Trichter, Krater und Ruinen

13.10.2010
Als erster bildender Künstler erhielt Anselm Kiefer 2008 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Seine Bilder und Installationen spiegeln die Verwerfungen der deutschen Geschichte wieder. In höchst aufschlussreichen Werkstattgesprächen äußert er sich zu seinen Arbeiten und macht deutlich, wie er sich seinen Themen nähert.
In den elf Gesprächen, die Klaus Dermutz mit Anselm Kiefer zwischen 2003 und 2009 geführt hat – dem ersten bildenden Künstler, der 2008 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt –, ist häufig von der deutschen Vergangenheit die Rede. Kiefer erzählt von Trichtern, Kratern und Ruinen, in denen er als Kind gespielt hat. Die Trümmerlandschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehört zu den prägenden Erfahrungen des am 8. März 1945 in Donaueschingen geborenen Künstlers. Asche, Steine, Sand, Blei sind Materialien, mit denen er heute arbeitet und die ihm aus seiner Kindheit vertraut sind. "Alles, was man als Kind sieht", so Kiefer, "fällt auf eine Wachstafel, wie auf etwas Ungeschriebenes. Es fällt da hinein und wirkt."

Kindheitserfahrungen spiegeln sich in Kiefers Kunst, dessen Arbeiten durch Geschichte grundiert sind. In seinen Bildern und Installationen geht er den Verwerfungen in der deutschen Geschichte nach. Seine Spurensuche versteht er als Erinnerungsarbeit, wobei seine Bilder häufig Zwiesprache mit literarischen Texten halten. Zitate von Ingeborg Bachmann, Paul Celan und Walter Benjamin finden Eingang in seine Arbeiten. Ein aus Blei, Glas und Mohn gefertigtes Düsenflugzeug nennt Kiefer in Anlehnung an Celan und Benjamin "Mohn und Gedächtnis – Der Engel der Geschichte" (1989). Kiefer ist diesen Wahlverwandten in seinem Bemühen nahe, die katastrophalen Wendepunkte in der deutschen Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Der Rückgriff auf Materialien, die von der Kunst noch nicht geadelt worden sind, versteht Kiefer als Reaktion auf eine Kunstentwicklung, in der die Unterschiede zwischen Kunst und Design verwischen. Dieser Tendenz begegnet Kiefer, indem er auf Materialien wie Frauenhaar, verblühte Sonnenblumen, Stacheldraht zurückgreift, die der Designer kaum verwerten kann. Der Künstler umkreist mit seinen Arbeiten einen Krater und läuft dabei ständig Gefahr, in diesem Krater unterzugehen. "Die Kunst geht" – so der Titel des Bandes – "knapp nicht unter". Ausgangspunkt für diese These bildete ein Naturereignis, das Kiefer in Norwegen beobachtet hat. Am Nordkap berührt die Sonne den Horizont nur, doch sie geht nicht unter. Vielmehr bewegt sie sich danach wieder nach oben. Auf dem Aquarell mit dem Titel "Nordkap" (1975) hat er diesen Eindruck festgehalten und über das Bild den Satz geschrieben: "Die Kunst geht knapp nicht unter".

In diesen höchst aufschlussreichen Werkstattgesprächen äußert sich Kiefer zu seinen Arbeiten, wobei deutlich wird, wie er sich einzelnen Themen nähert und warum er auf bestimmte Materialien zurückgreift. Wenn er ein Bild macht, dann wird dieses Bild abwechselnd von der vertikalen Position in eine horizontale gebracht. Kiefer sieht darin eine Parallele zur Ruine, bei der die "Vertikale in die Horizontale umgeklappt" ist. Die Arbeiten von Anselm Kiefer sprechen eine deutliche Sprache. Wer in jene Themenbereiche vordringen will, die in diese Arbeiten Eingang gefunden haben, der wird diese Gespräche als eine höchst aufschlussreiche Materialquelle zu schätzen wissen.

Besprochen von Michael Opitz

Anselm Kiefer: Die Kunst geht knapp nicht unter"
Anselm Kiefer im Gespräch mit Klaus Dermutz, mit Abbildungen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
267 Seiten, 24,90 Euro
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