Trotz Plagiat: Hegemann für Buchpreis nominiert

Verena Auffermann im Gespräch mit Joachim Scholl · 11.02.2010
Trotz der Plagiatsvorwürfe ist der Roman "Axolotl Roadkill" der jungen Bestsellerautorin Helene Hegemann für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden. Das bestätigte die Juryvorsitzende Verena Auffermann. Die Entscheidung sei bereits Ende Januar gefallen. Trotz des Textklaus bilde das Buch einen Paradigmenwechsel ab, der bereits im Netz stattgefunden habe, sagte Auffermann.
Joachim Scholl: Den Preis der Leipziger Buchmesse gibt es seit 2005, mit ihm sollen aktuelle Neuerscheinungen geehrt werden, auch als Orientierung für das Publikum. Terézia Mora, Ilija Trojanow, Ingo Schulze oder Sibylle Lewitscharoff hießen die preisgekrönten belletristischen Autoren der vergangenen Jahre. Allesamt bekannte arrivierte Schriftsteller. 2008 überraschte die Entscheidung für den völlig unbekannten Clemens Meyer und sein ziemlich wüstes Buch "Die Nacht, die Lichter".

Und in diesem Jahr könnte es auch wieder wild zugehen, wenn denn zutrifft, was die Auguren raunen, nämlich, dass Helene Hegemanns Roman "Axolotl Roadkill" es auf diese Nominiertenliste schafft. Im Studio ist Verena Auffermann, uns allen bekannt als Literaturkritikerin, sie ist auch Vorsitzende der Jury für den Leipziger Buchpreis. Willkommen, Frau Auffermann!

Verena Auffermann: Ja, guten Tag!

Scholl: Sofort die Gretchenfrage: Ist Helene Hegemanns Buch auf der Liste?

Auffermann: Noch schneller können Sie nicht sprechen? Ja, sie ist auf der Liste. Das war ja schon in den Zeitungen zu lesen und da ist sie auch geblieben, auf dieser Liste.

Scholl: Vermutlich fiel diese Entscheidung, bevor bekannt wurde, dass die junge Dame munter abgeschrieben hat, oder?

Auffermann: Die fiel genau am 28. Januar.

Scholl: Wie haben Sie das denn im Kreis Ihrer Jury diskutiert?

Auffermann: Wie das in Jurys ist, kontrovers, laut, engagiert und mit dem Ergebnis, dass wir sie auf die Liste gesetzt haben.

Scholl: Als dann bekannt wurde, dass sozusagen, ja, dass da also doch mächtig geklaut wurde von der jungen Dame, hat es da keine Kontroverse gegeben, ob wir das dabei belassen oder nicht?

Auffermann: Selbstverständlich, ich habe mich mehrmals mit der Verlegerin auseinandergesetzt, mit Siv Bublitz und habe gestern noch mal eine E-Mail von ihr bekommen, indem sie mir glaubhaft, glaubhaft – ich unterstreiche das – mitgeteilt hat, dass alle fraglichen Stellen jetzt auf dem Rechtsweg sozusagen in Ordnung gehen, alle Urheberrechtsstellen, und damit war ich dann, was das Urheberrecht angeht, zufrieden.

Scholl: Und Ihre Kollegen auch?

Auffermann: Ja.

Scholl: Nun gut, Frau Auffermann, die Plagiatsvorwürfe sind längst bestätigt, Zeile für Zeile ist nachgewiesen. Und es sind eine Menge Zeilen, wenn nicht ganze Passagen. Und wir reden hier nicht auch über Zitate, was weiß ich, ein David-Foster-Wallace-Gedicht wird ja auch ägekennzeichnet und in anderen Romanen haben wir immer diese Praxis, sozusagen, ich sage, von wem es ist. Das ist sozusagen aber auch in die literarische Textur, sind Dialoge einfach übernommen worden. Dass eine 17-Jährige nun unbekümmert auf das Urheberrecht pfeift und tönt, es gäbe sowieso keine Originalität, das mag das Vorrecht der Jugend sein. Aber eine Jury wie Ihre, Frau Auffermann, darf das doch nicht gut heißen.

Auffermann: Sie sind aber sehr moralisch! Da haben Sie natürlich auch recht. Wir waren der Meinung, dass dieses gesamte Buch – wenn wir jetzt mal von diesen Urheberrechtsfragen absehen – eine Diskussion anstößt und das ist ja nun auch bereits geschehen. Und zwar eine Diskussion über das Urheberrecht in Zeiten der Zirkulation im Netz. Und das ist ja nicht von der Hand zu weisen.

Wenn Sie sich die Listen der Blogs ansehen, wenn Sie sich dieses ganze Spiel, was da sozusagen unterirdisch stattfindet, im Zimmer, also ohne Tag, die ganze Kultur der Facebooks, wenn man sich das alles vor Augen führt, dann müssen wir sagen, da hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Und dass jetzt sozusagen in dieser ganzen Unordnung, in diesem Chaos – Hegemann ist ja ein Ausdruck für etwas –, dass in diesem ganzen Chaos jetzt mal eine Zäsur gesetzt wird und dass es zur Sprache kommt, finden wir ausgezeichnet.

Scholl: Nun gut, es mag eine moralische Entscheidung sein, die Sie mir gerade so ein bisschen vorwerfen. Mit Ihnen, Verena Auffermann, sind in der Jury Jens Bisky, Adam Soboczynski, Ina Hartwig, Elmar Krekeler, Kristina Maidt-Zinke und Volker Weidermann. Ich nenne diese Namen so ausführlich, weil das alle arrivierte Kollegen sind, etablierte Journalisten und Kritiker von der "Süddeutschen Zeitung", der "Welt", der "Zeit", der "Frankfurter Allgemeinen". Kommen wir mal auf das Ästhetisch-Literarische, finden sie alle dieses Buch wirklich so gut?

Auffermann: Nein, also ich muss doch sagen, die Entscheidung ist nicht einstimmig gefallen. Da würde ich Kollegen, die strikt dagegen waren, denen würde ich in den Rücken fallen. Selbstverständlich war diese nicht einstimmig, aber mehrheitlich. So ist das eben mal bei Abstimmungen. Ich rede einmal von mir, es ist immer schwierig, jetzt von meinen sechs Kollegen zu sprechen. Das finde ich auch ein bisschen unfair.

Scholl: Ja, ich hätte Sie auch gleich gefragt.

Auffermann: Ich habe das Buch mit einem gewissen Missmut begonnen und wollte es eigentlich nach 60 Seiten aus der Hand legen, dachte, das ist einfach schrecklich, sozusagen. Dann habe ich mir aber einen Ruck gegeben und es weiter gelesen und war absolut fasziniert von diesem Nebeneinander der Sprachen, von diesem Nebeneinander der Kulturen, von diesem neuen Nachtgewächs. Und in mir tauchte die Idee auf, die mich bis zum Ende der Lektüre nicht losgelassen hat, dass wir es hier mit einem Buch zu tun haben, das sozusagen alle 10 oder 20 Jahre einmal ans Ufer gespült wird. So ein Buch wie Sagan, heute sagen wir natürlich, wie niedlich ist denn ...

Scholl: "Bonjour tristesse" ...

Auffermann: ... "Bonjour tristesse", wenn man es heute betrachtet – damals war es ein Riesenskandal. Erinnern Sie sich an Houellebecq, was war das für ein Skandal, heute lächelt man auch ein bisschen. Erinnern Sie sich an Leberts "Crazy" oder an Christian Kracht, an all diese Dinge. Das sind Romane, die treffen - ich mag das Wort nicht, aber es trifft hier - Zeitgeist, sie treffen etwas auf den Punkt.

Und wenn man dieses Buch liest, dann trifft man auf eine Unterwelt und auf eine Unterweltsprache, die sich mit geistigen Sätzen – Sie mögen mir jetzt vorwerfen, die sind alle geklaut, das glaube ich aber nicht – die sich mit theatralischen Sätzen kombinieren und daraus ein Ganzes ergeben.

Wenn Sie nur einmal in der S-Bahn fahren und Jugendlichen zuhören, dann merken Sie, dann hören Sie sofort, dass sie fast eine Theatersprache sprechen. Die sagen immer "er meinte", die sprechen immer in der wörtlichen Rede. Und mir kam es vor, als ob dieses Buch genau diesen Jargon, diesen neuen Jargon der direkten Rede, sozusagen das Sprechen zu einem Du, das Du, was vielleicht gar nicht da ist, das Du, was vielleicht nur im Fernsehen, im Internet oder irgendwo spricht, diese Sprache zu einem anderen, und all diese verschiedenen Formen fand ich hier gespiegelt.

Und natürlich liegt unter diesen Spiegelungen, unter diesen Szenen, über die Szene des Untergrunds, liegt natürlich eine tragische Geschichte wie in all diesen Büchern, von "Bonjour tristesse" angefangen. Es ist die Geschichte einer Familie, einer Tragik, das gibt es ja seit "Anton Reiser".... Und das ist sehr geschickt daruntergelegt, sozusagen als – Romanhandlung ist vielleicht zu viel gesagt – aber doch als Läufer, auf dem man sich in diesem Text bewegt.

Scholl: Begründung für die Entscheidung, Helene Hegemanns Roman "Axolotl Roadkill" auf die Nominiertenliste zum Preis der Leipziger Buchmesse zu setzen, im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist Verena Auffermann, sie ist Vorsitzende der Jury. Wir wollen jetzt natürlich der Informationspflicht nachkommen, es sind fünf Kandidaten, die eine Kandidatin haben wir nun, sie soll nicht alle Aufmerksamkeit absaugen. Welche Bücher haben Sie sonst noch ausgewählt, Frau Auffermann?

Auffermann: Ich bin Ihnen dankbar für diesen Zusatz, denn es wäre ja nun ganz schrecklich, wenn die restlichen gar nicht zur Sprache kämen. Wir haben den Erzählungsband von Lutz Seiler, "Die Zeitwaage", ein wunderbares literarisches Werk, das einen Rhythmus hat, wie ich ihn selten, selten gelesen habe, der in jeder einzelnen Erzählung sich verändert, ein großartiges Buch vom letzten Herbst.

Dann haben wir ein neues Buch von Anne Weber, "Luft und Liebe". Thema dieses Buches ist geistreich, außerordentlich witzig und sprühend durchgespielt, die Figur des Doppelten: Der Autor und seine Figur, der Geliebte und die Geliebte und der Ehemann, das geborene Kind und das ungeborene Kind – also in etlichen Variationen durchgespielt, dargestellt als ein moderner Ritterroman, leicht zu lesen, sprühend.

Dann haben wir auf der Liste ein umfangreiches Werk von Jan Faktor, "Georgs Sorgen um die Vergangenheit". Jan Faktor ist 1951 in Prag geboren und lebte seit 1978 in Ostberlin. Dieser Roman ist eine schelmenhafte Abrechnung mit dem sozialistischen Prag und zeigt uns auf schönste, humorvollste Weise den tristen und komischen Alltag seiner Jugend. Ein sehr, sehr vergnügliches, tiefes und auch natürlich trauriges Buch.

Dann haben wir von Georg Klein – ich bin jetzt etwas aus dem Alphabet gerutscht, das hat aber nichts weiter zu sagen – den "Roman unserer Kindheit". Ebenfalls ein Backstein von – glaube ich – 400 Seiten, umfasst nur ein paar Tage in einem Sommer in den 60er-Jahren, spielt in kleinen Familienverhältnissen im Ruhrgebiet und beleuchtet grell, brutal und dunkel, wie das die Art von Georg Klein ist, diese familiären Szenen von damals.

Scholl: Das sind die fünf belletristischen Kandidaten, zu ergänzen wäre noch, dass es auch Preise für die besten Übersetzungen und für die besten Sachbücher gibt. Jetzt die Frage, Frau Auffermann, wer entscheidet denn jetzt eigentlich genau, wer den Preis denn kriegt?

Auffermann: Die Jury.

Scholl: Die Jury. Und ist sie sich denn eigentlich schon klar von diesen fünf Werken? Ich meine, diese eine mediale Aufmerksamkeit ist natürlich auf dieses eine Buch so gerichtet, da sind Sie doch ganz schön unter Druck jetzt, oder?

Auffermann: Eine Jury ist immer unter Druck, sonst wäre das ja auch keine Jury und es wäre jetzt auch vielleicht langweilig. Die Endabstimmung, die findet eine Stunde vor der Bekanntgabe statt, am 18. März. Also da kann nichts nach außen dringen und bis daher können wir noch mit roten Augen dasitzen und alles noch mal lesen, uns überlegen, diskutieren, E-Mails hin und her wenden. Also wir haben noch etwas Zeit, unter diesen insgesamt ja 15 Büchern uns auf die drei Preisträger zu einigen.

Scholl: Und das geht dann mit Vier-zu-drei-Entscheidung eventuell?

Auffermann: Das kann ich Ihnen jetzt wirklich nicht, ich bin kein Hellseher.

Scholl: Für was stimmen Sie?

Auffermann: Da muss ich ja doch mal trocken schlucken, das weiß ich noch nicht.

Scholl: Ja, so sind wir, direkt, beim Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen, Verena Auffermann! Sie ist Vorsitzende der Jury zum Preis der Leipziger Buchmesse und sie hat uns jetzt exklusiv hier die Kandidaten, die belletristischen Kandidaten verraten und natürlich, ja der große Skandalroman des jungen Originalgenies – wie es in der Kritik heißt – steht auch auf der Liste.
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