreut, als inserierten sie in der Lokalzeitung und nicht im Internet.
Seznam will nah an den Kunden sein
Dieses bewusste Klein-Klein lohnt sich für Seznam: Umgerechnet 34 Millionen Euro betrug zuletzt der Jahresgewinn – ein winziger Betrag, wenn man ihn mit den globalen Dimensionen von Google vergleicht, aber eben doch genug, um eine hochprofitable Firma zu sein und die besten Leute der Branche anzulocken. Inzwischen stößt Seznam in immer neue Bereiche vor: Ein eigenes Videoportal gibt es, ein Portal mit Boulevardnachrichten – und eine der wichtigsten tschechischen Online-Zeitungen. Dafür hat Pavel Zima eigens einen traditionsreichen Verlag gekauft – ganz anders als Google: Der Weltmarktführer hat keine eigene Zeitung, sondern zeigt nur die Nachrichten von fremden Websites an.
"Klar wäre es einfacher, Nachrichten einfach von anderen Seiten zu aggregieren, aber wenn das weltweit alle so machen, würde keiner die Nachrichten schreiben. Ich glaube, dass unser Modell mit dem eigenen Inhalt das richtige ist. Die Nutzer wollen Zugang zu Nachrichten –auf welchem Weg, das ist ihnen egal. Wir verschaffen uns also Nachrichtenkompetenz und suchen einfach nur nach Kanälen, auf denen wir sie zu den Leuten bringen und wie wir das Geld generieren können, um sie zu bezahlen."
Hinter Seznams Erfolgsgeschichte steckt neben dem ausgeklügelten lokalen Konzept der frühe Startzeitpunkt: Fast zeitgleich mit Google wurde die Firma 1996 in Prag gegründet; am Anfang ein Hobby von ein paar Studenten. Schnell war die Such-Seite aber im ganzen Land bekannt – und darin wurzele auch noch der heutige Erfolg, meint Jan Simkanic. Der Internet-Experte leitet in Prag einen renommierten Branchendienst:
"Der Inbegriff des tschechischen Internets war eigentlich immer Seznam. Es ist ein Synonym, Internet gleich Seznam. Bei vielen Nutzern funktioniert das immer noch, dieses Image hält sich einfach."
Trotzdem: Dass nicht einmal die frontale Angriffsstrategie des milliardenschweren Google-Konzerns die Position von Seznam bisher ins Wackeln bringt, das überrascht auch Branchenkenner Jan Simkanic.
"Es findet sich im ganzen Land niemand, der früher gesagt hätte, dass Seznam im Jahr 2014 in der Position ist, die es tatsächlich hat. Die Jungs machen ihre Arbeit wirklich bewundernswert. Sie haben sich vor vier, fünf Jahren auf Innovationen gestürzt, haben neue Dienste eingeführt und neue Benutzeroberflächen entwickelt. Es scheint paradox, aber Seznam ist der größte Koloss im tschechischen Internet und zugleich das beweglichste Unternehmen der Branche. Sie sind so innovativ und liefern so hohe Qualität, dass sie darum selbst deutlich kleinere Firmen nur beneiden können."
Seznam ist aber nicht der einzige tschechische Internetkonzern, der sich erfolgreich gegen die Weltmarktführer aus den USA behauptet: Auch Mall, ein tschechischer Online-Versandhändler ist im ganzen Land allgegenwärtig – nicht nur in Fernsehspots. Die Zentrale liegt vor den Toren Prags. Petr Hach steht mittendrin im Gewimmel. Er ist Logistik-Experte. Gabelstapler fahren um ihn herum, auf Förderbändern rollen dutzende Pappkartons durch die Halle.
Nix mit Amazon: In Tschechien setzen die User auf den Anbieter Mall.
Nix mit Amazon: In Tschechien setzen die User auf den Anbieter Mall.© Deutschlandradio - Kilian Kirchgessner
"Das hier ist unsere kleine Warenannahme. Hier kommen die kleinen Artikel an, Speicherkarten, Fotoapparate, solche Dinge. Da oben, sehen Sie die Regale? Da kommen die Produkte hin, da vorne ist dann der Teil, wo wir bei größeren Mengen ganze Paletten lagern."
Die Dimensionen der Halle sind gewaltig: Rund 20.000 Quadratmeter Lagerfläche bietet sie, das sind etwa drei Fußballfelder. Zwölf, 14 Meter hoch ist die Decke, bis oben hin stapeln sich in mehreren Etagen die Waren.
"Wir bieten 80- bis 100.000 Produkte an, etwa 60.000 davon sind hier in diesem Lager vorrätig."
Luftmatratzen lagern hier, Thermoskannen, Poloshirts, Kosmetikartikel, Hundefutter, Kinderspielsachen, Gartenschläuche, Eishockeyschläger, Bürolampen, Waschmaschinen – wir haben fast alles, meint Petr Hach und zuckt mit den Schultern. Ganz so, als sei es nichts Besonderes.
Amazon auf Tschechisch
Die Lagerhallen gehören Mall – dem größten tschechischen Online-Händler, der inzwischen kräftig expandiert, nach Ungarn, Polen, Slowenien und in die Slowakei. Das Geschäftsmodell ist überall das gleiche: Im Internet können die Kunden alles bestellen, was sie gerade so brauchen. Es ist das Modell, mit dem der amerikanische Versandhändler Amazon weltberühmt geworden ist - nur Mall hat es auf die Verhältnisse und speziellen Bedürfnisse in Mitteleuropa angepasst. Der Mann hinter der Idee, dem amerikanischen Giganten ein kleines, lokales Pendant entgegenzustellen, heißt Marek Liska. Um die 40 Jahre alt ist er, ein smarter junger Mann in Hemd und legerem Pullover.
"Als wir angefangen haben, wussten wir nichts vom ausländischen Markt. Wir haben uns gesagt, hier in Tschechien fehlt etwas im Segment der Online-Händler, und diese Lücke wollten wir schließen. Wir sind da mit Enthusiasmus reingegangen, auch mit viel Naivität – wir haben einfach alles so gemacht, wie wir dachten, dass es richtig ist. Erst nach und nach haben wir ins Ausland geschaut, vor allem natürlich auf Amazon."
Der Riese aus den USA hatte auf seinem globalen Siegeszug erst einmal andere Ziele als ausgerechnet den tschechischen Markt – lediglich zehn Millionen potenzielle Käufer gibt es dort, und Amazon wollte seine Kräfte lieber auf die großen Länder konzentrieren. Für Prag bedeutete das: Örtliche Händler konnten in aller Ruhe expandieren und ihre Geschäftsmodelle ausfeilen – so wie Marek Liska.
"Amazon plant derzeit zwei große Versandlager in Tschechien, von denen aus aber vor allem die westlichen Länder beliefert werden sollen. Wenn sie damit dann erst einmal bei uns im Land sind, erscheint es mir nur logisch, dass sie irgendwann auch den Schritt machen, ihre Produkte hier in Tschechien anzubieten. Ich erwarte das in frühestens zwei Jahren. Wir glauben, dass wir bis dahin unsere Position und unsere Bekanntheit so weit ausgebaut haben und dass die Kunden mit uns so zufrieden sind, dass sie keinen Grund haben, ihr Einkaufsverhalten im Internet zu ändern."
Im Klartext: Die einheimischen Händler sind bereits jetzt so stark, dass sie die vermeintlich übermächtige US-Konkurrenz nicht fürchten. Hinzu kommt, dass sie sich perfekt an die Gewohnheiten der tschechischen Kundschaft angepasst haben.
"In westlichen Ländern werden die meisten Online-Geschäfte mit der Kreditkarte abgewickelt. Hier in Tschechien ist es ganz anders: Immer noch laufen bei uns 90 Prozent der Geschäfte per Nachnahme. Der Kunde hat kein Problem, mit der Karte zu zahlen, aber erst wenn er die Ware sieht – und nicht schon im Internet."
Viele Tschechen haben Anfang der 90er-Jahre schlechte Erfahrungen mit Geldgeschäften per Kreditkarte gemacht. Noch immer ist das Misstrauen groß, wenn die Ware erst ein paar Tage später kommen soll. Darauf haben Mall und einige andere große Internetshops ihr Konzept abgestellt: In fast allen größeren tschechischen Städten haben sie Filialen errichtet – winzige Ladenlokale sind es meistens, in denen nichts steht außer einem Kassenautomaten.
Die Produkte bestellen die Kunden online, aus dem zentralen Versandlager werden sie an die Filiale geliefert. Dort bezahlen die Kunden am Automaten, ein Verkäufer übergibt das Paket. 40 Prozent aller Bestellungen laufen bei Mall nicht über den Paketdienst, sondern über diese Filialen – Tendenz steigend. Marek Liska:
"Das ist auch ein tschechisches Phänomen. Der Kunde will es so, er will einen Ansprechpartner haben, bei dem er die Ware gegebenenfalls auch gleich reklamieren kann; ein Geschäft von Hand zu Hand."
Vor allem die Geschwindigkeit ist für viele ein Argument: Wer bis 14 Uhr bestellt, kann seine Auswahl aus mehreren 10.000 Produkten ab 16 Uhr in der Filiale abholen – am gleichen Tag. Diese perfekte Anpassung an das lokale Publikum sei es, die den Erfolg ausmache, urteilt Branchenkenner Jan Simkanic.
"Bei uns gab es im Sozialismus das alte Schlagwort: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Vielen ist das so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie es bis heute so halten – ein gewisser Konservatismus. Davon profitieren die örtlichen Anbieter, und paradoxerweise gilt das selbst im Internet: Wenn ich weiß, dass ich bei einer tschechischen Firma bestelle, die im tschechischen Fernsehen ihre Werbung hat und ihre Filiale direkt an meiner U-Bahn-Station betreibt, dann erleichtert mir das meine Entscheidung. Wenn ich dann auch noch zufrieden bin, habe ich keinen Grund, etwas anderes zu probieren."
Wie lange die Tschechen es schaffen, ihre Marktposition gegen den Ansturm der globalen Giganten zu verteidigen, weiß niemand. Die Chancen indes stehen gut – die lokale Kompetenz, so scheint es, ist auch im Zeitalter der Globalisierung noch Gold wert.
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