Trügerische Besserung?

Im Juli hatte die Angst vor der Schweingrippe das öffentliche Leben in Argentinien lahmgelegt. Mittlerweile hat sich die Lage wieder entspannt. Auch in Brasilien interessiert sich kaum noch jemand für die Krankheit.
Die Metro in Buenos Aires. Bis vor kurzem Objekt der argentinischen Gesundheitsbehörden – schließlich drängen sich hier täglich Hunderttausende Menschen auf engstem Raum. Inzwischen sind die Durchsagen mit Hygienetipps verstummt. Die Leute haben andere Sorgen, und außerdem glauben viele, das die Gefahr der "Grippe A", wie sie hier heißt, maßlos überschätzt wurde:

"Ich verstehe das nicht. Wir haben zwar viele Tote gehabt, aber prozentual gesehen sterben doch viel mehr Leute im Straßenverkehr als an der Grippe."

Im Juli hatte die Pandemie noch das öffentliche Leben lahmgelegt, Theater, Schulen und sonstige Einrichtungen blieben geschlossen. Die Regierung rief den Gesundheitsnotstand aus – wahrscheinlich zu voreilig, meint Irma Potsuhn, Ärztin an der Deutschen Klinik in Buenos Aires:

"Die Bedeutung der Schweinegrippe wurde wahrscheinlich überschätzt ... es gab mehr Tote durch normale Grippe."

Statistisch steht Argentinien mit etwa 500 Toten an dritter Stelle im weltweiten Vergleich der H1N1 Opfer, hinter Brasilien und den USA. Niemand weiß, wie viele Menschen wirklich erkrankt sind – die Gesundheitsbehörden sprechen vage von über 100.000, aber wahrscheinlich ist die Dunkelziffer viel höher. Trotzdem ist das Thema aus dem öffentlichen – und privaten Bewusstsein praktisch verschwunden.

Sonntag in San Telmo. Im Tangoviertel der argentinischen Hauptstadt drängen sich die Menschen durch die Stände des Flohmarktes. Hier spürt man die Grippe noch – an den Besuchszahlen, sagt 'Ines, die Silberbestecke anbietet:

"Ja, es sind weniger Leute. Es gab bestimmte Touristen, die immer kamen, aber jetzt machen sie es nicht. Zum Beispiel Europäer. Aber die Amerikaner kommen, und die Brasilianer."

Im Verhältnis zum Vorjahr ist der Tourismus in Argentinien um 40 Prozent eingebrochen – Schuld daran sind die Krise und die Grippe – zu welchen Anteilen, weiß keiner. Rafael verkauft Gaucho - Utensilien:

"Ich glaube, die Leute haben einfach Angst. Aber die ist unbegründet. Ich jedenfalls kenne niemanden, der sich angesteckt hat. Und trotzdem haben alle Angst."

Ortswechsel. Sao Paulo, Brasiliens Wirtschaftsmetropole. Die drittgrößte Stadt der Welt erstickt im Straßenverkehr. Viele finden das Verkehrschaos viel belastender als die Grippe – dabei hat das Land mit über 650 Toten weltweit die meisten Opfer zu beklagen. Trotzdem hat die Regierung die "Notfallstrukturen" in den Krankenhäusern wieder aufgehoben. Für Dr. Michal Gejer, Arzt an der Klinik "Emilo Ribas" in Sao Paulo, ist das auch eine statistische Frage:

"Nur wenige sind ernstere Fälle, die tödlich sind. Alle Fälle mit Todesfolge werden in den Krankenhäusern registriert. Und bei den anderen müsste man hinterherlaufen, die Leute zuhause besuchen, den Rachen- und Nasenbereich untersuchen. Und dafür bräuchte man eine Struktur des öffentlichen Gesundheitswesens, die wir hier nicht haben, genauso wenig wie Argentinien."

Die Grippe A hat dem größten Land Lateinamerikas wieder einmal die Grenzen und Probleme seiner Gesundheitsversorgung aufgezeigt. Wie in Argentinien, waren auch hier Masken, Hygienetücher und Desinfektionsmittel im ganzen Land schnell vergriffen. Und es gab Probleme mit Medikamenten, weil die Regierung intervenierte, klagt Dr. Gejer:

"Sie haben die gesamte Produktion aufgekauft und sie in den regierungseigenen Apotheken gelagert. Und von dort aus hat man sie kostenlos über die Stellen des öffentlichen Gesundheitswesens, also Gesundheitsposten und Krankenhäuser verteilt. In den privaten Krankenhäusern bekam man sie auch kostenlos, aber wenn man sie in der Apotheke kaufen wollte, bekam man keine."

Abends in Vila Magdalena, dem Kneipenviertel von Sao Paulo. Die Bars und Restaurants sind gut gefüllt, niemand schert sich mehr um die immer noch plakatierten Grippewarnungen und Verhaltensregeln. Flavia Gubbini ist Rechtsanwalt:

"Jetzt gibt es gerade eine Propaganda der Landesregierung in der Metro, auf der den Leuten gezeigt wird wie man sich richtig die Hände wäscht. Man will den Menschen die einfachsten Hygienemaßnahmen erklären. Wenn diese Besorgnis wirklich ernst gemeint wäre, dann könnte man die meisten Todesfälle, die die einfache Grippe verursacht, auch vermeiden."

Während die Bevölkerung zur Tagesordnung übergeht, hat die Regierung bei einem französischen Laboratorium bereits 18 Millionen Impfungen bestellt. Sie sollen vor allem an Risikogruppen, an Kinder und ältere Menschen ausgegeben werden. Im Grunde wisse niemand, wie sich die Pandemie in Zukunft entwickle, ob sie gebannt ist – oder neue Wellen und neue Viren drohen. Dr. Michal Gejer:

"Es sieht so aus, als ob es vorbei ist. Die Grippe kommt in Wellen. Die erste Welle ist also vorbei. Aber wir wissen halt nicht ... Wir Epidemie-Ärzte wollen stets die Zukunft lesen, wie in einer Kristallkugel. Man sagt, dass es eine zweite Welle geben wird und eine dritte. Niemand weiß, ob sie schlimmer oder schwächer sein wird. Man muss sich vorstellen, dass sie schlimmer sein wird. Aber man kann es nicht wissen."